# taz.de -- Polizeigewalt in Italien: Zeichen eines Versagens | |
> Polizeigewalt ist in Italien schon lange ein Problem. Unter Melonis Ägide | |
> erreicht sie aber eine neue Dimension. Selbst Kinder sind nicht mehr | |
> sicher. | |
Bild: Basta! Keine Schlagstöcke gegen Schüler mehr, fordert ein Banner auf de… | |
Die [1][Videoaufnahmen] sind erschreckend: Man sieht junge Menschen, die an | |
einer propalästinensischen Demonstration teilnehmen. Die Teilnehmenden sind | |
vor allem Schülerinnen und Schüler, viele haben ihre Schultaschen dabei. | |
Die Polizei drängt sie in eine kleine Straße und geht brutal gegen sie vor, | |
die Schlagstöcke fliegen. Man sieht die jungen Menschen fliehen, hört sie | |
schreien. Am Ende sprechen die Medien von 13 Verletzten, die meisten davon | |
minderjährig. | |
Die Aufnahmen stammen aus Pisa, wo ein Polizeieinsatz am 23. Februar eine | |
Welle der Empörung und eine mediale Debatte ausgelöst hat. Das Thema | |
Polizeigewalt ist in Italien keineswegs neu, sondern reicht bis ins 19. | |
Jahrhundert zurück, als das Land gegründet wurde. Erst 1981 wurde die | |
italienische Polizei reformiert: Hatte sie bis dahin eine repressive | |
Funktion, sollte sie danach den Bürgerinnen und Bürgern dienen. Zumindest | |
in der Theorie. Denn die Praxis zeigt, dass der Autoritarismus immer noch | |
stark verwurzelt ist. | |
Einige Beispiele: Das gewaltsame Vorgehen von Ordnungs- und | |
Sicherheitskräften beim G8-Gipfel in Genua im Jahr 2001 ist noch immer ein | |
Schreckgespenst, das schmerzhafte Erinnerungen wachruft. Der Tod des | |
18-jährigen Federico Aldrovandi, der 2005 bei einer Polizeikontrolle | |
verprügelt wurde, und des 31-jährigen Stefano Cucchi, der 2009 in | |
Polizeigewahrsam wüst zusammengeschlagen und nicht medizinisch versorgt | |
wurde, belegen, dass die Gewalt nicht nur ausgeübt, sondern vom | |
Staatsapparat systematisch verschwiegen und geleugnet wird. | |
Misshandlungen von Gefangenen, wie in Santa Maria Capua Vetere bei Neapel, | |
wo 2020 viele Häftlinge stundenlang gefoltert wurden, sind keine | |
Einzelfälle. [2][Das Video einer transgeschlechtlichen Frau], die im | |
vergangenen Jahr von drei Polizisten brutal zusammengeschlagen wurde, ist | |
zum Politikum geworden. Vor allem Migranten, Obdachlose und queere Menschen | |
werden von der Polizei angegriffen oder gedemütigt. | |
## Schlagstöcke treffen Gymnasialkinder | |
Diesmal war es anders: Die Schlagstöcke in Pisa trafen keine „Außenseiter�… | |
sondern Gymnasiastinnen und Gymnasiasten, die bekanntlich eine größere | |
Lobby haben als Migranten und Inhaftierte. Eltern und Lehrkräfte meldeten | |
sich zu Wort und kritisierten den Vorfall. | |
Selbst Staatspräsident Sergio Mattarella, der sich in der Regel nicht zu | |
Tagesereignissen äußert, erklärte in einer schriftlichen Stellungnahme, | |
dass die Autorität der Sicherheitskräfte „nicht an Schlagstöcken gemessen | |
wird“, sondern an der Fähigkeit, die Sicherheit zu gewährleisten und die | |
Freiheit der öffentlichen Meinungsäußerung zu schützen. Dann fügte er | |
hinzu: „Schlagstöcke gegen Jugendliche einzusetzen, ist Zeichen eines | |
Versagens.“ | |
Nach den Äußerungen des Staatschefs erreichte der Vorfall in Pisa eine neue | |
Dimension. Doch so sehr seine Reaktion von der Opposition begrüßt wurde, so | |
lange ließ eine Stellungnahme der postfaschistischen Premierministerin | |
Giorgia Meloni auf sich warten. Von den Journalisten befragt, räumte Meloni | |
schließlich ein, es habe wohl „einige Fehler“ gegeben, aber „in den meis… | |
Fällen“ seien es die Sicherheitskräfte, die angegriffen würden. Die | |
Premierministerin sagte auch, es sei „gefährlich“, wenn die Institutionen | |
den Sicherheitskräften ihre Unterstützung entzögen. Sie präzisierte nicht, | |
wen sie mit „Institutionen“ meinte, die Antwort liegt aber auf der Hand: | |
Sergio Mattarella. | |
Der stellvertretende Ministerpräsident und Lega-Chef Matteo Salvini sagte, | |
die Polizisten seien keine Roboter, sie dürften auch mal Fehler machen. | |
Dann fügte er hinzu: „Hände weg von unseren Polizeikräften.“ Deutlicher | |
geht es nicht. | |
## Bedingungslose Solidarität | |
Zu behaupten, die Polizeigewalt sei eine Besonderheit der Meloni-Regierung, | |
wäre falsch. Selbst die Mitte-links-Regierungen der letzten Jahrzehnte | |
haben dem Thema keine Priorität eingeräumt – nicht zuletzt, weil sich die | |
Gewalt vor allem gegen die ohnehin Schwächsten der Gesellschaft richtete | |
und von der breiten Öffentlichkeit nicht als ernsthaftes Problem | |
wahrgenommen wurde. | |
Nun aber fühlen sich die gewaltbereiten und ideologisch orientierten | |
Polizeieinheiten durch die Regierungsparteien legitimiert. Für die | |
Eskalation bedarf es nicht mal eines direkten Befehls „von oben“. Denn bei | |
Fratelli d’Italia, Lega und Forza Italia ist die bedingungslose Solidarität | |
mit den Sicherheits- und Ordnungskräften reflexhaft, auch wenn gravierende | |
Fehler und Gewalttaten begangen werden. Das ist extrem gefährlich. | |
Ein weiteres Problem ist die mangelnde Transparenz und der ausgeprägte | |
Korpsgeist. Selbst in den offensichtlichsten Fällen wie Aldrovandi und | |
Cucchi wurden die Agenten geschützt, Falschinformationen verbreitet und die | |
Ermittlungen in eine falsche Richtung gelenkt. Die Polizeikollegen und | |
viele Staatsanwälte unterstützten mehr oder weniger explizit die Täter und | |
zeigten wenig Empathie für die Familien der Opfer. | |
## Kein Wille zur Veränderung | |
Ilaria Cucchi, die Schwester des ermordeten Stefano Cucchi, die für ihren | |
Bruder kämpfte und heute im Senat sitzt, sagte, ihre Familie sei jahrelang | |
allein gelassen worden. In den vergangenen Jahren sind alle Versuche, eine | |
Diskussion über notwendige Reformen bei der Polizei in Gang zu bringen, | |
kaum vorangekommen oder abgebrochen worden. Eine Studie über Einstellungen, | |
Gewalt und Kontrollpraktiken der Polizei steht nicht mal zur Debatte. 2017 | |
wurde der Straftatbestand der Folter eingeführt, Melonis Partei Fratelli | |
d’Italia will ihn aber wieder abschaffen. | |
Die italienische Journalistin Annalisa Camilli von der Wochenzeitung | |
Internazionale spricht [3][in einem Artikel von einer verbreiteten „Kultur | |
der Gewalt“] innerhalb der Ordnungs- und Sicherheitskräfte. Dass Mattarella | |
den Einsatz von Schlagstöcken verurteilt und die in der Verfassung | |
festgelegten Prinzipien bekräftigt, sei ermutigend, betont sie. Im Juni | |
wird der G7-Gipfel in Italien stattfinden. Man kann nur hoffen, dass der | |
Präsident dann höchstpersönlich dafür sorgt, dass sich die Gewalttaten von | |
Genua nicht wiederholen. | |
18 Mar 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.ilmessaggero.it/video/cronaca/pisa_manifestanti_pro_palestina_c… | |
[2] https://www.queer.de/detail.php?article_id=45726 | |
[3] https://www.internazionale.it/opinione/annalisa-camilli/2024/02/27/pisa-car… | |
## AUTOREN | |
Francesca Polistina | |
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