# taz.de -- Berlin stoppt Verkehrswende: Rad ab im Senat | |
> Der Planungsstopp für Radwege stößt auf heftige Kritik. Es droht der | |
> Verlust von schon genehmigten Fördermillionen. | |
Bild: Verkehrssenatorin Schreiner hat den Ausbau neuer Radwege vorerst gestoppt… | |
BERLIN taz | Der von der Verkehrssenatorin Manja Schreiner (CDU) verhängte | |
Planungs- und Baustopp für Radwege sorgt weiter für deutliche Kritik und | |
viel Unverständnis. Zu nicht weniger als zivilem Ungehorsam forderten die | |
Grünen Kreuzberg-Friedrichshain ihr Bezirksamt auf: Deren Fraktion in der | |
Bezirksverordnetenversammlung hat beantragt, den Stopp von | |
Verkehrswendeprojekten einfach nicht zu befolgen. | |
Überschrieben ist der Grünen-Antrag für den 28. Juni mit „Bauen, Bauen, | |
Bauen! Sicherheit statt Ideologie in der Verkehrspolitik“. Darin fordern | |
die Grünen das Bezirksamt auf, „alle abgestimmten, bereits angeordneten | |
oder finanzierten Projekte zur Verbesserung des Fuß- und Radverkehrs auch | |
weiter umzusetzen“. Zudem solle der Bezirk auf den Senat einwirken, seine | |
„destruktive Blockadehaltung“ gegenüber der Verkehrswende aufzugeben. | |
Der Grüne Pascal Striebel sagte: „Die CDU hat beschlossen, lieber | |
Parkplätze zu schützen als Menschen.“ Die Union wolle den Bezirken ihre | |
Ideologie des „Auto first“ aufzwingen, eingeworbene Fördergelder in | |
Millionenhöhe drohten zu verfallen. Striebel forderte den Senat auf, zum | |
Miteinander von Senat und Bezirken zurückzukehren. | |
Anlass für die Aufregung ist die [1][Ankündigung des schwarz-roten Senats | |
vom Freitag], sämtliche laufenden Projekte für den Ausbau von | |
Fahrradinfrastruktur überprüfen zu wollen, die einen Wegfall von | |
Fahrstreifen oder Parkplätzen zur Folge hätten oder über lange Strecken | |
Tempo 30 vorsähen. Während europaweit Hauptstädte auf autofreie Innenstädte | |
setzen und Parkplätze abschaffen, will Berlin „künftig andere Maßstäbe an | |
die Straßenaufteilung setzen“, wie Schreiner an den Bezirk Lichtenberg | |
schrieb. Die Pläne zogen eine Spontan-Demo von Fahrrad-Aktivist*innen noch | |
am Freitag nach sich. | |
## Auf den Barrikaden | |
Die Grünen Mitte sind auch am Montag noch auf den Barrikaden: Man fordere | |
vom Koalitionspartner SPD „ein deutliches Signal gegen das verheerende | |
Moratorium“. Auch hier sah man durch den „Ausbau-Stopp“ bereits zugesagte | |
Fördergelder gefährdet. Radfahren sei kein Freizeitsport, sondern Alltag | |
und eine Alternative zum Auto – gleichzeitig verunglückten viele | |
Radfahrende aufgrund mangelnder Sicherheit der Radinfrastruktur. Hendrik | |
Böckermann von den Grünen Mitte sagte: „Ein Radinfrastruktur-Ausbau ohne | |
Wegfall einzelner Autoparkplätze ist nicht möglich und im Zweifel gefährdet | |
die Senatorin mit ihrer Entscheidung Menschenleben.“ Auch die SPD-Fraktion | |
in Mitte lehnt „den von Schreiner ausgerufenen Kulturkampf ‚Vorfahrt für | |
Autos‘“ ab. | |
Diese vehemente Kritik äußern allerdings nicht alle in der Berliner SPD. | |
Tino Schopf, verkehrspolitischer Sprecher der Berliner SPD-Fraktion im | |
Abgeordnetenhaus, kann die Sorgen der Verbände zwar verstehen, ist der | |
Prüfung aber nicht abgeneigt: „Dort, wo Fahrradprojekte zu Lasten des | |
öffentlichen Personennahverkehrs gehen, müssen wir noch mal hinschauen“, | |
sagt er. Projekte, die demnächst in den Bau gehen könnten, will er aber | |
nicht streichen. In den nächsten 14 Tagen will er erste Ergebnisse sehen | |
und dann mit der CDU „zukunftsgerichtet“ über die einzelnen Projekte | |
sprechen. Dabei verweist er auch auf den Koalitionsvertrag, in dem ein | |
Ausbau der Fahrradinfrastruktur festgehalten sei. | |
Der Senat konnte auf Anfrage nicht konkret benennen, wie viele Projekte | |
betroffen sind. Eine taz-Abfrage bei den Bezirken ergab, dass tatsächlich | |
einige Radwege betroffen sind, bei denen nun infolge des Stopps in | |
erheblichem Ausmaß Fördergelder verlorengehen könnten – insbesondere bei | |
Projekten kurz vor Baubeginn, die noch in diesem Jahr umgesetzt werden | |
sollen. | |
So sieht Bezirksstadträtin Saskia Ellenbeck (Grüne) aus | |
Tempelhof-Schöneberg besonders die Radspuren in der Grunewaldstraße und die | |
Hauptstraße zwischen Kleistpark und Dominicusstraße gefährdet. Hier stünden | |
5,8 Kilometer Fahrradweg auf der Kippe. Die Hauptstraße wird mit 750.000 | |
Euro vom Bund gefördert, die Grunewaldstraße mit 800.000 Euro. Einen | |
Aufschub der Projekte könne man sich „angesichts der Kapazitäten der Firmen | |
im fortgeschrittenen Jahr“ nicht leisten. | |
## „Schlechtes Regieren“ | |
Neuköllns grüner Bezirksstadtrat Jochen Biedermann nannte Schreiners | |
Vorstoß „ein Paradebeispiel für schlechtes Regieren“. Er gehe davon aus, | |
dass geplante Radwege in der Sonnenallee, der Stubenrauchstraße und der | |
Hermannstraße betroffen seien – allein bei der Sonnenallee drohten 573.000 | |
Euro Fördermittel zu verfallen. Selbst wenn Maßnahmen nach der Prüfung | |
wieder freigegeben werden, führe diese ideologische Politik dazu, dass | |
Fördergelder verfielen, so Biedermann. | |
Seine Kollegin aus Mitte, Almut Neumann (Grüne), berichtete Ähnliches: In | |
der Beusselstraße in Mitte wolle man einen mit 583.000 Euro geförderten | |
geschützten Radstreifen in diesem Jahr auf die Straße bringen. „Die Strecke | |
dort ist eine wichtige Nord-Süd-Verbindung, aber zurzeit tatsächlich | |
lebensgefährlich für Menschen auf dem Rad. Wir müssen dort so schnell wie | |
möglich handeln“, sagte sie. | |
In Lichtenberg würde der Radverkehrsplan um Jahre zurückgeworfen, wie Filiz | |
Keküllüoğlu (Grüne) der taz sagte – vor allem mit Blick auf die Planung f… | |
eine „protected bike lane“ in der Siegfriedstraße. Sie habe die Sorge, dass | |
alle Projekte, die in diesem Jahr abgerechnet werden müssen, durch die | |
Prüfungsvorbehalte akut gefährdet sind. | |
In Bezirken, wo die CDU den Verkehrsstadtrat stellt, ist man deutlich | |
entspannter: etwa in Pankow, wo mit elf Projekten besonders viele Radwege | |
von dem Stopp betroffen sind. Das größte ist der Panke-Trail, der als | |
Radschnellverbindung von Pankow nach Mitte verlaufen soll und [2][18 | |
Kilometer lang ist.] Dennoch ist Bezirksstadträtin Manuela Anders-Granitzki | |
positiv gestimmt. Sie verstehe die Mail der Senatsverwaltung nicht als | |
Absage, vielmehr sollten dadurch sichere Radwege gebaut werden, so | |
Anders-Granitzki. In Reinickendorf gibt es noch keine Zahlen. Dort will man | |
erst die Prüfung der Senatsverwaltung abwarten und dann selber prüfen. | |
## Alle Verkehrsteilnehmer im Blick | |
Im Westen fühlt man sich von Verkehrssenatorin Schreiner hingegen | |
unterstützt. So könne die Charlottenburger Chaussee nun saniert werden, | |
ohne eine Fahrspur zu verlieren, sagt der Spandauer Bezirksstadtrat | |
Thorsten Schatz (CDU). Dieses Projekt werde durch Bezirksmittel gestemmt | |
und sei somit gesichert, versicherte er zusätzlich. Er ist überzeugt: „Dass | |
das Vorhaben, alle Verkehrsteilnehmer gleichermaßen in den Blick zu nehmen, | |
die notwendige Akzeptanz der Maßnahmen in der Bevölkerung deutlich erhöht.“ | |
Etwas zwiegespalten ist der langjährige Fahrradaktivist Heinrich | |
Strößenreuther, der 2021 für viele überraschend in die CDU eingetreten ist. | |
Auf taz-Anfrage, ob er nun wieder austreten wolle, sagte er mit | |
Bestimmtheit: „Nee!“ Er habe mehrfach mit Senatorin Schreiner und der | |
zuständigen Staatssekretärin Claudia Strutz gesprochen. Er ist der | |
Überzeugung, dass es Schreiner wirklich um eine Beschleunigung der Prozesse | |
und um mehr Radwege ginge. Die Aufregung halte er ein Stück weit für einen | |
„Sturm im Wasserglas“. | |
Er gestehe Schreiner zu, sich nach der Amtsübernahme zunächst einmal einen | |
Überblick verschaffen zu wollen und verschiedene Projekte kurzzeitig | |
einzufrieren – mit Betonung auf kurzzeitig: „Ich gehe jetzt schon mal in | |
den Keller und suche das Kriegsbeil. Wenn es in drei Monaten nicht | |
weitergeht, hole ich es hoch“, sagt Strößenreuther. Besonders, wenn durch | |
das Einfrieren Fördermittel verloren gingen, fände er das ärgerlich. | |
Insofern könne er auch die Aufregung in der Verkehrswendebewegung | |
verstehen. Aber noch sei er optimistisch: „Ich habe mittlerweile drei | |
Kisten Bier verwettet, dass in drei Jahren mehr passiert ist als davor | |
unter den Grünen“, sagt Strößenreuther. | |
## Langfristiges Problem | |
Der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club Berlin (ADFC) hingegen ist noch immer | |
über das Vorhaben der Verkehrssenatorin entsetzt: „Uns ist das Herz in die | |
Hose gerutscht“, sagt Pressesprecher Karl Grünberg. Noch vor zwei Wochen | |
hatte der Fahrradverein der neuen Koalition eine [3][Schonfrist von 100 | |
Tagen zugestanden], die sei jetzt vorbei, so Grünberg. Er sieht ein | |
langfristiges Problem auf Berlin zukommen: Der Planungsstopp gefährde | |
Fördergelder, ohne das Geld werde aber auch nicht mehr geplant. Falls durch | |
die kommende Sommerpause Gelder wegfallen, stellt Grünberg die Frage: „Wie | |
lange soll der Stopp dauern?“ Immerhin einen Punkt sieht Grünberg positiv: | |
es ist kein genereller Stopp von Fahrradwegen geplant. „Ohne Fahrrad geht | |
es nicht mehr, das muss auch die Koalition akzeptieren“, so Grünberg. | |
Der Verein Changing Cities will seine Schonfrist noch nicht ganz | |
aufkündigen, aber: „Wir wollen jetzt bundesweit mobilisieren“, sagt | |
Pressesprecherin Ragnhild Sørensen. Berlin habe schließlich Strahlkraft: | |
„Der Klimaschutz kommt dadurch auch anderswo unter Druck“, sagt sie. | |
Der Verein will außerdem juristisch prüfen, ob Senatorin Schreiner ihre | |
Kompetenzen überschritten hat. Die verantwortlichen Stellen dürften nun | |
nicht mehr zwischen der Leichtigkeit des Verkehrs und seiner Sicherheit | |
abwägen. „Das erinnert an Micromanagement“, sagt Sørensen. Zu dem Vorhabe… | |
Parkplätze zu sichern, kann sie nur schmunzeln: „Der Senat verfügt über gar | |
keine Daten zu Parkplätzen in Berlin.“ Ihr Verein würde die gerade erst | |
zusammentragen. | |
19 Jun 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Planungsstopp-fuer-Radinfrastruktur/!5938728 | |
[2] https://www.infravelo.de/karte/?tx_dreipcinfravelosolr%5Bfilter%5D%5B%5D=ma… | |
[3] /Radverkehr-in-Berlin/!5938284 | |
## AUTOREN | |
Benjamin Probst | |
Gareth Joswig | |
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