# taz.de -- Kölns DGB-Chef zum Ford-Streik 1973: „Erfahrung kollektiver Mach… | |
> Der „wilde“ Ford-Streik 1973 war spontan – und doch geplant, sagt Witich | |
> Roßmann. Vor 50 Jahren wurde der „Gastarbeiter“-Ausstand gewaltsam | |
> beendet. | |
Bild: Kampf gegen die brutale Ausbeutung am Band: Der wilde Streik bei Ford 1973 | |
taz: Sieben Tage dauerte der „wilde Streik“ in den Kölner Ford-Werken vor | |
50 Jahren. Was ist das Besondere an ihm, dass er bis heute im Gedächtnis | |
geblieben ist und für Diskussionen sorgt? | |
Witich Roßmann: Der Ford-Streik bildete den Höhepunkt einer ganzen Reihe | |
„wilder Streiks“ im Jahr 1973 und erregte schon damals eine öffentliche | |
Aufmerksamkeit, die alle anderen Ausstände in den Schatten stellte. Bis | |
heute von Relevanz ist dieser Streik, weil er eine elementare Rolle in der | |
[1][Erinnerungskultur der migrantischen Bevölkerung] spielt. | |
Wenn auch nur temporär und segmentiert, verwandelte sich in diesen sieben | |
Tagen im August die individuelle Ohnmacht vor allem der türkischen | |
Migranten im Produktionsprozess in die Erfahrung kollektiver Macht. Für das | |
migrantische Selbstbewusstsein war das von großer Bedeutung: Mit diesem | |
„wilden Streik“ demonstrierten die brutal ausgebeuteten sogenannten | |
Gastarbeiter exemplarisch, [2][dass sie sich nicht mehr alles gefallen | |
lassen]. | |
Wieso ausgerechnet beim Autobauer Ford? | |
Ford beschäftigte damals rund 16.000 „Gastarbeiter“, darunter 11.200 | |
Kollegen türkischer und 2.200 italienischer Herkunft. Das war fast die | |
Hälfte der gesamten Belegschaft – und so viel wie sonst nirgendwo in der | |
Bundesrepublik. Wobei die Aufteilung im Werk einfach war: Die besser | |
bezahlten Arbeitsplätze besetzten deutsche Facharbeiter, die Migranten | |
schufteten an den Montagebändern mit geringster Bezahlung. | |
Der Ford-Konzern, Erfinder der taylorisierten Fließbandarbeit, war | |
berüchtigt für die härtesten Arbeitsbedingungen, für das „Ford-Tempo“ m… | |
den kürzesten Taktzeiten. Und nach der Schicht lebte mehr als die Hälfte in | |
werkseigenen sogenannten Gastarbeiter-Wohnheimen in Vier-Bett-Zimmern. Der | |
Leidensdruck war hoch. Da bedurfte es für eine Explosion nur noch eines | |
Streichholzes. | |
Was war dieses Streichholz? | |
Im Sommer 1973 lief [3][eine Welle „wilder Streiks“] durch | |
Nordrhein-Westfalen. Deren Kern war die Forderung nach einem | |
Teuerungsausgleich, weil angesichts eines mit heute vergleichbaren | |
Inflationsanstiegs der Tarifabschluss, den die IG Metall Anfang des Jahres | |
abgeschlossen hatte, einfach zu gering ausgefallen war. | |
Kurz bevor es bei Ford losging [4][war es bereits zu spontanen | |
Arbeitsniederlegungen] unter anderem bei den Autozulieferern Hella in | |
Lippstadt und Pierburg in Neuss, beim Gelsenkirchner Küchengerätehersteller | |
AEG-Küppersbusch und bei Opel in Bochum gekommen. Vielen dieser „wilden | |
Streiks“ war gemeinsam, dass sie maßgeblich von migrantischen Beschäftigten | |
getragen wurden – bei Hella und Pierburg übrigens überwiegend von | |
Migrantinnen – und sie mit harten Konflikten bis hin zu Polizeieinsätzen | |
verbunden waren, aber ebenso, dass sie erfolgreich waren. Das motivierte | |
auch in Köln. | |
Warum „wilde Streiks“? | |
Das Tarif- und Arbeitskampfrecht verpflichtet die Gewerkschaften während | |
der Laufzeit eines Tarifvertrags zur Friedenspflicht, illegalisiert | |
spontane Arbeitsniederlegungen und verbietet offizielle gewerkschaftliche | |
Unterstützung. Als „wild“ titulieren sie Arbeitgeberverbände und Medien. | |
Diese „wilde Streikwelle“ – 1973 bundesweit über 400 – veranlasste die | |
ARD-„Tagesschau“ zeitweise sogar zur Veröffentlichung einer Streikkarte vor | |
dem Wetterbericht: Aufgesteckte Nadeln dokumentierten die täglich gerade | |
streikenden Betriebe! | |
Seit Ende der Werksferien steuerte auch Ford auf einen solchen „wilden | |
Streik“ zu, mit dem Verhandlungsdruck für eine Teuerungszulage und die | |
Kontrolle der Bandgeschwindigkeit durch die Arbeiter erzeugt werden sollte. | |
Die willkürliche Entlassung von dreihundert türkeistämmigen Beschäftigten, | |
die zu spät aus dem Urlaub zurückgekehrt waren, heizte die Stimmung | |
zusätzlich auf. | |
Wieso die Entlassungen? | |
Aufgrund der Kürze der Werksferien von nicht einmal einem Monat und der | |
langen Reise mit dem Auto oder dem Zug in die Heimat war es üblich, dass | |
etliche „Gastarbeiter“ verspätet zurückkamen. Ford hatte das bis dahin | |
immer toleriert. Doch angesichts rückläufiger Aufträge wollte der Konzern | |
diesmal die Gelegenheit zum kostengünstigen Personalabbau nutzen. Von 3.000 | |
Verspäteten wurden willkürlich 300 abfindungsfrei rausgeschmissen. | |
Den gängigen Darstellungen nach begann der Streik in der Endmontagehalle Y | |
mit einer spontanen Arbeitsniederlegung eines linken türkischen Kollegen, | |
dem sich dann nach und nach andere türkische Kollegen anschlossen. | |
Die Atmosphäre nicht nur in der Y-Halle, in der 5.000 Menschen arbeiteten, | |
war wie in einem Kessel, der bei jedem Funken explodieren kann. Und in | |
diesem Fall gab es gleich mehrere Funken: Eine Gruppe junger | |
Vertrauensleute und Betriebsräte hatte ohnehin eine spontane | |
Arbeitsniederlegung für die Freitagsspätschicht am 24. August hinter dem | |
Rücken des Betriebsratsvorsitzenden geplant. Heftige Debatten wegen der | |
Entlassungen, der Mehrarbeit, dem Arbeitsdruck und die Forderung nach einer | |
Teuerungszulage führten dann zu einem solidarischen Streikauftakt | |
migrantischer wie deutscher Arbeiter. | |
Erst bei der Sichtung der Archive der IG Metall Köln sind Sie darauf | |
gestoßen, dass Vertrauensleute und Betriebsräte den Ford-Streik maßgeblich | |
initiiert haben. Warum ist das nicht früher bekannt geworden? | |
Das Bild des absolut spontan ausgebrochenen Streiks ist einfach schöner. | |
Außerdem gab es niemanden, der ein Interesse an einem anderen Bild hatte. | |
Warum nicht? | |
Zentral für die „Gastarbeiter“ war die Selbstermächtigung, die dieser | |
Ausstand für sie bedeutete. Für die Migranten spielte es auch in der | |
Nachbetrachtung einfach keine Rolle, was Vertrauensleute zu Streikbeginn in | |
der Y-Halle organisiert haben. Für linke Gruppen, die sich über Jahrzehnte | |
intensiv [5][mit dem Ford-Streik beschäftigt] haben, war er hingegen stets | |
der realisierte Traum einer „direkten Aktion“. So entstanden etliche | |
Mythen. Ein vermeintlich von jeglicher gewerkschaftlichen Organisierung | |
völlig losgelöster eruptiver Ausbruch gehört dazu. Befördert wurde diese | |
Wahrnehmung natürlich auch vom schwierigen Umgang der IG Metall mit dem | |
Streik. | |
Inwiefern? | |
Selbstverständlich konnte und wollte die Führung der IG Metall nicht | |
zugeben, dass ein von ihr abgelehnter „wilder Streik“ von Gewerkschaftern | |
maßgeblich vorbereitet worden ist. Die linken IG Metall-Vertrauensleute und | |
-Betriebsräte wiederum hatten das Problem, dass sie ja etwas Illegales | |
initiiert hatten. Das sollte von Anfang an nicht herauskommen. Nicht | |
unterschätzt werden darf dabei, dass sie befürchten mussten, von Ford in | |
Regress genommen und mit millionenschweren zivilrechtlichen | |
Schadensersatzprozesses überzogen zu werden. | |
Aber deswegen hätten sie doch nicht bis heute schweigen müssen. | |
Bei einer 30-jährigen Verjährungsfrist finde ich es schon verständlich, | |
dass sie lange geschwiegen haben. Allerdings hat der damalige | |
Vertrauenskörperleiter und spätere Ford-Gesamtbetriebsratschef Wilfried | |
Kuckelkorn bereits 2006 in einem Interview erstmals eingeräumt, dass der | |
Streik von ihm mitinitiiert worden ist. Das ist aber öffentlich nicht | |
wahrgenommen worden. Die internen Dokumente der IG Metall, die ich | |
inzwischen einsehen konnte, bestätigen seine Darstellung. | |
Dann muss die Geschichte jetzt umgeschrieben werden? | |
Nein, sie sollte aber ergänzt werden. Der „wilde Streik“ bei Ford kam nicht | |
aus heiterem Himmel, sondern war geplant, hat sich dann jedoch | |
verselbstständigt. Das ursprünglich nur von Freitag bis Montag konzipierte | |
Konzept einer „spontanen Arbeitsniederlegung“ scheiterte an der harten | |
Haltung des Ford-Konzerns. Statt wie erhofft bis zum Ende der montäglichen | |
Frühschicht erste Verhandlungserfolge präsentieren zu können, biss der | |
Betriebsrat auf Granit. Das radikalisierte die migrantischen Beschäftigten | |
in ihren Forderungen und Protestformen. Sukzessive etablierte sich eine | |
Logik des „Aufstands“. | |
Mit der spontanen Wahl einer 14-köpfigen Streikleitung, die aus neun | |
türkischen, zwei italienischen, einem jugoslawischen und zwei deutsche | |
Kollegen bestand, etablierte sich ein von gewerkschaftlichen Zusammenhängen | |
gänzlich abgelöster Akteur des Aufstandes, der nun in Konfrontation mit dem | |
Betriebsrat und der Vertrauenskörperleitung das Verhandlungsmandat | |
beanspruchte. | |
Vor allem aber organisierte er die Fortsetzung des Streiks als flexible | |
Fabrikbesetzung: Werkstore wurden besetzt, türkische Streikposten | |
übernahmen die Ausweiskontrolle, ließen Beschäftigte zu den Schichtwechseln | |
zur Streikfortsetzung ins Werk, verhinderten aber auch zum Teil militant, | |
dass Beschäftigte das Werk verlassen konnten. | |
Warum hat sich der Ford-Konzern nicht auf Verhandlungen eingelassen? | |
Ford war nicht an einer Verständigung interessiert, sondern wollte den | |
Protest mit allen Mitteln brechen. Dazu gehörte die Isolierung der aktiv | |
Streikenden von der Restbelegschaft durch faktische Aussperrung, die | |
Aufhetzung der deutschen gegen die migrantischen Beschäftigten und eine | |
mediale Propagandakampagne, wo dann in Zeitungen vom „Türkenterror“ zu | |
lesen war. | |
Das kulminierte in der heimlichen Organisation einer Gegendemonstration von | |
leitenden Angestellten, Meistern, Werkschutz und zivilen Polizeikräften am | |
Streikdonnerstag. Die führte zu einer wilden Schlägerei, die die erwünschte | |
Legitimation für den Polizeieinsatz lieferte, der den Streik schließlich | |
gewaltsam beendete. | |
Was waren die Folgen des Streiks? | |
Die unmittelbare Folge des Streiks war eine unglaublich harte Spaltung | |
zwischen den deutschen und den türkischen Arbeitern. Die ersten | |
Vollversammlungen der gewerkschaftlichen Vertrauensleute nach dem Streik | |
prägte die tiefe Enttäuschung der türkischen Beschäftigten, dass sich die | |
Deutschen an der Fabrikbesetzung nicht beteiligten, passiv abwarteten oder | |
sich sogar offen entsolidarisierten. Wieder zusammen zu finden, war nicht | |
leicht. | |
Trotz des desasterhaften Endes führte der Ford-Streik jedoch auch zu einer | |
neuen Sicht auf die „Gastarbeiterfrage“ und zu einem anderen Umgang mit den | |
Arbeitsmigranten, bei einem Konzern wie Ford ebenso wie in den | |
Gewerkschaften. 1978 wurde mit Salih Güldiken der erste türkeistämmige | |
Arbeiter für die IG Metall in den Aufsichtsrat von Ford berufen. | |
Wie ist es denn heute um das Verhältnis zwischen den deutschen und den | |
migrantischen Beschäftigten bei Ford bestellt? | |
Das ist eine völlig andere Welt. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die | |
nachfolgenden migrantischen Generationen eine Berufsausbildung gemacht | |
haben und nach und nach auch in die qualifizierten Arbeitsbereiche | |
hineingekommen sind. Heute sitzt im Ford-Aufsichtsrat ein türkeistämmiger | |
Betriebsrat einer türkeistämmigen Vertreterin der Arbeitgeberseite | |
gegenüber. Da geht es also nicht mehr um die Frage der Herkunft, sondern | |
ausschließlich um die unterschiedlichen Interessen zwischen Arbeit und | |
Kapital. | |
Ende gut, alles gut? | |
Nein, sicher nicht. Ethnische Spaltungen, rassistische Diskriminierungen, | |
heterogene Interessen und Erfahrungen in immer neuen Branchen und | |
Unternehmen müssen thematisiert und solidarisch überwunden werden. Die | |
Aufarbeitung von Erfolgen und Niederlagen in solchen Kämpfen ist dafür | |
unverzichtbar. | |
30 Aug 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://nrw.rosalux.de/publikation/id/50714/materialien-spontane-streiks-un… | |
[2] https://de.labournet.tv/video/5793/diese-arbeitsniederlegung-war-nicht-gepl… | |
[3] https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/luxemburg_beitraege/lux_b… | |
[4] https://www.labournet.de/interventionen/asyl/arbeitsmigration/gewerkschafte… | |
[5] /50-Jahre-Ford-Streik/!5952740 | |
## AUTOREN | |
Pascal Beucker | |
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