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# taz.de -- Redefreiheit für Chines*innen: Die Rückeroberung der Worte
> Was tun, wenn Zensur sich ins Denken einschleicht? In Berlin treffen sich
> junge Leute aus China und Taiwan, um im Gespräch Grenzen zu überwinden.
Bild: Erinnerung in London an die Niederschlagung der Demokratie-Proteste 1989 …
An einem Samstagabend im Januar sitzen 18 Personen in einem kalt
beleuchteten Raum in Berlin. Fast alle stammen aus China oder Taiwan. Über
vier Stunden haben sie schon diskutiert, jetzt hält ein Student vom
chinesischen Festland einen Zettel in der Hand. Darauf ist mit blauem
Kugelschreiber eine Frage notiert, auf Chinesisch: Ist Taiwan Chinas
Zukunft?
Der Student seufzt. „Um ehrlich zu sein – ich hoffe wirklich, dass Taiwan
die Zukunft Chinas ist. Dass wir ein System haben könnten, das dem dortigen
ähnlich ist“, setzt er an. Die letzten Stunden hat er kaum etwas gesagt.
„Ich mache mir oft solche Sorgen, dass mein Verhalten das Leben und die
Jobs meiner Eltern negativ beeinflussen könnte. Ich war so lange nicht mehr
zu Hause. Am Telefon können wir uns immer nur fragen: Wie spät ist es bei
dir? Was habt ihr gerade gemacht? Was habt ihr gegessen? Aber die richtigen
Fragen, die stellen wir nicht.“ Er schluckt und fixiert einen Punkt auf dem
Boden. „Dafür gibt es keine Lösung.“
Es ist zu diesem Zeitpunkt nur wenige Wochen her, als im November 2022
Menschen in ganz China [1][weißes Papier in die Luft streckten]. Papier,
auf dem nichts geschrieben stand, aber das dennoch eine Kraft entfaltete,
von der sich Zehntausende im Land anstecken ließen. Es waren die ersten
landesweiten Proteste seit 1989, in denen viele Chines*innen ihre Wut
äußerten – über die Null-Covid-Politik der Staatsführung, über die immer
stärkere Zensur, über ein Leben, das sich nach Monaten harter Lockdowns
nicht einmal mehr dann frei anfühlte, wenn man versuchte, so unpolitisch
wie möglich zu sein.
Mittlerweile ist es wieder stiller geworden, über die Proteste und ihre
Nachwirkungen wird kaum noch berichtet. Doch ein Eindruck bleibt: China ist
vielen zu eng geworden, und das nicht erst seit der Coronapandemie. Das
unbeschriebene Blatt Papier wurde zum Symbol für diesen Zustand: So viel
sagen wollen und doch nichts sagen können.
## Man könnte alles sagen, es sei denn, ein Regime fürchtet deine Worte
Das ist eigentlich ein Paradox. Wer eine Sprache hat – bestehe sie aus
Buchstaben, Schriftzeichen oder Gebärden –, kann sprechen, also die eigenen
Gedanken und Gefühle mitteilen.
Chinesisch ist außerdem eine große Sprache: Mit rund 900 Millionen
Sprecher*innen ist sie die meistgesprochene Muttersprache der Welt, die
dicksten Wörterbücher führen um die 70.000 Zeichen und selbst die 3.000 bis
6.000 Zeichen, die man durchschnittlich im chinesischsprachigen Alltag
benötigt um daraus Wörter und Sätze zu bilden, klingen noch nach einer
Menge Möglichkeiten. Man könnte also alles sagen. Es sei denn, ein Regime
fürchtet deine Worte. Und schüchtert dich ein, schneidet sie dir weg, bis
du irgendwann selbst Angst vor ihnen hast.
Um die Personen zu schützen, von denen dieser Text handelt, haben wir sie
anonymisiert. Dabei tun sie weder etwas Geheimes noch leben sie im Exil
oder sind Aktivist*innen oder gar Dissident*innen. Sie wollen einfach
nur reden. Doch gerade weil sie mit China verbunden sind und es bleiben
wollen, sind sie besorgt, was ihre Worte für Konsequenzen haben könnten.
In den vergangenen Jahren ist es schwer geworden, über China zu berichten,
besonders wenn es darum geht, den Alltag und die Gedanken der Bevölkerung
abzubilden. Journalist*innen finden kaum noch Chines*innen, die sich
trauen, ihre Geschichten zu teilen – selbst dann, wenn sie politisch nicht
besonders heikel erscheinen, und selbst dann, wenn sie im Ausland leben.
## Fähigkeit verloren, sich auszudrücken
Die chinesische Autorin Lin Mengyin schrieb dazu im Februar 2023 in der New
York Times einen Gastbeitrag mit dem Titel [2][„My Chinese Generation is
Losing the Ability to Express Itself“.] Darin erzählt die 31-Jährige, wie
Chines*innen in ihrem Alter nach Jahren der immer härteren Zensur und
eingeschränkten Meinungsfreiheit die Fähigkeit verlieren, sich
auszudrücken.
Während der Proteste gegen die Null-Covid-Maßnahmen der Regierung im
vergangenen November war Lin nicht nur berührt und erstaunt, größtenteils
junge Demonstrierende in zahlreichen chinesischen Städten zu sehen, die
offen gegen die Linie der Kommunistische Partei protestierten. Sie hat auch
ganz deutlich gespürt, wie stark Zensur und Propaganda sich bereits in
öffentliche Diskurse eingeschrieben hatten – und in das private Denken und
Sprechen der Einzelnen.
Das weiße Papier, das zu einem Symbol der Proteste wurde, sei ein kluger
Weg, um Verfolgung durch die Behörden möglichst zu vermeiden, schreibt Lin.
Es sei aber auch ein plakatives Abbild der wachsenden kollektiven
Sprachlosigkeit. Denn auch Widerstand zeige sich in Sprache, in den
Begriffen und Wörtern, die wir nutzen.
Die Entstehung einer resistance language, also einer Widerstandssprache,
habe die Kommunistische Partei in China aber besonders seit der
niedergeschlagenen Demokratiebewegung von 1989 extrem erfolgreich
verhindert. Folglich stellt sich für sie eine Frage: Wenn Sprache unser
Denken formt, und die meisten Menschen in ihrer Muttersprache denken – wie
soll sich in China ohne entsprechendes Vokabular politischer Widerstand
entwickeln?
„Es gibt natürlich chinesische Wörter für Demokratie und Meinungsfreiheit.
Und die meisten kennen diese Vokabeln auch. Das Problem ist ein anderes“,
sagt D., als er am frühen Abend in dem kalt beleuchteten Raum Stühle zu
einem Sitzkreis aufstellt. Eine halbe Stunde ist noch Zeit, bis es losgehen
soll mit dem Diskussionsabend über China und Taiwan.
Es ist noch nicht viel los; auch der Student, der später den Zettel mit der
Frage nach Chinas Zukunft in der Hand halten wird, ist noch nicht da.
„Diese Wörter – Demokratie, Meinungsfreiheit – die sind nicht mit Leben
gefüllt“, fährt D. fort und betrachtet die große Spiegelwand, die den Raum
wie ein Tanzstudio wirken lässt. „Wir erleben nicht, was sie bedeuten. Und
wir haben immer mehr Angst, sie auszusprechen“.
## Angst, offen für Homosexualität zu sprechen
D. wurde in den Achtzigern in einem kleinen Dorf in der Nähe von Wuhan in
Zentralchina geboren und lebt seit fast zehn Jahren in Deutschland. Er kam
für ein Studium und die Arbeit, „aber Politik hat auch eine Rolle
gespielt“, fügt D. hinzu. „Deutsche Freunde haben mich scherzhaft
Heiratsflüchtling genannt.“ Mit Ende zwanzig habe er zu Hause immer mehr
Druck verspürt, heiraten und Kinder kriegen zu müssen.
Damals habe er Angst gehabt, offen über seine Homosexualität zu sprechen.
Heute sei das besser. „Viele junge Menschen haben jetzt mehr
Selbstbewusstsein, sie konfrontieren ihre Eltern, outen sich und wehren
sich gegen patriarchale Strukturen. Sie trauen sich, ihr eigenes Leben zu
gestalten. Bei mir hat das gedauert, ich habe meinem Vater einen langen
Brief geschrieben und darin um seine Akzeptanz dafür gebeten, dass ich
keine klassische Familie will. Er hat ganz gut reagiert. Meine Mutter
brauchte etwas länger, aber jetzt ist es auch okay.“
D. redet gern. Man muss nicht lange auf seine Geschichten warten, und am
liebsten würde er sie zusammen mit seinem richtigen Namen in der Zeitung
sehen, sagt er. Noch wichtiger sei ihm aber, den Raum zu schützen, in dem
er und die anderen sich austauschen und vorsichtig formulieren, was ihnen
teils schon sehr lange auf der Zunge liegt.
Die Verfassung der Volksrepublik sichert ihren Bürger*innen Rede- und
Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit und das Recht zu demonstrieren zu.
Tatsächlich werden kritische Äußerungen über die Partei und ihre Führung
allerdings in kürzester Zeit zensiert und Demonstrant*innen haben
Verfolgung und Festnahmen zu fürchten.
Seit [3][Xi Jinping] 2012 zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei
und 2013 zum Staatschef wurde, hat sich diese Situation verschärft. 2018
wurde zum Beispiel eine Richtlinie erlassen, die Internetfirmen dazu
verpflichtet, regelmäßig detaillierte Berichte über Trends abzugeben, die
„mobilisieren“ oder zu „weitreichenden Veränderungen der öffentlichen
Meinung“ führen könnten. Und nach den White-Paper-Protesten im vergangenen
November gab es Berichte darüber, dass Demonstrierende verhaftet und
geschlagen wurden.
## Rückkehrer werden verhört
Ein junger Mann aus Schanghai [4][erklärte gegenüber] der Washington Post,
er habe sich während der Verhöre nicht setzen dürfen und sei im Gefängnis
mit Schlafentzug gefoltert worden. Außerdem habe man ihn und weitere
Festgenommene gezwungen, mit Handschellen in der Hocke zu sitzen, bis sie
am Ende ihrer Kräfte waren. Und sie seien gezwungen worden, politische
Dokumente der Kommunistischen Partei handschriftlich zu kopieren.
Chines*innen in der Diaspora oder solche, die zeitweise im Ausland leben
und später nach China zurückkehren wollen, müssen diese direkten Formen von
Repression weniger fürchten. Trotzdem ist ihre Lage kompliziert. Für die
Kommunistische Partei gehören offiziell alle im Ausland lebenden Chinesen
oder solche mit chinesischen Vorfahren zur „großen chinesischen Familie“ �…
ungeachtet ihrer Staatsbürgerschaft.
Darauf verweist auch eine Ende 2022 veröffentlichte [5][Studie der Stiftung
Wissenschaft und Politik], für die der Sinologe Carsten Schäfer chinesische
Medien im In- und Ausland, politische Reden, Kadertextbücher und offizielle
Bekanntmachungen der Staatsführung zum Thema Diasporapolitik ausgewertet
hat.
## Sie sollen linientreu sein
Schäfer schreibt, dass im Ausland lebende Chines*innen für China eine
zunehmend wichtige Rolle dabei spielen, das nationale Image des Landes zu
stärken. Bei Neujahrsfeierlichkeiten im Jahr 2019 in Berlin betonte
Botschafter Shi Mingde etwa in einer Rede vor chinesischen Studierenden,
dass von ihnen erwartet werde, ein positives Bild Chinas zu vertreten, und
dass sie sich hoffentlich den „leuchtenden Erwartungen Xi Jinpings und
aller Menschen des Mutterlandes nicht als unwürdig erweisen“.
Außerdem werde Opposition auch im Ausland zunehmend als Bedrohung
wahrgenommen und unterdrückt, schreibt Schäfer. So wurden prodemokratische
Hongkong-Chines*innen bei Protesten in Hamburg 2019 gezielt von
regimetreuen Chinesen gefilmt und eingeschüchtert. Und ein chinesischer
Student, der im selben Jahr für kurze Zeit nach China zurückkehrte, wurde
dort zu sechs Monaten Haft verurteilt, weil er zuvor in den USA kritische
Tweets über Xi Jinping veröffentlicht haben soll. Ein drastischer Fall, der
noch nicht die Regel ist, der aber vermittelt: Ihr könntet zu Hause auch
rückwirkend für etwas belangt werden, das im Ausland völlig legal ist.
Was kann man also sagen, aussprechen, wenn man nicht weiß, wo die rote
Linie verläuft, und deshalb ständig um sie herumtänzelt? Wenn man Unrecht
erkennt, aber nicht im Exil lebt und die Verbindungen nach Hause nicht
kappen möchte? Bevor man danebentritt und sich selbst, Freunde oder
Angehörige in Schwierigkeiten bringt, sagen viele lieber gar nichts mehr.
D. will aber reden. Über alles, nicht nur über die großen, politisch
heiklen Themen: Arbeitslosigkeit, Zukunftsangst, Beziehungsmodelle,
demografischer Wandel – was eine Gesellschaft so umtreibt eben. Er sieht
sich nicht als Aktivist, als Idealist schon. Keiner, der einen Umsturz
plant, sondern einfach jemand, der mitgestalten will und an die
Zivilgesellschaft glaubt. „Ich will mit meinem Leben etwas machen, das
Spuren hinterlässt. Auch wenn es erst mal nur Einfluss auf ein paar wenige
Leute hat“, sagt er.
Mitgestalten und sich engagieren, das kann auch einfach bedeuten,
miteinander ins Gespräch zu kommen. Und D. findet wichtig, dass das in
diesem Fall auf Chinesisch passiert. „Manche Leute sagen, dass wir
eigentlich Deutsch reden müssten, wenn wir uns in der Community treffen. Im
Sinne von Integration, und damit andere dabei sein können, die kein
Chinesisch können“, erzählt er. „Aber wie sollen wir über alles, was uns…
sehr beschäftigt, zuerst in einer Fremdsprache reden? Wir müssen vorher
lernen, uns in unserer Muttersprache frei auszudrücken und eine
Diskussionskultur entwickeln. Das ist die Voraussetzung für alles Weitere.“
Er bewegt den Kopf auf und ab, als würde er sich selbst zunicken. „Wir
müssen unsere eigene Sprache zurückerobern.“
An jenem Samstagabend Ende Januar beginnt diese Rückeroberung mit einem
Stuhlkreis. Neben D. wuseln mittlerweile noch andere herum – ein
Kunststudent um die 20 baut ein kleines Buffet mit Fruchtgummi,
Butterkeksen und Tee auf, zwischendurch rückt er das Stirnband zurecht, das
ihm die kinnlangen Haare aus dem Gesicht hält. Weiter hinten in der kleinen
Küche schlagen Gläser und Schälchen aneinander. Und A., die sich gemeldet
hat, um das Gespräch zu moderieren, blättert durch ein paar Notizen.
## Schon die Werbung für das Treffen ist heikel
A. ist Taiwanerin und wie D. seit etwa zehn Jahren in Deutschland. „Es gab
für heute Abend zwei Einladungen“, erklärt sie, eine wurde auf der
chinesischen Social-Media-Plattform WeChat geteilt, die andere nicht. Der
offizielle Text lädt zu einem chinesisch-taiwanischen Begegnungsabend ein,
vor dem Hintergrund der Neujahrsfeierlichkeiten zum Jahr des Hasen. Der
zweite Text ist konkreter. Er wurde vor allem über Facebook verbreitet.
Darin wird eine Studie von 2020 zitiert, laut der die große Mehrheit der
Taiwaner*innen Festlandchina nicht als Freund ansieht, über alle
Altersgruppen hinweg, aber ganz besonders in der Gruppe der 18- bis
34-Jährigen. Er verweist außerdem auf die Proteste gegen die
Null-Covid-Politik auf dem Festland und auf den Angriffskrieg Russlands
gegen die Ukraine. Und dann steht da noch: „Ganz egal woher du kommst,
wollen wir einen sicheren Raum anbieten, wo wir frei reden und uns zuhören
können.“ Dass der Raum wirklich ganz sicher ist, kann niemand garantieren.
Das Treffen ist nicht geheim. Die Anwesenden mussten im Vorfeld lediglich
ein Anmeldeformular ausfüllen, das abfragt, warum sie das Thema
interessiert und weshalb sie teilnehmen möchten.
„Okay, ich erkläre mal kurz den Ablauf“, sagt A., nachdem eine halbe Stunde
später alle im Stuhlkreis Platz genommen haben. Die meisten stammen vom
chinesischen Festland und sind zum Studieren in Deutschland. Einige kennen
sich von anderen Veranstaltungen der chinesischen oder taiwanischen
Community in Berlin. Die meisten dieser Events sind weniger politisch als
der heutige Gesprächsabend. „Manchmal backen wir zusammen“, erzählt D.,
„oder wir gehen wandern oder schauen Filme.“
Ein junger Mann ist für den heutigen Abend extra aus Leipzig angereist.
Neben A. sitzt noch eine junge Frau aus Taiwan. „Wir haben eine kurze
Vorstellungsrunde geplant, da könnt ihr erzählen, warum euch dieser Abend
interessiert und wieso ihr gekommen seid. Und dann habe ich ein paar Fragen
zum Thema des Abends auf Zettel geschrieben. Jeder kann einen ziehen, dazu
Gedanken teilen und dann diskutieren wir gemeinsam darüber“.
Es geht förmlich los. Reihum werden Namen und mal mehr, mal weniger
biografische Details aufgezählt. Aber es drängt die meisten nach dem
tieferen Gespräch.
## Lieber live miteinander reden als im Netz
„Ich glaube, online begegnet man anderen Menschen oft nicht richtig. Da
wachsen Vorurteile. Als ich mal eine echte Begegnung mit einer Taiwanerin
hatte, hat das gar nicht zu dem gepasst, was ich durch das Internet
erwartet hätte“, sagt eine.
„Vielleicht passt der Vergleich nicht ganz. Aber in letzter Zeit frage ich
mich manchmal, ob Taiwaner so ähnlich über Chinesen denken wie Ukrainer
über Russen“, sagt einer.
„Ich habe mal mit einem Taiwaner in einer WG in Berlin gewohnt, und es hat
sechs Monate gedauert, bis wir angefangen haben, uns auf Chinesisch zu
unterhalten. Dabei ist das unsere gemeinsame Muttersprache. Vorher haben
wir nur Englisch gesprochen“, erzählt die Nächste.
Und fast alle nicken, als einer sagt, dass er neugierig auf diesen Abend
ist, weil es solche Orte des Austauschs sonst einfach nicht gibt.
Für Austausch ist das Internet eigentlich ein guter Ort. In
Sekundenschnelle kann dort Kontakt zu Menschen auf der ganzen Welt
aufgebaut werden. Wer Zugang zum Internet hat, kann eigene Räume schaffen,
oft einfacher und weniger bürokratisch als im Analogen.
## Diktatur und Zensur gehen Hand in Hand
Für Festlandchines*innen gilt das allerdings nur mit Einschränkungen.
Zensur ist ein wesentliches Werkzeug autoritärer Regime. Wessen Macht nicht
mehrheitlich legitimiert wurde, der braucht besonders rigide Formen der
Imagepflege, und dazu zählt die Kontrolle über das Gesagte. Und China hat
mittlerweile den vielleicht effektivsten Zensurapparat der Welt aufgebaut,
um ausländische Webseiten und Social-Media-Plattformen zu blockieren und
kritische Äußerungen oder unliebsame Formulierungen über die Staatsführung
und politische Themen innerhalb kürzester Zeit verschwinden zu lassen.
Das klappt allerdings nicht immer reibungslos. Manchmal entstehen
Freiräume, wenn Nutzer*innen zum Beispiel bestimmte Emojis oder
Stellvertreterbegriffe für zensierte Wörter nutzen. Wie bei der
[6][chinesischen Metoo-Debatte], die von den Menschen mit einer Reisschale
(Reis wird im Chinesischen mí ausgesprochen), gefolgt von dem Hasen-Emoji
(Hase spricht sich tú) beschrieben wurde. Staatschef Xi wurde zeitweise
durch ein Bärenemoji dargestellt, in Anlehnung an Winnie Pooh, der an
seinem Honigtopf – also an seiner Macht – klebt. Und auch neue Plattformen
laufen manchmal zunächst unter dem Radar der Zensoren.
Zuletzt war das im Februar 2021 so, als die Audio-App Clubhouse großen
Zulauf fand. Clubhouse ist ein soziales Netzwerk, das nicht auf
geschriebenen, sondern auf gesprochenen Austausch setzt. In digitalen
Räumen können Nutzer*innen miteinander diskutieren, ein Konzept, das
während der Pandemie kurzzeitig auf großes Interesse stieß. In Deutschland
plauderten da zwischenzeitlich sogar Spitzenpolitiker*innen ganz
öffentlich mit.
## China verbietet Austauschplattformen im Netz
Viele chinesischsprachige Menschen auf der ganzen Welt nutzten die
Plattform, um anonym miteinander zu sprechen, auch über sensible Themen.
Zeitweise tauschten sich Han-Chines*innen, Uigur*innen, Taiwaner*innen,
Hongkonger*innen und Leute aus der chinesischen Diaspora aus, und viele
Tausende hörten dabei zu. Für Chinas Führung war das bedrohlich.
„Wenn man ein Fenster öffnet, kommen auch ein paar Fliegen herein“, sagte
schon Deng Xiaoping, der China nach Mao reformierte und öffnete. Clubhouse
schaffte letztlich nicht mehr als ein paar wenige Tage Redefreiheit, bis
die App am 8. Februar 2021 auf dem chinesischen Festland gesperrt wurde.
Als die Nachricht über die drohende Zensur die Runde machte, wurden
Teilnehmende aus der Volksrepublik auf vielen Rednerlisten vorgelassen. Als
sprächen sie ihre letzten Worte.
Im Stuhlkreis zieht die Taiwanerin neben A. den ersten Zettel aus einem
leeren weißen Blumentopf. Die Fragen konnten die Teilnehmenden bei ihrer
Anmeldung für den Abend selbst einreichen. „War es falsch, [7][dass Nancy
Pelosi Taiwan besucht hat]?“, liest sie vor und schmunzelt. „Da war vor
allem international die Aufregung groß. Aber bei uns sind die meisten an
die Situation mit China gewöhnt.“
„Ja, viele Deutsche haben mich nach dem Pelosi-Besuch gefragt, ob es meiner
Familie gut geht. Ich habe geantwortet, dass bei uns alles wie sonst auch
ist. Meine Mutter kauft wie immer Sojamilch“, fügt A. hinzu. Dann erzählt
sie, dass sie schon als Kind von ihren Großeltern vor China gewarnt worden
sei. Und dass die Anspannung in ihrem Bekanntenkreis beim Besuch der
Sprecherin des US-Repräsentantenhauses Nancy Pelosi im August 2022 deshalb
auch nicht schlimmer war als sonst. „Taiwaner*innen werden immer denken,
dass China eine Gefahr ist. Aber diese Gefahr ist wie Corona, die ist eben
immer da“, sagt A., und die Runde lacht ein bisschen.
Der Topf mit den Zetteln wandert weiter. Nicht immer bleiben alle bei den
notierten Fragen, dafür ist das Redebedürfnis zu groß. Eine Mutter
berichtet, dass in der Kita ihres Kindes noch immer das rassistische Lied
von den Chinesen mit dem Kontrabass gesungen wird. Das hat zwar nichts mit
China und Taiwan zu tun, aber führt zu Solidarität und gemeinsamem
Kopfschütteln. Ein paar Minuten später drückt ein Mann vom Festland seine
Bewunderung für die Gleichstellungspolitik in Taiwan aus, die als eine der
progressivsten in ganz Asien gilt. Dann geht es um taiwanische Filme, die
alle hier sehr lieben. Und es dauert nicht lange, dann steht die Sache mit
der Meinungsfreiheit im Raum.
## Sprechen erfordert Mut
„Vor zehn Jahren haben noch mehr Leute online diskutiert. Das ist viel
weniger geworden, normale Leute haben jetzt kaum noch Orte, wo sie sich
austauschen können.“
„Ich habe einen Freund, der mir ganz klar sagt, dass er für die
Unabhängigkeit Taiwans ist. Aber ins Netz würde der das niemals schreiben,
aus Angst, seinen Job zu verlieren.“
„Ja. Was die Leute ins Internet schreiben entspricht nicht unbedingt dem,
was die Mehrheit der Chinesen und Chinesinnen denkt.“
„Daran merkt man doch auch – wir können von hier aus gar nicht die Leute in
China repräsentieren, das ist eine ganz andere Situation. Was soll man
machen, wenn man keinen freien Zugang zu Informationen hat? Die stehen
unter ganz anderem Druck.“
## Taiwan ist nicht Chinas Sohn
Alle nicken. Sowieso gibt es wenig Widerspruch, es klingt, als seien die
meisten Gäste sich politisch relativ einig. Einmal wackelt die Einigkeit
etwas, als eine Chinesin mit kurzen Haaren und Brille Taiwan als „Chinas
Sohn“ bezeichnet, der sich natürlich emanzipieren kann, aber immer ein Sohn
bleiben wird. Eine klassische Propagandaerzählung der KP, das Mutterland
und seine Kinder. Klingt nach Nationalismus. Da kneifen ein paar Leute die
Augen zusammen und der junge Mann mit dem Stirnband gibt schließlich
bestimmt, aber diplomatisch Kontra: „Du weißt, ein Kind kann auch eine
Tochter sein.“ Mehr sagt er nicht. Dann bleibt das Thema liegen.
Dicke Luft ist trotzdem nicht, man lässt einander ausreden, fragt nach,
hört zu. Vielleicht weil es an diesem Abend nicht darum geht, sich im
Streiten zu üben, sondern im Mutig-Sein und darin, eigene Gedanken
auszusprechen.
Nach vier Stunden wird die Gruppe gerade erst richtig warm. Der Student,
der extra aus Leipzig angereist ist, meldet sich. Er habe eine Frage, bei
der er nicht genau wisse, mit wem er die besprechen kann. „Ich habe einen
Kommilitonen aus Xinjiang und der mag es nicht, wenn ich seine Minderheit
weiwuer’zu nenne. Er will Uigure genannt werden. Aber ich verstehe nicht,
warum das überhaupt wichtig ist?“
„Also, ich kann dazu was sagen“, sagt eine Frau mit hüftlangen Haaren, die
bisher nur in der Vorstellungsrunde gesprochen hat. „Ich bin nämlich aus
Xinjiang. Diese Sache mit den Begriffen ist eine lange Geschichte, aber es
hat viel mit Selbstbestimmung zu tun. Uigure ist eine Selbstbezeichnung,
weiwuer’zu ist ein Name, den die Han-Chinesen für die Minderheit benutzen.“
Viele in der Runde formen die Münder zu einem O und nicken, als hätten sie
gerade etwas Neues gelernt. D. richtet sich auf seinem Stuhl auf und schaut
die Frau aus Xinjiang freundlich an. „Das ist toll, über Xinjiang könnten
wir hier doch auch mal reden. Vielleicht hast du ja mal Lust?“ Er klingt
sehr motiviert. Sie lächelt.
Und dann ist es fast Mitternacht, als der Student vom Festland die Frage
auf seinem Zettel vorliest: Ist Taiwan Chinas Zukunft? Als er sich wünscht,
dass es in China ein ähnliches System wie in Taiwan geben könnte. Als er
von den Telefonaten mit seinen Eltern berichtet, bei denen das Eigentliche
unausgesprochen bleibt. Als er mehr zu sich selbst als zu den anderen sagt:
„Dafür gibt es keine Lösung.“
## Demokratie hat auch mit Individuum zu tun
Niemand entgegnet mehr etwas auf diesen Satz. Mag sein, dass alle etwas
müde sind. Oder es geht vielen ähnlich und es fällt ihnen schwer, in dieser
Hinsicht optimistisch zu sein. Fünf Stunden haben sie diskutiert, erzählt,
zugehört. Eigentlich stand noch freier Austausch auf dem Plan, aber die
Fragerunde hat länger gedauert als gedacht. Die meisten bleiben trotzdem
noch hier, stehen auf, strecken sich und stehen dann in kleinen Grüppchen
zusammen. Es gibt noch so viel zu besprechen.
Für D. war die Veranstaltung ein Erfolg. Sie hat bei ihm ein besonderes
Gefühl hinterlassen – nicht nur weil er persönlich so gern etwas tun will,
das einen Unterschied macht. „Das war toll, sehr beeindruckend“, sagt er,
„es zeigt auch, dass viele von uns Chinesen sehr unabhängig und kritisch
denken können. Wir sind nicht alle brainwashed oder so. Aber es ist eben
nicht einfach.“
Ob er Hoffnung hat, nach so einem Abend, was Chinas Zukunft betrifft? D.
denkt nach. Leicht zu beantworten sei das nicht. „Aber Demokratie hat auch
mit dem Individuum zu tun. Und die Menschen schreiben ihre Geschichte immer
noch selbst.“
12 Jun 2023
## LINKS
[1] /Neue-Protestbewegung-in-China/!5897233
[2] https://www.nytimes.com/2023/02/10/opinion/china-politics-language.html
[3] /Autokraten-wie-Xi-Putin-oder-Trump/!5921305
[4] https://www.washingtonpost.com/world/2023/01/04/china-surveillance-protests…
[5] https://www.swp-berlin.org/en/publication/chinas-diaspora-policy-under-xi-j…
[6] /MeToo-in-China/!5484678
[7] /Nancy-Pelosi-in-Taiwan/!5867909
## AUTOREN
Monja Zhao
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