# taz.de -- Fitness auf Social-Media: Die neuen Sportprofis | |
> Normschön sammeln Fitness-Influencer:innen viele Klicks und viel Geld. | |
> Dabei erreichen sie ein ganz anderes Publikum als die klassischen | |
> Vereine. | |
Bild: Hebt den Sport auf neue Ebenen: Pamela Reif leitet Fitnessworkouts auf Yo… | |
Pamela Reif hat nie an Olympia teilgenommen, nie eine Meisterschaft | |
gewonnen und nie in einem Auswahlkader gestanden. Ja, es ist nicht mal | |
verbürgt, ob sie besonders gut in Sport ist. Und dennoch hat die | |
Sport-Influencerin mehr Instagram-Abonennt:innen als Bayern-Kapitän Joshua | |
Kimmich, als jede deutsche Sportlerin und fast jeder Sportler. | |
Reif, die erfolgreichste deutsche Sport-Influencerin, baut ihre Karriere | |
auf gut gelaunte Fitnessvideos, in denen sie zumeist nicht einmal spricht. | |
Und dennoch oder deshalb fliegen ihr Herzen zu. „Du hast mein Leben | |
verändert“, „Du bist meine persönliche Therapeutin“, „Dankeschön, me… | |
Queen“, seufzen meist weibliche Fans in den Kommentaren, ergänzt mit der | |
eigenen Lebens- und Sportgeschichte. | |
Die umtriebige 26-Jährige mit normschönem Look – blond, schlank, weiß, | |
dauerlächelnd und verdächtig schweißfrei – ist ein Sportstar, den analoge | |
Medien kaum mitbekommen haben. Reif braucht deren PR auch nicht, selten | |
gibt sie mal ein Interview. Zur millionenschweren Marke Pamela Reif gehören | |
Autogrammstunden, eigene Bücher, eine eigene Fitness-App, eine Food-Marke, | |
eine Modekollektion und eigene Sportkleidung. Eine neue Form der | |
Sportkarriere. | |
Natürlich gibt es Sportikonen außerhalb des Wettbewerbsports seit eh und | |
je. Von Buffalo Bills Reit- und Schießshows über den französischen Artisten | |
Philippe Petit, der auf dem Hochseil über New York balancierte, bis hin zu | |
Jane Fondas wahnwitzige 17 Millionen Mal verkauften Aerobic-Videos wurden | |
Sportheld:innen immer wieder frei von Verbänden und Pokalen groß. Und | |
erzählten stets etwas über ihre Zeit. | |
## Sport für die Massen | |
Social Media mit seiner Reichweite und der omnipräsenten bezahlten Werbung | |
aber hat das Spiel massiv verändert. Was für Streamer:innen von eSports | |
schon lange gilt, ist zunehmend auch im physischen Sport erreichbar, vor | |
allem in der boomenden Fitnessbranche und seit Corona. | |
Homeoffice und geschlossene Sportanlagen wurden zum nächsten Katalysator. | |
Reif etwa konnte ab der Pandemie bis März 2023 die Zahl ihrer | |
Youtube-Follower:innen verdreifachen, mittlerweile folgen ihr 9,5 Millionen | |
Menschen. Auf [1][vielen Sportkanälen im Netz explodierten die | |
Aufrufzahlen]. Und manchmal bekommt sogar der organisierte Sport die | |
Bedeutung der Influencer:innen mit: Wenn etwa das von Twitch-Streamer | |
Elias Nerlich gegründete Berliner Fußball-Kreisliga-Team Delay Sports mehr | |
Instagram-Follower versammelt als Hertha oder Union und seine Fanmassen die | |
Diskurse in der Kreisliga C bestimmen. | |
Die gesellschaftliche Relevanz dieser neuen Sportprofis ist schwerer zu | |
erzählen als ihr Aufstieg. Ist eine Sportunternehmerin ohne sportliche | |
Meriten nur ein austauschbarer Coach, eine Entertainerin nach RTL-Rezept, | |
die mit ihrem letzten Video verschwindet? Braucht es für historische Größe | |
eine Heldinnensaga? Oder sind viele Branchenstars nicht im Gegenteil | |
mittlerweile größere Ikonen als die des organisierten Sports abzüglich | |
Männerfußball, langlebiger sowieso? | |
An ihren Aussagen entzünden sich Debatten, Reaktionsvideos, Trends. In | |
jedem Fall richten sie den Fokus neu aus: auf den „freien“ Sport. | |
Sportredaktionen konzentrieren ihre Berichterstattung vorwiegend auf den | |
organisierten Spitzensport, mindestens aber auf den Vereinssport. Das liegt | |
gewiss auch daran, dass ihre Mitglieder überwiegend alt und männlich sind | |
und abbilden, was sie selbst kennen. Den Gesamtsport reflektierte dieser | |
Blick nie, schon vor Streaming und Social Media nicht. | |
Nach einer aktuellen Studie des Bundeswirtschaftsministeriums sind 92 | |
Prozent der Sportaktivitäten der deutschen Bevölkerung über 16 Jahren dem | |
sogenannten informellen Sport zuzurechnen, finden also außerhalb des | |
Sportvereins statt. 72 Prozent der Sportaktiven betreiben sogar nur | |
selbstorganisiert Sport. Joggen, Rad fahren, schwimmen, Ski fahren, | |
surfen, skaten, tauchen oder kommerziell in Fitnessstudios, Yogakursen, | |
Reitschulen, Tanzstudios, Kletterhallen. Das große Feld eSports, aber auch | |
etwa Heimtraining mit Sport-Influencer:innen auf Youtube ist da noch | |
gar nicht mitgedacht. Der informelle Sport und seine Geschichten bleiben | |
untererzählt. Dabei hat er befreiende Potenziale. | |
„Ich wollte Yoga – das ich so liebte – aus seiner esoterischen Ecke | |
rausholen und vor allem jungen Menschen zugänglich machen“, erzählt | |
Deutschlands erfolgreichste Yoga-Influencerin Mady Morrison, deren | |
Yoga-Videos bei Youtube drei Millionen Menschen abonniert haben, in einem | |
Interview mit Women’s Health. „Meine Motivation war also, das Ganze | |
attraktiver und moderner weiterzugeben. Der logische Weg dorthin war für | |
mich der über die sozialen Netzwerke und über Youtube.“ | |
Was sonst in teuren Kursen vermittelt wird, ist online niedrigschwellig und | |
kostenfrei verfügbar. Befragungen weisen darauf hin, dass informeller Sport | |
bei prekären Gruppen beliebter und für sie zugänglicher sein könnte. | |
Mädchen und Frauen betreiben ihn prozentual häufiger als Jungen und Männer, | |
und bei Mädchen mit Migrationshintergrund fand eine deutsche Studie von | |
2020 erhebliche Neigungen zum informellen Sport. | |
## Selbst Rezo, der alte Zerstörer | |
Gut belegt ist, dass prekär lebende Menschen oder solche mit niedrigerem | |
Bildungsabschluss wesentlich seltener in den Sportverein finden. Sport am | |
Smartphone dagegen kommt ohne Anmeldung, Verpflichtung, Leistungsmessung | |
oder Socializing aus. Und ist oft besser auf die knappe Zeit abgestimmt als | |
der Sportverein: Morrison bietet gar „Netflix and Stretch“ an, also | |
Yogaübungen, die beim Fernsehen absolviert werden dürfen. Eine Utopie? | |
Manchmal. | |
Die Wittener Forscherinnen Katharina Pilgrim und Sabine Bohnet-Joschko | |
haben die Online-Inszenierung der 50 erfolgreichsten deutschen | |
Fitness-Influencer:innen untersucht, bemerkenswerte 42 von ihnen Frauen. | |
Ihre wenig überraschende Bilanz: „Inhalte konzentrierten sich speziell auf | |
das Aussehen und propagieren Bewegung aus optischen Gründen.“ Abnehmen, | |
Beachbody, Sixpack. Sport, von allen gemeinschaftlichen Potenzialen | |
befreit, als reine Optimierungskur. | |
Es ist die letzte Zuspitzung des kommerziellen Sports, nämlich Verkaufen | |
unter dem Vorwand von Sport. Für jede und jeden erreichbar ist auch diese | |
Laufbahn nicht, die Währungen sind bloß andere: Normschöne Körper, häufig | |
digital bearbeitet, preisen Workouts an, die sich eher um eine „krasse | |
Challenge“ und schnelle Körperveränderung drehen als um Gesundheit und | |
Spaß, untermalt mit einer You-can-do-it-Transformationsgeschichte. Selbst | |
Medienliebling Rezo machte 2022 eine Fitness-Challenge mit | |
Vorher-nachher-Körperbild – und reichlich Werbung für | |
Nahrungsergänzungsmittel. | |
Netzsport, das ist auch eine gendernormiert geteilte Welt. Auf dem höchst | |
erfolgreichen Youtube-Kanal des österreichischen Kraftmeiers Sascha Huber, | |
männliches Pendant zur lachsrosafarbenen Welt von Pamela Reif, posieren | |
brüllende Männer mit Sixpacks oder ziehen um die Wette Panzer. Gemein ist | |
vielen eine totale Vermarktung des Körpers und das Überwinden von dessen | |
Grenzen. Hier zahlt kein Publikum, Klub oder Medienanstalt, hier zahlt die | |
Gehälter fast allein die Industrie. Man merkt’s. | |
Wer mit Hingabe anfängt, wird mit zunehmendem Erfolg schnell lebende | |
Dauerwerbung für zweifelhafte Nahrungsergänzungsmittel und den Kauf der | |
[2][nächsten Klamotte oder Sportausstattung]. Ein einträgliches Feld: 81 | |
Prozent der Sport-Konsumausgaben der über 16-Jährigen entfallen auf den | |
informellen Sport. | |
Sie sind Treiber:innen auch der Adaption von Sportmode als Alltagsmode, | |
der Omnipräsenz der Yoga-Pants und weißen Sportschuhe. Die Käuflichkeit | |
allein ist kein Sondermerkmal der Sport-Influencer:innen. Auch der | |
organisierte Sport ist oft eine bessere Teleshoppingsendung. Was aber | |
schmerzlich fehlt, ist das kritische Korrektiv. Auch weil | |
Journalist:innen fast nie berichten und kritische Kommentare kaum eine | |
Chance haben gegen die Flut der Fanposts. | |
Hier spricht die Influencerin direkt zum Fan. Keine Nachfragen, keine | |
Einordnung, kaum investigative Recherchen. Kritik in Form von Fanprotesten | |
oder Reaktionsvideos anderer Influencer gibt es, bleibt aber doch ein eher | |
limitiertes Mittel, um Grundsätzliches zu bewegen. Es fehlt vor allem | |
eines: andere Verdienstmöglichkeiten, die kritische Angebote fördern und | |
Unabhängigkeit gegenüber Sponsoren ermöglichen. | |
## Nicht mit Firmen verheiratet | |
Nur manchem wird diese Welt zu eng. Mountainbike-Influencer Fabio Schäfer | |
entschied sich Anfang 2023, die Zusammenarbeit mit seinen Sponsoren zu | |
beenden. „Ich habe einfach mal Bock, andere Sachen außer immer nur Biken, | |
Biken, Biken zu machen. […] Ich habe gemerkt, auf einmal muss ich mich | |
rechtfertigen bei Zuschauern oder Sponsoren, und da habe ich einfach keinen | |
Bock drauf. Ich bin nicht verheiratet mit Firmen“, so Schäfer. Der Preis, | |
den man eben zahlt als Sportprofi. | |
Getrennte Welten sind der Netzsport und der analoge Sport nicht, sie | |
ergänzen und beeinflussen sich. Den Schritt zu Turnieren ging als Erstes | |
der eSports, mittlerweile operieren gerade Formate, die sich an männliches | |
Publikum richten, auch im Fitnessbereich viel mit Wettkämpfen, Rekorden, | |
Challenges – bloß ohne Qualifikation, sondern unter geladenen | |
Influencer:innen. | |
Hoch erfolgreiche Webformate wie die Survivalshow „7 vs. Wild“ kombinieren | |
Wettkampf, Reality-TV und Erzählungen von Männlichkeit. Und manchmal | |
strahlt all das wiederum auf das aktive Sporttreiben unter jungen Fans aus. | |
Allem zum Trotz: Die allergrößten Sport-Influencer sind immer noch andere. | |
Aus Deutschland heißen 2023 die branchenübergreifenden | |
Instagram-Spitzenreiter Toni Kroos und Mesut Özil. Unter den Top Ten finden | |
sich sieben männliche Fußballer. | |
22 Apr 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Dramaturgie-der-Youtube-Fitness/!5831707 | |
[2] /Doku-Girl-Gang-ueber-junge-Influencerinnen/!5885618 | |
## AUTOREN | |
Alina Schwermer | |
## TAGS | |
Social Media | |
Influencer | |
Fitness | |
Kommerzialisierung | |
GNS | |
Schwerpunkt Stadtland | |
Digitalisierung | |
TikTok | |
Basketball | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Facebook | |
Gesundheit | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Bedeutung von Marktplätzen: Orte der Begegnung | |
Antikes Wissen kann in einer zerfallenden Gesellschaft nicht schaden. So | |
erkundet der Ethikrat auch im Fitnessstudio aktuelle Spielarten der Agora. | |
Neues Gesetz in Frankreich: Regeln für Influencer-Werbung | |
Ein neues Gesetz in Frankreich sieht detaillierte Regeln für Influencer | |
vor, die mit Werbung Geld verdienen. Doch es gibt eine Lücke. | |
Abnehmen mit Diabetes-Medikament: Spritze statt Sport | |
Um Semaglutid gibt es einen Hype. Der Wirkstoff senkt den Blutzucker bei | |
Diabetes – und hilft beim Abnehmen. Doch Medikamente mit ihm bergen | |
Risiken. | |
Norddeutsche Basketballteams: Ene mene mu, raus bist du | |
Zwei norddeutsche Basketballmannschaften haben es in die Playoffs | |
geschafft: EWE Baskets Oldenburg und BG Göttingen. | |
Profifußball in der Ukraine: Mal Spielfeld, mal Front | |
An Wochenenden kickt Olexander Kutscherenko für den FC Inhulez Petrowe in | |
der ukrainischen Profiliga. Zwischen den Spielen fährt er in den Donbass. | |
Doku „Girl Gang“ über junge Influencer*innen: Leben für die Vermarktbarke… | |
Susanne Regina Meures folgt in „Girl Gang“ einer Influencerin. Sie | |
beleuchtet ein Phänomen, das den Zeitgeist auf die Spitze treibt. | |
Dramaturgie der Youtube-Fitness: Erschöpfung und Erlösung | |
Wer sich Fitnessvideos mehrfach anschaut, kann irgendwann nicht nur | |
mitturnen, sondern auch mitsprechen. |