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# taz.de -- Lebenmittel retten: Das ist noch gut!
> Unsere Autorin möchte nicht, dass Essen weggeworfen wird. Doch wie rettet
> man es am besten? Und was sind „Containern“, „Bändern“ und „Foodsh…
Bild: Jackpot: Neben Lebensmitteln finden sich in Supermarkt-Tonnen oft auch fr…
Die Verkäuferin winkt uns herein, zu viert betreten wir an einem Abend im
April die Bäckerei in Berlin-Wedding. Hinter der Theke stehen acht
Mülltüten, die bis oben gefüllt sind: Gebäck, belegte Brötchen, Simits und
Börek. Ich starre auf die Tüten. Keine Chance, dass ich die mit nach Hause
kriege, geht mir durch den Kopf. Und: Krass, all das würde sonst
weggeworfen werden. Acht gigantische Müllsäcke, und das in einer einzigen
Bäckerei.
Es ist nach Ladenschluss, draußen dämmert es bereits. Wir dürfen hier
abholen, was vom Tag übrig ist – Weil wir [1][bei „Foodsharing“] mitmach…
[2][einer von vielen Plattformen], die sich gegen die Verschwendung von
Lebensmitteln engagieren. Die Initiative entstand 2012 in Deutschland und
weitete sich schnell auch auf Österreich aus. Der Fokus liegt auf der
Rettung von gewerblichen Lebensmitteln, aber auch privat unverbrauchtes
Essen soll verteilt werden. Abgeholt wird immer im Team, weil eine Person
allein es meist gar nicht schaffen würde, so viel ist übrig. Aber selbst zu
viert finde ich den Berg an Backwaren schwer zu bewältigen.
Schon als Kind ärgerte es mich, wenn Essen weggeworfen wurde. Etwa, wenn
ich mal wieder im Süßigkeitenfach in der Küche stöberte und die Reiskuchen,
die wir nur ab und zu und mit Genuss verspeisen sollten, seit drei Monaten
abgelaufen waren. Dann tobte ich. Eines Tages verschlang ich zusammen mit
einem Freund fünf japanische Brötchen mit Rote-Bohnen-Füllung, die alle
noch am selben Tag das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten hätten. Da
tobte meine Mutter.
Sie erklärte mir, dass viele Lebensmittel auch am nächsten Tag noch essbar
seien, und dass eine Datumsüberschreitung nicht immer ein Drama ist.
Trotzdem sollte ich noch einige Zeit und viele Selbstversuche brauchen, bis
ich mit dem Essen retten und seinen vielen Varianten warm würde.
## Couchsurfer, der sich durch die Welt schnorrte
Meine erste Begegnung mit einem Lebensmittelretter etwa hinterließ keinen
guten Eindruck. Als Studentin in Berlin hatte ich 2014 einmal [3][einen
Couchsurfer zu Gast]. Anstatt den kulturellen Austausch zu suchen, schien
er sich vor allem durch die Welt zu schnorren: als Dank für die kostenlose
Übernachtung ging er zur nächsten Bäckerei, die Foodsharing betrieb, und
stopfte ohne Absprache unser WG-Tiefkühlfach mit Backwaren voll – sehr zum
Ärger meines Mitbewohners, dessen Pizza nun keinen Platz mehr darin fand.
Da niemand die mit Pudding gefüllten Gebäcke essen wollte, landeten sie
irgendwann doch in der Tonne. Und für mich hatte Foodsharing nun erstmal
ein Schnorrer-Image.
Vier Jahre später, ich studierte inzwischen in Halle, erzählte mir mein
Mitbewohner von der App „Too Good To Go“, mit der man nach Ladenschluss
günstig an übriggebliebenes Essen aus Restaurants kommt. Im nächsten Urlaub
in Italien probierte ich die App aus, aber das Ergebnis war fatal: nicht
nur gab ich für die merkwürdigsten Speisen Geld aus; manches davon roch und
schmeckte bereits verdorben. Nach vier, fünf Versuchen löschte ich die App
und gönnte mir stattdessen frische Ravioli [4][mit Trüffelsalz].
Im selben Sommer lernte ich in der Mensa einen Studenten kennen, der sich
mit einem halb vollen Teller zu mir und meinen Freund:innen setzte, nach
dem Essen wieder aufstand, um gleich darauf wieder mit einem halbvollen
Teller zurückzukommen. Er erzählte, [5][dass er bändert] – also nicht
leergegessene Teller vom Abstellband der Mensa nimmt.
So bekämpfe er Lebensmittelverschwendung und spare nebenbei Geld. Manche
Student:innen checkten die Idee nicht und bestanden darauf, ihm ein
eigenes Essen zu spendieren. Der Bänderer aber lehnte ab: Es werde so viel
weggeschmissen, dass erst gerettet werden müsse, bevor Neues gekauft werde,
so sein Argument.
## Kalte Karotten und unsichtbare Sekrete
Im Nachhinein kann ich gar nicht erklären, warum ich wenige Wochen später
auch mitmachte. Finanzielle Gründe waren es nicht, denn Mensaessen war
nicht besonders teuer. Auch wollte ich niemanden beeindrucken, und mein
Wille, zur Lebensmittelrettung beizutragen, war ebenfalls nicht ausgeprägt
genug, als dass ich mich mittags nur noch vom Restessen anderer ernähren
wollte. Es war eher die Neugier, ob Bändern wirklich so eklig war, wie ich
es mir vorstellte. Und der Reiz der Mutprobe, über meinen eigenen Schatten
zu springen.
So standen wir also am Abstellband und warteten, bis irgendjemand einen
halbvollen Teller ablegte. Ich griff mir den einer Studentin, mit gekochten
Karotten. Es war alles andere als ein Genuss: Das Essen war bereits kalt
und ich konnte partout nicht aufhören, an die fremden Sekrete zu denken,
die da bestimmt unsichtbar auf dem Essen auf mich warteten. Während der
Bänderer weiter fröhlich seine Runden machte, verging mir nach dem halben
Teller der Appetit.
Der Bänderer tat auch sonst viel für die Rettung von Lebensmitteln.
Mehrmals wöchentlich ging er containern, also in Abfallbehältern von
Supermärkten nach Essen suchen, das noch gut ist. Irgendwann lud er eine
Freundin und mich ein, mitzumachen. Während ich noch zögerte – Essen im
Müll widerte mich genauso an wie Speichel wildfremder Menschen – sagte
meine Freundin zu. Am Abend nach ihrer zweiten Container-Erfahrung
überredete sie mich, mitzukommen.
## Jackpot mit vielen Blumen
Gegen 22 Uhr radelten wir zu Aldi und spähten in die Tonnen. Jackpot! Zu
meiner Überraschung fanden sich dort neben Essen auch jede Menge
Schnittblumen. Ein paar waren verwelkt, aber der Rest waren gesunde, bunte
Sträuße. So wurde Containern zu unserem Hobby, zwei-, dreimal die Woche
stöberten wir im Müll. Wir fanden Topfpflanzen, Plastiksandalen, aber vor
allem viel Gemüse und Obst. Häufig faulte lediglich ein Exemplar in einem
Netz voller genießbarer Früchte.
Trotzdem blieb ich bei containerten Lebensmitteln zögerlich. Das Letzte,
worauf ich Lust hatte, war eine Vergiftung durch eine Mandarine aus der
Tonne. Die Blumen jedoch beglückten meine WG, und oft hatten wir nicht
genug Vasen und Gläser, wie ich Sträuße mit nach Hause brachte.
Ein anderer Bekannter lugte mal nachts in der Tonne vor dem
Kleidungsgeschäft Peek & Cloppenburg und fand darin mehrere neue
Schuhpaare. Und von einem Rettungsbetrieb aus Halle weiß ich, dass
Drogeriemärkte neben Shampoos und Sonnencreme auch Menstruationsartikel
wegwerfen. All diese Dinge faulen nicht, aber sie nehmen zu viel Raum im
Regal weg.
## Bloß nicht dem Betrieb auf die Nerven gehen
Seit einiger Zeit wohne ich wieder in Berlin, und zwei der geretteten
Pflanzen aus Halle sind mit umgezogen. Da die Supermarkttonnen in der
Hauptstadt schwieriger zu erreichen sind, probiere ich seit diesem Frühjahr
eben Foodsharing aus. Und das beginnt im Februar mit einem
Multiple-Choice-Test auf der Webseite der Initiative. Nur wer besteht, darf
beim Foodsharen mitmachen.
Im Test kommen Fragen vor wie diese: Wenn ich im Supermarkt zur Abholung
bin und sehe, dass da abgelaufener Joghurt im Regal steht, wie verhalte ich
mich? Darf ich den kommentarlos mitnehmen, weil das auch zur Rettung
gehört? Das Supermarktpersonal ansprechen und höflich danach fragen?
Ignorieren? Oder mich bei der Supermarktleitung beschweren, dass der
abgelaufene Joghurt nicht in meiner Abholungskiste war? Die korrekte
Antwort lautet: Ignorieren. Nur mache ich mein Häkchen woanders, und das
nicht nur einmal. Am Ende falle ich durch.
Ich lerne, dass es eine Art 80-seitige Foodsharing-Bibel als PDF gibt. Die
lese ich mir durch, mache den Test – und scheitere erneut. Ich lerne, dass
man die Bibel auch während des Tests verwenden darf und endlich, nach
akribischer Sorgfalt beim Häkchen-Setzen, bin ich geprüfte
Foodsharing-Expertin. Hätte ich auch den dritten Anlauf nicht bestanden,
hätte ich erstmal ein halbes Jahr pausieren müssen.
## Wochenlanges Warten, um Essen retten zu können
Der Test dient dazu, dass alle Foodsaver:innen die Regeln genau kennen
und den teilnehmenden Supermarktketten und Bäckereien nicht zur Last
fallen. Das Personal soll nicht unnötig angesprochen werden, mit
Beschwerden soll man sich zurückhalten – nach dem Motto:
Foodsaver:innen dürfen froh sein, überhaupt retten zu können.
Nun bin ich zwar in der Theorie gut gewappnet, doch in der Praxis fängt der
Hindernislauf erst richtig an. Um mich bei einem Betrieb als Abholerin
eintragen zu können, muss ich zunächst bei drei Erstabholungen dabei sein.
Da diese aber – wie alle anderen organisatorischen Aufgaben auch – nur von
Ehrenamtlichen durchgeführt werden, dauert es ewig. Es werden nur sehr
wenige Termine angeboten, und nicht immer passt die Uhrzeit.
Acht Wochen dauert es, bis ich mich endlich für meine zweite Abholung
anmelden kann – die mir prompt abgesagt wird, weil ich in derselben
Bäckerei schon war und die drei Erstabholungen an drei verschiedenen Orten
stattfinden sollen.
## Autoritär reguliert, dabei ist Konzept nicht schlecht
Irgendwann bekomme ich einen Abholtermin auf einem Markt. Doch ohne Ausweis
geben mir die Stände kein Essen. Später entsteht ein Konflikt unter den
anderen Abholerinnen – eine ältere Frau brüllt herum, außer sich vor Wut.
Ich melde ihr Verhalten bei Foodsharing als unangemessen, es wird notiert,
aber anscheinend ohne Konsequenzen.
Auch ein Kollege von mir erzählt von Problemen beim Foodsharing. Als er
einmal bei einer Abholung einem Bedürftigen Essen geben wollte, tauschte er
sich vorher mit dem Betriebspersonal aus. Obwohl dieses damit einverstanden
war, meldeten zwei andere Foodsaver:innen, die auch dabei waren, sein
Verhalten bei Foodsharing, da die Regeln der Plattform vorschreiben, die
Betriebe möglichst in Ruhe zu lassen. Mein Kollege bekam einen Verweis, er
findet: „Das Konzept Foodsharing ist gut, aber es wird sehr autoritär
geregelt.“
Nach meiner Abholung in der Bäckerei in Berlin-Wedding im April ertrinke
ich in Brötchen. Damit stopfe ich meine Tiefkühlfächer voll, so viel, wie
rein passt. Der Rest wandert in die Reisetasche, als Proviant für die
Bahnfahrt in den Urlaub.
Nach zwei belegten Brötchen im Zug ärgere ich mich über mich selbst. Warum
bloß musste ich meinen Abholtermin exakt einen Tag vor Urlaubsantritt
legen? Am Ziel in Rostock angekommen, schleppe ich die volle Tüte Brötchen
durch die Stadt, bis ich sie irgendwann verbittert vor einer Kirche ablege.
So ganz hab ich das mit dem Retten immer noch nicht raus. Aber es wird.
10 Jun 2023
## LINKS
[1] https://foodsharing.de/
[2] /Foodsharing-und-die-Tafeln/!5889511
[3] /Gastgeberin-bei-Couchsurfing/!5834897
[4] /Sechs-Geschichten-uebers-Salz/!5833604
[5] /Streit-um-Mensa-Resteessen/!5358003
## AUTOREN
Shoko Bethke
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