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# taz.de -- Gefahr antidemokratischer Tendenzen: Am autoritären Kipppunkt
> In Deutschland werden autoritäre Ereignisse mehr, politische Räume enger.
> „Law and Order“-Politik hat Konjunktur.
Bild: Leipzig, 2.6.2023: Polizeieinsatz am Abend vor der „Tag X“-Demonstrat…
Europa schottet sich mehr und mehr ab. In Deutschland brennen wieder
Flüchtlingsunterkünfte und fast jede*r Fünfte gibt an, mit der AfD eine
rechtsextreme Partei wählen zu wollen.
Genderpolitiken, Rassismuskritik und Grundrechte werden zunehmend in Frage
gestellt und ausgehöhlt. Gleichzeitig beschleunigt sich die
Klimakatastrophe. Statt konsequent zu handeln, werden gesellschaftliche
Konflikte von rechts bewusst forciert. Stets geht es darum, europäische
Privilegien, imperiale Lebensweisen und etablierte Machtstrukturen zu
erhalten.
Wir machen uns Sorgen. Gesellschaftlich steht viel auf dem Spiel. Wir sehen
Anzeichen dafür, dass in Deutschland die Situation immer mehr der ähnelt,
die wir seit einiger Zeit zum Beispiel in Ungarn, den USA, Indien oder
Italien beobachten können. Dass also autoritäre Kipppunkte überschritten
werden.
In der Klimaforschung ist ein Kipppunkt ein Moment, an dem – laut
Weltklimarat – „eine kritische Grenze“ erreicht wird, „jenseits derer s…
ein System umorganisiert“, neue Prozesse sich verfestigen und negative
Dynamiken sich beschleunigen.
Dies lässt sich auch auf gesellschaftliche Kipppunkte übertragen.
Kipppunkte entstehen nicht zufällig, sie sind das Ergebnis länger
zurückliegender destruktiver Prozesse. Doch im Gegensatz zum Klima sind
gesellschaftliche Prozesse nie unumkehrbar. Allerdings sind etablierte
Diskurse, Strukturen und Normen oft nicht rückgängig zu machen. Sind
autoritäre Kipppunkte überschritten, wird der Boden brüchig, auf dem
plurale und demokratische Gesellschaften stehen.
## Autoritäre Beschleunigung
Die autoritären Ereignisse überschlagen sich in einer derart rasanten
Geschwindigkeit, dass es kaum möglich ist, Schritt zu halten.
Antidemokratische Tendenzen sind auf dem Vormarsch. Die AfD erreicht in
Umfragen Spitzenwerte.
Die Europäische Union treibt, trotz scharfer wissenschaftlicher und
zivilgesellschaftlicher Kritik, die [1][Abschottung an den Grenzen] voran.
Zuletzt hat die Ampelregierung auf europäischer Ebene den gravierendsten
Asylrechtsverschärfungen der letzten 30 Jahre zugestimmt. Dabei ist
bekannt, dass Menschen an den EU-Grenzen seit Jahren systematisch
entrechtet und brutal zurückgewiesen werden. Wenn die Genfer
Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention offen in
Frage gestellt werden, haben sich autoritäre Mechanismen gefährlich
normalisiert.
Rassismus hat in Deutschland Tradition und tödliche Folgen. Jahrelang
konnte der NSU ungehindert morden. Der Rechtsterror von Hanau mit neun
Toten steht in dieser Kontinuität. Anders als zuvor wurde Rassismus 2020
klar geächtet, auch aus den Reihen der Bundesregierung. Dies war von kurzer
Dauer und allenfalls symbolisch.
Untersuchungen zeigen, dass Opfer von Polizeigewalt kaum eine Chance haben,
die Täter*innen strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Schwarze
Menschen, Migrant*innen und People of Colour, besonders arme und
geflüchtete Personen, sind einer mitunter tödlichen Polizeipraxis, wie
zuletzt Mouhamed Dramé in Dortmund, ausgesetzt, die nur unzureichend
aufgearbeitet wird. Der liberale Anti-Rassismus ‚von oben‘ befördert in
Deutschland höchstens die Diversifizierung des Bestehenden.
## Hochkonjunktur der „Law and Order“ – Politik
Im Umgang mit Protesten ist zu beobachten, dass die politischen Räume enger
werden. So geschehen in Lützerath, bei der Räumung des Klimaprotestes.
Verschärft tritt der autoritäre Umgang im Zuge des [2][Vorgehens gegen die
„Letzte Generation“] zutage. Obwohl die Bewegung vor allem mit zivilem
Ungehorsam agiert, wird sie als terroristisch diffamiert und einer
erheblichen Kriminalisierung ausgesetzt.
Auch die Reaktion des Staates in Leipzig Anfang Juni nach dem Urteil im
sogenannten Antifa-Ost-Komplex hat eine neue Dimension erreicht: Der große
Polizeikessel und die Versammlungsverbote sind ein Angriff auf die
Demokratie.
„Law and Order“- Politik hat Hochkonjunktur. Dabei verliert der Staat das
rechtsstaatliche Maß. Die in diesen Auseinandersetzungen zu beobachtende
Polizeigewalt normalisiert sich. Ein Beispiel sind die selbstverständlicher
angewandten Schmerzgriffe durch die Polizei, die in der Rechtswissenschaft
zum Teil als Verstoß gegen das Folterverbot diskutiert werden.
Doch damit nicht genug: Die Zahl der „Einzelfälle“ rechter Netzwerke in
Polizei und Bundeswehr ist kaum noch zu überblicken. Kritik an diesen
Zuständen führt nicht zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den
Staatsapparaten und ihren Funktionen im neoliberalen und zunehmend
autoritären Kapitalismus, sondern wird diszipliniert und kriminalisiert.
Rechtsaußen wird der Kulturkampf gegen feministische Errungenschaften und
LGBTIQ+ geschürt. Und in der Opposition machen sich die Unionsparteien
diese Rhetorik zu eigen. Während die extreme Rechte in vielen ostdeutschen
Bundesländern faktisch an die Macht strebt und Grundrechte sowie der Schutz
von Schwarzen Menschen, Migrant*innen und People of Colour, Jüdinnen und
Juden sowie Linken real bedroht sind, wird von bürgerlicher Seite eine
Cancel Culture und ein Wokeism als – in den Worten des CDU-Vorsitzenden
Friedrich Merz’- „größte Bedrohung für die Meinungsfreiheit“ bezeichne…
Statt der notwendigen klaren Kante gegen Rechts werden immer mehr Stimmen
laut, die in Trump'scher Manier [3][Linke und Grüne für das Erstarken der
Rechten verantwortlich] machen. SPD und Grüne bleiben blass und
verständigen sich im Zweifel auf den weiteren Ausbau von „Law and Order“.
## Bedrohliche Wechselwirkungen
Die Ereignisse sind für sich genommen beängstigend, aber nicht neu. Jedoch
wächst unsere Sorge vor einem autoritären Kipppunkt. Denn diese Ereignisse
beeinflussen und beschleunigen sich wechselseitig. Das Ganze findet zudem
in einer Zeit allgemein erhöhter Unsicherheit statt.
Die ökologische Transformation sozial und demokratisch zu gestalten, ist
eine enorme Herausforderung. Hinzu kommt der Angriffskrieg Russlands gegen
die Ukraine. Zusammen mit der vorhandenen Unzufriedenheit über politische
Sprachlosigkeit, Armutsrisiken, Wohnungsnot oder mangelhafte soziale
Infrastruktur ergibt sich ein explosives Gefüge.
Anstelle dies abzufangen, werden die Stimmungen – wie zuletzt bei der
Demonstration in Erding gegen das Gebäudeenergiegesetz – durch politische
Verantwortungsträger noch angefacht. Autoritäre Kipppunkte drohen, weil mit
der AfD eine Partei in der Lage ist, diese Stimmungen bundespolitisch
aufzufangen.
## Alternativen sind vorhanden
Deutlich treten die Grenzen der neoliberalen Politik und des liberalen
Humanismus der vergangenen Jahrzehnte zutage, die keineswegs Antworten auf
die soziale Frage, die Klimakatastrophe und globale Fluchtbewegungen
liefern. So werden zunehmend im demokratischen Spektrum autoritäre
Mechanismen übernommen. Die Rechte wird jedoch nur dann zurückgedrängt,
wenn [4][ihre Diskurse geächtet, ihre Ideologie ausgeschlossen] und ihre
Räume verengt werden. Sie nachzuahmen, ihren Forderungen nachzukommen,
stärkt sie, macht ihre Erklärungen plausibel.
Wir sehen Auswege. Wir erkennen im gesamten demokratischen Spektrum
Stimmen, die bereit sind, diesen Entwicklungen entgegenzutreten. Wir
beobachten soziale Bewegungen, Initiativen und zivilgesellschaftliches
Engagement, das in der Lage ist, Alternativen anzubieten, Menschen
solidarisch zusammenzubringen, Visionen zu entwickeln.
Beispielhaft ist die Europäische Bewegung der Plätze sowie die
Klimabewegung, die mit ihren Besetzungen auch Orte der Debatte erschaffen
hat. Die Organisierung von Migrant*innen und Geflüchteten gegen
Grenzregime und Lager, für Legalisierung und Arbeitsrechte sowie
Initiativen von Betroffenen der rechten Gewalt und Polizeigewalt. Aber auch
queer-feministische Gruppen gegen sexualisierte Gewalt und für eine
radikale Gesundheitsreform sowie alltagsorientierte zivilgesellschaftliche
Bündnisse gegen Rechts in Ostdeutschland.
Diese Bewegungen imaginieren politische Begriffe neu, wie
Bürger*innenschaft, Zugehörigkeit, soziale Wohlfahrt und Demokratie. Diese
gesellschaftlichen Strömungen müssen in der Öffentlichkeit viel mehr gehört
werden und brauchen Unterstützung. Denn das Risiko, dass autoritäre
Kipppunkte überschritten werden, ist aktuell real gegeben – verhindert wird
es in gemeinsamen Anstrengungen.
16 Jun 2023
## LINKS
[1] /Innenministerkonferenz-beredet-Migration/!5937590
[2] /Repressionen-gegen-Letzte-Generation/!5934396
[3] /Extreme-Rechte-gleichauf-mit-SPD/!5938430
[4] /Studie-zur-AfD/!5939276
## AUTOREN
Daniel Mullis
Maximilian Pichl
Vanessa E. Thompson
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