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# taz.de -- Erstarken der AfD: Wo die Brandmauer bröckelt
> Fast hätte die AfD im Landkreis Oder-Spree den neuen Landrat gestellt.
> Das knappe Ergebnis ist Ausdruck einer besorgniserregenden Tendenz.
Bild: Der AfD die Luft rauslassen: Im Landkreis Oder-Spree kann man sehen, wie …
Als die ersten Hochrechnungen zur Stichwahl um den neuen Landrat im
Landkreis Oder-Spree aufploppen, kann Janina Messerschmidt die Ergebnisse
erst gar nicht glauben. AfD-Kandidat Rainer Galla liegt zu dem Zeitpunkt,
kurz nach 18.30 Uhr am Sonntagabend, noch vorne in vielen Gemeinden.
SPD-Mann Frank Steffen auf Platz zwei. Am Ende des Tages wird Steffen zwar
als Sieger hervorgehen, aber mit nur geringem Vorsprung vor Galla.
„Ein solch krasses Ergebnis habe ich nicht erwartet“, sagt Messerschmidt.
Sie sitzt für die Linke in der [1][Gemeindevertretung von Steinhöfel] im
Landkreis Oder-Spree. Sie vermutet, dass es in der Gemeindeverwaltung und
in Behörden kein Thema ist, dass der Landkreis den ersten AfD-Landrat
bundesweit hätte stellen können. „Eine Partei, die mit Alltagsrassismus
arbeitet, die Ängste bei den Menschen schürt, macht offenbar nur einigen
ehrenamtlich arbeitenden Vereinen Sorgen“, sagt Messerschmidt. Nicht einmal
ihr Aufruf über die Verwaltung an die Bürger:innen, überhaupt zur Wahl
zu gehen, wurde weitergeleitet. „Dafür gibt es offenbar keine Priorität.“
Die AfD hat in dem Landkreis bei einer Stichwahl am Sonntag nur um
Haaresbreite ein Landratsamt verpasst. Es wäre das erste gewesen für die
extrem rechte Partei. SPD-Kandidat Frank Steffen gewann nur hauchdünn mit
52,4 Prozent gegenüber Rainer Galla von der AfD, der 47,6 Prozent der
Stimmen bekam. Ohne Briefwahlstimmen gäbe es nun einen AfD-Landrat. Das
liegt auch an einer erschreckend niedrigen Wahlbeteiligung, die bei nur
38,5 Prozent lag.
Im September 2022 hatten sich in einer ähnlichen Situation bei der
Bürgermeisterwahl in Cottbus noch alle demokratischen Parteien hinter einen
SPD-Kandidaten gestellt, der daraufhin mit 68,6 Prozent die Abstimmung
gewann.
## Die AfD schürt Angst
Kritik richtete sich jetzt insbesondere an die CDU, die, wie die Freien
Wähler vor Ort, nicht den SPD-Kandidaten in der Stichwahl mit voller Kraft
unterstützte. Wie viele andere Regionen Brandenburgs kämpft auch der
Landkreis Oder-Spree mit Abwanderung. Damit, dass Treffpunkte, wie der alte
Konsum, die Kneipe, der Jugendclub, schlicht nicht mehr da sind.
Aber im Vergleich zu anderen Regionen im Osten geht es dem Landkreis nicht
schlecht. Objektiv betrachtet. Fürstenwalde und einige umliegenden Dörfer
haben sich zum Speckgürtel Berlins entwickelt. Etliche Anwohner:innen
pendeln zur Arbeit in die Hauptstadt. [2][Mit Tesla als dem Jobmotor in
Grünheide] hat der Landkreis einen weiteren Coup geschafft. Die Nachfrage
nach Wohnraum, nach Kita- und Schulplätzen, nach Einkaufsmöglichkeiten ist
enorm. Mit der hohen Nachfrage steigen auch die Anforderungen an die
Kommune.
„Die AfD schürt bei den Menschen die Angst, etwas zu verlieren“, sagt
Markus Klein, Geschäftsführer von Demos, dem Brandenburgischen Institut für
Gemeinwesenberatung. Die Unterbringung von Geflüchteten, der Ausbau von
Windrädern, die Debatte um den Heizungstausch, die Finanzierung von Waffen
im Ukraine-Krieg: Ganz gleich welches Thema, es wird den Menschen vor Ort
schaden, so lautet das Narrativ.
Und dieses Narrativ trifft auf ein Gefühl des Frusts, auf ein Gefühl des
Nicht-Wahrgenommenwerdens in der Region. „Bundespolitische Themen spielten
dann plötzlich eine große Rolle, obwohl es sich, wie im Fall von
Oder-Spree, um eine sehr lokale Wahl handelt“, so Klein.
Desinformationskampagnen fielen auf fruchtbaren Boden, verstetigten und
festigten sich. Sicher ist für Klein, dass der Fall Oder-Spree kein
Einzelfall bleiben wird.
## Politische Tabus entwickeln
David Begrich von der Arbeitsstelle Rechtsextremismus vom Verein
Miteinander e.V. in Magdeburg befürchtet, dass der Landkreis Oder-Spree in
der bundespolitischen Debatte bald wieder vergessen ist – obwohl das zutage
getretene Problem grundsätzliche Fragen aufwirft. „Das ist mehr als ein
regionales Ereignis. Es wirft die Herausforderungen auf, die uns besonders
mit Blick auf die 2024 anstehenden Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen
und Thüringen beschäftigen sollten.“
Tatsächlich erlebt die AfD derzeit ein Umfragehoch wie zuletzt 2018 und
2019. Begrich sagt, das Wahlergebnis sei Ausdruck eines ostdeutschen
Pegida-Grundrauschens, das gefüttert werde, indem demokratische Parteien
Themensetzungen der AfD aufgriffen. „Die Brandmauer muss nun wirklich
hochgezogen werden – und sie muss den ersten Bränden auch Stand halten“,
fordert Begrich. „Das funktioniert aber nur dort, wo der AfD diskursive
Grenzen gesetzt werden: Man führt keine rassistischen Diskurse über
Flüchtlinge und auch keine Debatten über regressive ostdeutsche
Identitätspolitik.“
Von Linke bis zur CDU müssten ein paar politische Tabus entwickelt werden,
um dem Erstarken der AfD etwas entgegen zu setzen, glaubt Begrich. Man
müsse sich fragen, ob man sich wirklich an rechten [3][Debatten um
Dragqueens in Kindergärten] beteilige oder sich stattdessen mal der Frage
widme, warum man zu wenig Lehrer und Kindergärtner habe. „Niemand hat die
Pflicht, das aufzugreifen, was die AfD veranstaltet“, sagt Begrich.
Demokratische Parteien müssten vielmehr wirkliche Probleme und Nicht-Wähler
ansprechen: „Wie erreicht man Leute, die nicht zu Wahl gehen und vom
Partizipationsrecht kein Gebrauch machen?“, fragt er. Begrich verweist
darauf, dass die AfD auf richtige Fragen keine Antworten hat und bei
Sozial- und Arbeitsmarktpolitik schlecht aufgestellt ist – zumal die AfD
keinerlei regionale Verankerung wie andere Parteien hat.
## Chrupalla beim „AfD-Frühlingsfest“
Schlagkraft entwickele die AfD nicht über Kompetenz, sondern mit Kampagnen
zu Themen, über die im Kreistag nicht entschieden werde, so Begrich: „Nach
dem Motto: ‚Wir haben beantragt, im Himmel sei Jahrmarkt, aber die
Schweinebacken haben es abgelehnt.‘“
Hinzu komme beim Wiedererstarken der AfD die Rückkehr ihres Leib- und
Magenthemas: Flüchtlinge und sozialdarwinistische Verteilungsfragen. „Die
AfD macht ständig Vorschläge, wer kein Geld bekommen soll.“
Tatsächlich hat die AfD vor Ort nicht nur mit bundespolitischen Themen wie
Ukraine-Krieg und Grünen-Bashing mobil gemacht, sondern auch Unterstützung
von der Parteispitze bekommen: Am Samstag war AfD-Chef Tino Chrupalla in
den Landkreis gereist und hatte ein AfD-„Frühlingsfest“ in Müllrose
besucht. Begrich mahnt: „Man sollte nicht in Panik oder Entwarnung
verfallen, ob die AfD bei 24 oder 28 Prozent steht. Der gesellschaftliche
Resonanzraum, den sie erreicht, ist ohnehin breiter oder größer. Die
anderen Parteien müssen sich vielmehr überlegen, wie Nicht-Wählerinnen und
Wähler erreicht werden können.“
Die Stichwahl trieb tatsächlich auch die Spitzenpolitik um. Allem voran,
dass die CDU und die Freien Wähler, anders als Linke und Grüne nicht
explizit zur Wahl des SPD-Kandidaten aufgerufen hatten: So klang der
SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert am Montagmorgen leicht zerknirscht –
obwohl die Sozialdemokraten am Abend zuvor in Bremen einen deutlichen
Wahlerfolg in Bremen gefeiert haben.
## Kühnert bezeichnet CDU-Mitglieder als „Schönwetter-Demokraten“
Scharfe Kritik formulierte er gegenüber der CDU: „In Brandenburg, wo im
kommenden Jahr Kommunal- und Landtagswahlen stattfinden, bekommt die CDU
die Zähne nicht auseinander, wenn die Demokratie gegen ihre Feinde
verteidigt werden muss“, sagte Kühnert der taz. „Wo ist die sogenannte
Brandmauer nach rechts, die Friedrich Merz und andere in ihren
Sonntagsreden fleißig beschwören, wenn es wirklich darauf ankommt?“ Für
Kühnert sind CDU-Mitglieder „Schönwetter-Demokraten“.
Auch der SPD-Bundesvorsitzende Lars Klingbeil zeigt sich sehr verwundert
über das Verhalten der Konservativen, wie er am Montag sagte: „Die CDU
konnte sich weder vor Ort noch auf der Bundesebene dazu durchringen, sich
zu positionieren. Es hat keine Wahlempfehlung der CDU gegeben.“
Der CDU-Landeschef Brandenburg Jan Redmann räumte am Montag immerhin Fehler
ein: Man habe die Stichwahl unterschätzt, sagte er. Von den eigenen
Anteilen am AfD-Ergebnis sprach er hingegen weniger. Er sagte nur, das
Wahlergebnis müsse nun ein Weckruf sein. „Einfach nur Unterhaken gegen die
AfD ist zu wenig, um sie klein zu kriegen“, so Redmann, wobei sich seine
Partei ja nicht einmal untergehakt hatte.
Die AfD, die schon länger auf einen Erfolg bei Landratswahlen im Osten
schielt, aber noch nie so knapp verlor, schwört sich weiter darauf ein,
Kräfte auch für Kommunalwahlen zu bündeln. Mit besonderem Fokus auf
Gegenden, in denen die AfD trotz ihres Rechtsextremismus weitgehend
normalisiert ist. So schrieb der [4][Rechtsextremist und Thüringenchef
Björn Höcke] noch am Sonntagabend neben eine Gratulation zu den
„sensationellen 47,6 Prozent“: „Jetzt geht der Staffelstab nach Thüringe…
Am 11. Juni wählt der Landkreis Sonneberg einen neuen Landrat.“
## Bedürfnis nach Austauschräumen
Warum gehen überhaupt so wenig Menschen zu einer Landratswahl, gerade dann,
wenn es wirklich um etwas geht? Bei vielen Vereinen, kirchlichen
Initiativen oder Unterstützer:innen von Geflüchteten im Landkreis ist
der Wahlausgang ein großes Thema. „Reden, reden, reden“, sagen die einen.
„Laut werden die anderen.“ Im schlimmsten Fall den Rückzug antreten.
Klein beobachtet bei den demokratischen Parteien eine Hilflosigkeit
gegenüber der AfD. „Es braucht eine bessere Kommunikation, um verständlich
zu machen, wofür die einzelnen Parteien stehen“, sagt er der taz.
In dieser Legislaturperiode lässt sich wohl nicht mehr viel ändern,
vermutet Janina Messerschmidt aus der Gemeindevertretung Steinhöfel. Sie
arbeitet derzeit an einem Grundsatzprogramm, um mehr Beteiligung zu
schaffen in der Gemeinde für alle. Sie will Allianzen schmieden,
fraktionsübergreifend, und so Strukturen verändern. Und sie will „Blasen
aufbrechen“. „Wir brauchen Austauschräume, wir brauchen Kneipen, Feste und
Vereine, also Orte, in denen wir in die Auseinandersetzung gehen können,
nicht nur mit denen, die frustriert sind, sondern auch mit denen, die
Politik bisher nicht interessiert.“
15 May 2023
## LINKS
[1] /AfD-Treffen-in-Brandenburger-Gemeinde/!5750690
[2] /Ein-Jahr-Tesla-Gigafactory/!5920241
[3] /CSD-Mitveranstalter-ueber-CSU-Ausschluss/!5930675
[4] /Rechtsextremist-in-der-AfD/!5862822
## AUTOREN
Tanja Tricarico
Gareth Joswig
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