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# taz.de -- 50 Jahre Ford Streik: Gegen die Kriminalisierung
> Vor 50 Jahren gab es bei Ford in Köln einen wilden Streik. Die sind bis
> heute verboten. Zeit, das deutsche Streikrecht zu entnazifizieren.
Bild: 1973 war ein Wendepunkt in der deutschen Arbeitskampfgeschichte: Streiken…
Happy Birthday zum 50sten! Dieser Tage feiert ein berühmter wilder Streik
einen runden Geburtstag: der beim Autohersteller Ford in Köln. Vom 24. bis
30. August 1973 streikten hier Tausende sogenannte Gastarbeiter, vor allem
aus der Türkei, „wild“, also auf eigene Faust, ohne den Segen der
Gewerkschaften, gegen Entlassungen, für bessere Bezahlung und noch einiges
mehr.
Die Geschichte ist schön und traurig zugleich, denn einerseits markiert sie
ein neues Selbstbewusstsein der damaligen migrantischen Unterschicht an den
Fließbändern westdeutscher Fabriken. Andererseits wurde der Streik auf eine
der unschönsten denkbaren Arten beendet: durch Polizei und deutsche
Arbeitswillige, die die streikenden türkeistämmigen Kollegen aus dem Werk
prügelten. Mehrere vermeintliche Rädelsführer wurden festgenommen, einige
abgeschoben. Der bekannteste Wortführer des Streiks, Baha Targün, der
damals eloquent die Probleme der türkischen Arbeiter zur Sprache brachte,
[1][ist vor drei Jahren in der Türkei verstorben].
Der Ford-Streik war nicht der einzige wilde Streik des Jahres 1973. Eine
ganze Welle von nicht gewerkschaftlich initiierten Arbeitsniederlegungen
ging damals durch westdeutsche Betriebe, manche erfolgreich, andere nicht –
die meisten getragen von den Arbeiter*innen, die in den Jahren zuvor in
Italien, Spanien, Jugoslawien, Griechenland oder der Türkei angeworben
worden waren.
In der deutschen Arbeitskampfgeschichte ist das Streikjahr 1973 ein
Wendepunkt. Es steht sowohl für die beginnende Emanzipation der ehemaligen
Gastarbeiter*innen und ihre allmähliche Integration in die
Gewerkschaften, die ihre Situation lange ignoriert hatten. In der
postnazistischen deutschen Gesellschaft sickerte die Erkenntnis ein, dass
die Arbeiter*innen, die gerufen worden waren, um das Wirtschaftswunder zu
vollbringen, nicht wieder gehen, sondern in der Bundesrepublik bleiben
würden.
1973 war aber auch das Jahr der Wirtschaftskrise, das den Nachkriegsboom
beendete. Der Arbeitskräftebedarf sank, zum Jahresende verhängte die
Bundesregierung einen Anwerbestopp für ausländische Arbeiter*innen, in den
Folgejahren begannen viele Unternehmen zu rationalisieren und
umzustrukturieren.
## Beschränktes Streikrecht aus brauner Feder
Seitdem hat sich vieles verändert in Deutschland, aber zwei Dinge nicht.
Nach wie vor gelten im deutschen Streikrecht Arbeitsniederlegungen, zu
denen keine tariffähige Gewerkschaft aufruft, als illegal, ebenso wie
politische Streiks. Die Rechtsprechung geht auf ein Urteil des ersten
Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts, Hans Carl Nipperdey, von 1963
zurück.
Nipperdey hatte während des NS unter anderem das „Gesetz zur Ordnung der
nationalen Arbeit“ ausgearbeitet, das das Führerprinzip in den Betrieben
verankerte und zuvor geltende Arbeitsrechte schleifte. Und immer noch
arbeiten in den am schlechtesten bezahlten und härtesten Jobs
überdurchschnittlich viele Menschen ohne deutschen Pass – und fast immer
ohne gewerkschaftliche Vertretung.
So kommt es, dass der „wilde Streik“, der jahrelang fast völlig von der
Bildfläche verschwunden war, plötzlich wieder da ist. Im Sommer 2021 legten
Kurierfahrer*innen des Lebensmittellieferdienstes Gorillas in Berlin
die Arbeit nieder. Mehrmals streikten die fast ausschließlich
nichtdeutschen Fahrer*innen selbstorganisiert gegen niedrige Löhne und
schlechte Arbeitsbedingungen, [2][im Oktober 2021 wurden die meisten
Streikenden gefeuert].
Inzwischen ist [3][Gorillas an den Konkurrenten Getir verkauft], der nun
ebenfalls in der Krise steckt. Auch Fernfahrer aus osteuropäischen und
zentralasiatischen Ländern, die für ein polnisches Subunternehmen im
Auftrag westeuropäischer Konzerne unterwegs sind, legten jüngst spontan die
Arbeit nieder. Ihr Streik in Gräfenhausen dieses Frühjahr machte
Schlagzeilen – auch weil er erfolgreich war –, [4][aktuell sind erneut 150
LKW-Fahrer in Gräfenhausen im wilden Streik].
## Gesunkener gewerkschaftlicher Organisationsgrad
Diese neuen Streiks illustrieren, was schon die „Gastarbeiter*innenstreiks“
von 1973 zeigten: Wenn Menschen ausbeuterische Bedingungen nicht still
erdulden wollen, müssen sie sich mit Arbeitsniederlegung wehren. Solange
Gewerkschaften nicht präsent sind oder die Probleme ignorieren, bleibt
keine Alternative, als „wild“ zu streiken.
Der gewerkschaftliche [5][Organisationsgrad ist seit den 1970er Jahren
drastisch gesunken], die Zahl befristeter, schlecht bezahlter Jobs massiv
gestiegen. Die Anlässe für „wilde Streiks“ nehmen zu. Es ist höchste Zei…
die Kriminalisierung dieser Arbeitskämpfe zu beenden und das deutsche
Streikrecht zu entnazifizieren.
Genau das versuchen [6][drei ehemalige Gorillas-Fahrer*innen, die im Zuge
der Streiks 2021 gekündigt wurden]. Sie wollen das Verbot wilder und
politischer Streiks zu Fall bringen und sind dafür vor Gericht gezogen. In
den ersten zwei Instanzen sind ihre Klagen abgewiesen worden, notfalls
wollen sie bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen.
Eine von ihnen, Duygu Kaya, kam vor wenigen Jahren aus der Türkei nach
Deutschland. Vom Ford-Streik hörte sie erst hier, als sie selbst schon
einen Arbeitskampf führte, und fand erstaunliche Parallelen. 50 Jahre
später sollte es daher nicht nur Happy Birthday Ford-Streik heißen, sondern
auch: Weg mit dem wilden Streikverbot aus Nazi-Großvaters Zeiten! Damit zum
nächsten runden Geburtstag die Erb*innen der Ford-Arbeiter ganz legal für
ihre Rechte kämpfen können.
27 Aug 2023
## LINKS
[1] https://www.stadtrevue.de/archiv/artikelarchiv/06684-das-gesicht-des-ford-s…
[2] /Fahrradkuriere-in-Berlin/!5801656
[3] /Lebensmittellieferdienst-Gorillas/!5887224
[4] /Lkw-Fahrer-kaempfen-um-Geld/!5948131
[5] /Neue-DGB-Vorsitzende-Fahimi/!5850673
[6] /Gorillas-Fahrer-klagen-gegen-Entlassung/!5848026
## AUTOREN
Jan Ole Arps
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