| # taz.de -- Erstarken der AfD: Alles ganz furchtbar | |
| > Die Schuldzuweisung an die Ampel verstärkt nur den Triumph der AfD in | |
| > Thüringen und Sachsen. Die Krisen schönzureden nutzt aber auch nichts. | |
| Bild und Welt posaunen es seit Jahren durch den Medienwald, die FAZ stößt | |
| seit geraumer Zeit ins gleiche Horn, und am Tag nach der Wahl wird es auch | |
| im Deutschlandfunk bestätigt: Am Triumph der Rechtsextremen in Thüringen | |
| und Sachsen ist die Ampel schuld. In dieser Diagnose verknüpfen sich zwei | |
| Denkfehler zu einem für die Wahlsieger idealen Akt der Gefälligkeit. | |
| Erstens sind alle, die sich an der Politik der aktuellen Bundesregierung | |
| stoßen, offensichtlich durch eine magische Kraft dazu gezwungen, bei der | |
| nächsten Wahl ihr Kreuz bei einer antidemokratischen Partei zu machen, was | |
| ja nichts anderes hieße, als dass es für Deutschland zur Ampel tatsächlich | |
| nur eine wirkliche Alternative gäbe. Zweitens und schlimmer: Nicht nur die | |
| rechten Verächter der Freiheit oder die Wagenknechte zerstören die | |
| Demokratie, sondern die Demokraten selbst. | |
| Bei der Ursachenforschung, warum eine [1][gesichert rechtsextreme Partei] | |
| in zwei Landtagen über 30 Prozent der Stimmen errungen hat, setzt sich der | |
| sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer an die Spitze, indem er das | |
| Verhalten der Ampel als „demokratiezerstörend“ bezeichnet. Und geniert sich | |
| nicht, dass er sich damit zum Sprachrohr einer Bewegung macht, die die | |
| repräsentative, auf Gewaltenteilung und liberale Grundsätze ruhende | |
| Demokratie durch eine autoritär-plebiszitäre Mehrheitsherrschaft à la | |
| Viktor Orbán ersetzen will. | |
| Kein Mensch muss AfD wählen, wenn er mit der Ampel unzufrieden ist. Aber | |
| jeder kann sehen, dass die Feinde der Demokratie einen sich fantastisch | |
| selbst verstärkenden Mechanismus in Gang gesetzt haben, bei dem die | |
| Demokraten ihr Projekt rasant selbst sabotieren. Ergebnis ist ein nahezu | |
| kompletter Sieg der Rechtsextremen, nämlich die vollkommene Übernahme der | |
| Diskurshoheit: Migration, Migration, Migration. | |
| ## Großer Gesang vom Untergang | |
| Der kommunikative Erfolg der Rechten reicht weit über das Stimmendrittel in | |
| zwei kleinen Ostländern hinaus. Es ist ihnen über die letzten Jahre | |
| gelungen, ihr Katastrophennarrativ zum Leitdiskurs der Republik zu machen. | |
| Aus der großen Lust am Jammern – die besonders gerne gar nicht einmal | |
| diejenigen befällt, die ganz unten sind, sondern diejenigen, die bei ihrer | |
| Selbstbetrachtung vor allem ins Auge fassen, was alles noch ein bisschen | |
| besser, opulenter, reicher sein könnte – wird der große Gesang vom | |
| Untergang. | |
| Neu ist dabei, wie die weltvergessene Wehleidigkeit bis hinein in den | |
| Mainstream der öffentlichen Meinung vorgedrungen ist. „Debakel“, „Blamag… | |
| „Desaster“, „Katastrophe“, „Absturz“, „Niedergang“. Die in ihre… | |
| Selbstzweifel steckenden Deutschen sind für solche apokalyptischen | |
| Fantasien traditionell empfänglich und werden von den in Konkurrenzpanik | |
| mit den sozialen Netzwerken befindlichen Leitmedien noch bestärkt. | |
| Anheizen statt abwägen, Bashing statt Analyse, Emotion statt Reflexion, wie | |
| ein anderes Wortfeld beweist: „Entsetzen“, „Empörung“, „erschreckend… | |
| „unfassbar“, „skandalös“… Am Ende bleibt das düstere Bild eines Lan… | |
| dem jeder, der vielleicht einmal eine Weile in einer indischen Großstadt | |
| verbracht hat, weiß, wie reich, wohlorganisiert, sicher und fair es im | |
| Vergleich zum Rest der Welt immer noch ist – Nahverkehr, Infrastruktur, | |
| Gesundheitsversorgung und öffentliche Verwaltung inklusive. | |
| Anstatt den Untergangspropheten einmal die Liste dessen entgegenzuhalten, | |
| was wir in diesem Land alles zu verlieren haben – ein schönes konservatives | |
| Projekt –, marschiert eine kopflose CDU vor der AfD her und versucht unter | |
| dem Eindruck des [2][Verbrechens von Solingen] diese in ihrem | |
| migrantenfeindlichen Getöse noch zu übertrumpfen: Um zu verhindern, dass | |
| irgendwo im Osten die AfD an die Macht kommt, machen wir deren Politik | |
| gleich selbst! | |
| ## Angst als Katalysator | |
| Und als besorgter Demokrat darf man sich jetzt noch nicht einmal mehr | |
| wünschen, dass sie dafür bei den nächsten Wahlen die verdiente Strafe | |
| erhält. Zur Erinnerung: Schon die alte Strauß’sche Formel, rechts von der | |
| Union dürfe es keine demokratisch legitimierte Partei geben, enthielt das | |
| delikate Kalkül, dass man, um sie bei der Stange zu halten, auch für die | |
| alten Nazis genügend Angebote bereithalten müsse. | |
| Abgesehen von der Untauglichkeit dieses Versuchs – wer AfD-Politik will, | |
| wählt AfD – offenbart sich hier ein zweifelhaftes Verständnis vom Souverän. | |
| Jeder Wähler trägt gegenüber seinem Gemeinwesen Verantwortung. Wer | |
| Rechtsextreme wählt, ist verantwortlich für Rechtsextremismus. Die | |
| demokratische Substanz der Parteien von links bis konservativ erweist sich | |
| darin, dass sie den liberalen Kern unserer Demokratie verteidigen, und | |
| nicht darin, eine Wählerschaft, die das System der repräsentativen | |
| Demokratie verachtet, mit autoritären Politikangeboten zu verwöhnen. | |
| Von Deutschlands Untergang ist es nicht weit bis zu „Deutschland erwache“. | |
| Dabei spielt den Katastrophisten die sich in einen Komplex neuer Zukunfts- | |
| und Existenzunsicherheit verdichtende Dynamik dreier Angstthemen in die | |
| Hände: Migration, Krieg und Klima. In der demagogisch simplifizierenden | |
| Bewirtschaftung dieser Themen, wie sie von ganz rechts bis mittlerweile | |
| weit hinein ins liberalkonservative Lager gelingt, spiegelt sich die | |
| Geschichte eines Realitätsverlustes, die auf eine systemische Schwäche | |
| liberaler Demokratien hinweist. | |
| Kurz gesagt geht es um die Angst der Regierenden vor dem Volk, dem die | |
| ganze Wahrheit einer problematischen Weltlage angeblich nicht zugemutet | |
| werden darf. Die Zurückhaltung bei einer der Radikalität der Probleme | |
| entsprechenden Wähleransprache folgt dabei dem nicht ganz irrationalen | |
| Kalkül, dass, wer überhaupt versucht, die Dinge irgendwie anzugehen, wie | |
| (bei allem Murks) es doch die Grünen in der Ampel versucht haben, umgehend | |
| abgestraft wird. | |
| ## Schmerzfrei aus den Krisen geht nicht | |
| In der Folge haben sämtliche deutsche Regierungen von Helmut Kohl bis Olaf | |
| Scholz versucht, solange es gut ging, die Probleme lieber mit Geld | |
| zuzuschütten, als sie strukturell und nachhaltig anzugehen. | |
| Und es ging lange gut, am längsten in der [3][Ära Angela Merkel], deren | |
| Methode der taktischen Zerlegung aller großen Fragen der Zeit in | |
| kleinschrittige Mikropolitik glatte 16 Jahre funktionierte und einen | |
| sensationellen Scherbenhaufen unerledigter Aufgaben für die Nachfolger | |
| hinterließ, die noch in ihrer Ursprungsplanung offenbar davon ausgingen, | |
| dass man etwa mit dem Klimawandel fertigwerden kann, ohne dass es | |
| irgendjemand etwas kostet. | |
| Bei [4][Corona] hatte es ja gerade noch so hingehauen! Doch leider, seit | |
| der Zeitenwende wird es eng. Und es rächt sich, dass man es heute mit einem | |
| Wahlvolk zu tun hat, dem viel zu lange eine quasi schmerzfreie Bewältigung | |
| der Zukunftsfragen versprochen wurde, deshalb die in den Krisenszenarien | |
| enthaltene Botschaft aggressiv ablehnt und lieber die rechte „Alternative“ | |
| mit ihren Lügenversprechen wählt. | |
| Es wäre naiv anzunehmen, dass eine klügere, rechtzeitig zupackende Arbeit | |
| der Ampelkoalition diesen Erfolg komplett verhindert hätte. In Wahrheit | |
| lässt sich ja keiner der genannten Problemkomplexe einfach „lösen“, | |
| sondern muss langfristig gemanagt und moderiert werden. | |
| Womit wir bei den tatsächlichen Fehlern der Ampel wären, etwa beim | |
| toxischen Verhalten der FDP, der bisweilen [5][ruinös unprofessionellen | |
| Performance der Grünen] oder der rätselhaften Unfähigkeit der SPD, auch nur | |
| ansatzweise eine wirklich ernst zu nehmende Politik in Sachen Wohnungsbau | |
| und Mieten in Gang zu setzen. | |
| ## Beherzt Klartext reden | |
| Vor allem aber sind wir bei der geradezu aufreizend demonstrativen | |
| Kommunikationsverweigerung des Kanzlers, der offensichtlich auch | |
| zweieinhalb Jahre nach der [6][von ihm selbst ausgerufenen Zeitenwende] | |
| immer noch nicht verstanden hat, dass die aktuelle Lage nicht einfach mit | |
| dem nächsten Doppel- oder Dreifachwumms zu bewältigen ist. Ja, die Ampel | |
| hat es mit einer neuen Dimension der Bedrohung unseres liberalen | |
| Gesellschaftsmodells zu tun, dazu mit einem veränderten Parteiensystem, aus | |
| dem bis auf Weiteres immer fragilere und schwerer zu moderierende | |
| Mehrparteienregierungen hervorgehen werden. | |
| Umso klarer sollte daher sein, dass es in einer ausgefransten und | |
| vielerorts manipulativen Medienwelt als Erstes einer präzisen und | |
| angstfreien Kommunikation bedarf, die die Wählerinnen und Wähler ernst | |
| nimmt, indem sie deutlich macht, [7][was auf dem Spiel steht und mit | |
| welchen Kosten] und Mühen eine problemadäquate, die liberale Demokratie | |
| nachhaltig stärkende Politik leider rechnen muss. | |
| Den in ihrer Zeit in puncto Machterhalt erfolgreichsten Regierungschefs der | |
| Bundesrepublik, Adenauer, Kohl und Merkel, hat erstaunlicherweise ihre | |
| größte Schwäche, nämlich die Kommunikation, kaum geschadet. Im Fall des | |
| aktuellen Amtsinhabers entpuppt sie sich aber als schlimmer Malus. Der neue | |
| Faschismus darf niemanden überraschen, er ist uns bekannt als zuverlässiger | |
| Begleiter der politischen Moderne, als gewissermaßen hässlicher Bruder der | |
| Demokratie. | |
| Wann immer diese ihre großen Versprechen der Freiheit, Fairness und | |
| Partizipation nicht erfüllt, versucht ihr Zwilling die Ängste der Menschen | |
| in seine Regie zu nehmen. Und es ist wohl so, dass unter den sich | |
| zuspitzenden Herausforderungen einer Welt mit acht, bald zehn Milliarden | |
| Menschen, die alle ein Recht auf die Einlösung dieser Versprechen haben, | |
| bei den begrenzten [8][globalen Ressourcen und der im großen Maßstab | |
| ungleichen Verteilung] der Chancen auf unabsehbare Zeit beste | |
| Produktionsbedingungen für neurechten Irrationalismus aller Art bestehen. | |
| [9][75 Jahre nach ihrer Gründung und 35 Jahre nach der Vereinigung] steht | |
| die zweite deutsche Republik vor ihrer ersten, wirklich harten | |
| Bewährungsprobe. Für deren Bestehen bedarf es zuallererst nüchtern | |
| analysierender Medien und unerschrocken handelnder politischer Eliten mit | |
| einem Navigationssystem, das sich statt an kleinlichem Kalkül unbedingt am | |
| Ziel der Erhaltung unserer Freiheit orientiert. | |
| 15 Sep 2024 | |
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