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# taz.de -- Jahrestag des Tiananmen-Massakers: Chinas erzwungene Amnesie
> 34 Jahre nach der Niederschlagung der Massenproteste darf auch in
> Hongkong nicht mehr daran erinnert werden. In Peking ist das Vergessen
> längst perfekt.
Bild: Großmutter Wong mit einem Strauß roter Lilien kurz vor ihrer Verhaftung…
Peking taz | Ehe die Dunkelheit anbrach, hatte die Hongkonger Polizei
bereits Dutzende Bürgerinnen und Bürger abgeführt. Dabei hatten sich diese
keines anderen „Verbrechens“ schuldig gemacht, als friedlich zu gedenken:
Die 67-jährige „Großmutter Wong“, eine stadtbekannte Aktivistin, lief mit
einem symbolischen Blumenstrauß durch die Innenstadt. Ein anonymer Mann in
schwarzer Kleidung hielt ein pekingkritisches Buch in die Luft. Eine ältere
Frau führte ein kleines Bild bei sich, auf dem die chinesischen
Schriftzeichen für „Gewissen“ prangten.
Sie alle wurden von den Behörden in Gewahrsam genommen. Denn sie erinnerten
an die historische Schuld, die die Kommunistische Partei Chinas (KP) vor 34
Jahren auf sich lud: Damals gab sie den Schießbefehl auf die
Studentenbewegung vom Pekinger Tiananmenplatz, wo sich über 100.000
Menschen für mehr Mitbestimmung und gegen Korruption einsetzten. Hunderte
kamen durch die Schüsse der Volksbefreiungsarmee ums Leben, möglicherweise
gar mehrere Tausend.
Bis heute hat die chinesische Regierung eine Aufarbeitung der Ereignisse
unmöglich gemacht. Doch während die KP in Festlandchina die Erinnerungen
mit Zensur und Staatsgewalt aus dem kollektiven Gedächtnis löschte, konnte
[1][zumindest in Hongkong noch an die Tragödie erinnert werden]. Jährlich
zogen Zehntausende Bürgerinnen und Bürger in den Victoriapark zum stillen
Kerzenmarsch.
An diesem Sonntag jedoch haben Pro-Peking-Organisationen den Ort des
Erinnerns zurückerobert: Unter dem Schutz Hunderter Sicherheitskräfte
veranstalteten sie eine Mischung aus folkloristischem Markt und
Karnevalsfest. Wo früher der Toten von Tiananmen gedacht wurde, wehen nun
die roten Flaggen Chinas.
## Ein Post der deutschen Botschaft wird sofort gelöscht
Denn seit Peking im Sommer 2020 Hongkong ein [2][nationales
Sicherheitsgesetz] aufzwang, steht auch dort das bloße Erinnern unter
Strafe. Ausnahmen gibt es keine: Selbst die katholische Erzdiözese
Hongkongs versicherte bereits letzte Woche, dass sie ihren alljährlichen
Gedenkgottesdienst nicht mehr abhalten wird.
Für die Hinterbliebenen bedeutet dies ein Leben im Schatten. „Obwohl 34
Jahre vergangen sind, quält uns bis heute der Schmerz, unsere
Familienangehörigen in dieser Nacht verloren zu haben“, richtete die Gruppe
der Tiananmen-Mütter in einer Stellungnahme aus.
In China selbst hat es die blutige Niederschlagung der Pekinger
Studentenbewegung niemals gegeben. Es finden sich keine Nachrichten dazu,
keine Einträge in Online-Enzyklopädien und auch keine Beiträge in den
sozialen Medien. Selbst ein Beitrag der deutschen Botschaft auf der
Onlineplattform Weibo, der lediglich eine brennende Kerze zeigte, wurde
Minuten nach Erscheinen gelöscht.
Wer den historischen Ort des Geschehens besucht, muss mehrere
Polizeicheckpoints und Passkontrollen passieren. Am Sonntagmittag haben
sich ein paar Dutzend Touristen auf dem Tiananmenplatz eingefunden,
vorwiegend um Selfies zu schießen. Viele von ihnen sind im Studentenalter
und waren noch nicht einmal geboren, als die Panzer 1989 in die Pekinger
Innenstadt einrückten. Wahrscheinlich haben sie keine Ahnung, was sich hier
vor 34 Jahren zugetragen hat.
## Selbst die Staatsmedien standen damals hinter dem Protest
Nur einen Steinwurf entfernt präsentiert die kommunistische Partei ihre
offizielle Geschichtsschreibung. Im staatlichen Militärmuseum, einer von
Pekings zehn Prachtbauten aus den 1950er Jahren, werden die Besucher von
einer überlebensgroßen Maostatue begrüßt. Kritische Zwischentöne sucht man
hier natürlich vergebens: Dass die Soldaten des [3][chinesischen Militärs]
ihre Gewehre vor 34 Jahren auf das eigene Volk richteten, wird mit keiner
Silbe erwähnt.
Dabei standen damals selbst die Staatsmedien hinter den jungen Menschen vom
Tiananmenplatz. „Die tief empfundenen patriotischen Forderungen der
Studenten sind berechtigt und wir hoffen, dass die Zentralregierung so
schnell wie möglich darauf eingeht“, schrieb etwa das Parteiorgan Renmin
Ribao (Volkszeitung).
Über drei Dekaden später versucht die Parteiführung, die Worte des
chinesischen Schriftstellers Lu Xun, 1936 in Schanghai gestorben, zu
widerlegen: „Lügen, mit Tinte geschrieben, können niemals die Fakten
verschleiern, die mit Blut geschrieben wurden.“
5 Jun 2023
## LINKS
[1] /Demonstrationsverbot-in-Hongkong/!5858911
[2] /Pressefreiheit-in-Hongkong/!5845239
[3] /China-und-Russland/!5934481
## AUTOREN
Fabian Kretschmer
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