# taz.de -- Sportsucht bei Strava: Schneller, weiter, krasser | |
> Freizeitsport wird immer kompetitiver, auch wegen Apps wie Strava. Dort | |
> pushen sich Nutzer gegenseitig immer weiter – bis es ungesund wird. | |
Bild: Laufen ist nicht nur Wettbewerb – für viele bedeutet es Gemeinschaft | |
Der Puls schießt viel zu schnell in die Höhe. Kira Gerlach schaut immer | |
wieder auf ihre Laufuhr, die Aufregung vom Start ist verflogen, aber ihr | |
Herz rast. 190 Schläge pro Minute nach fünf Kilometern, das ist | |
ungewöhnlich. Es ist viel zu warm für Anfang April in Berlin, 25 Grad | |
werden es an diesem Halbmarathonsonntag im vergangenen Jahr. Gerlach ahnt, | |
das wird hart. Dabei wollte sie heute eine neue Bestzeit laufen. | |
21,1 Kilometer lassen sich unterschiedlich angehen. Hauptsache ankommen, | |
schneller sein als im letzten Jahr, oder man will es richtig wissen, so wie | |
Gerlach. Sie hat vor, in unter anderthalb Stunden im Ziel zu sein. Sub | |
1:30, wie die Profis sagen. Eine Marke, die nur knapp fünf Prozent der etwa | |
38.000 Läufer*innen an diesem Tag unterbieten werden. | |
Immer wieder rechnet Gerlach nach, 4:20 Minuten braucht sie im Schnitt für | |
einen Kilometer, das wird nichts. Ihr Puls rast weiter. Nach einer Stunde | |
und 31 Minuten läuft Gerlach durchs Ziel. „Das war mein schlimmster Lauf“, | |
sagt sie direkt danach. Aber in ihrer App Strava blinkt „PR“ auf. PR steht | |
für Personal Record, eine persönliche Bestzeit. Daneben leuchtet eine | |
kleine goldene Medaille, die Währung in der digitalen Sportwelt. | |
Strava ist die erfolgreichste App, mit der sich sportliche Aktivitäten | |
tracken und mit der Welt teilen lassen. Wann und wie lange du gelaufen, | |
geschwommen oder Rad gefahren bist, ob du Yoga gemacht hast oder Gewichte | |
gestemmt und wie viel Kalorien du verbrannt hast – all das kann man bei | |
Strava hochladen. Freund:innen können dir dafür Kudos geben, wie ein Like | |
hier heißt. | |
Strava ist vom schwedischen Wort sträva abgeleitet, streben. Und so fühlt | |
sich diese App auch ein bisschen an, immer auf der Jagd nach dem nächsten | |
Rekord. Der inoffizielle Slogan heißt: „Strava or it didn’t happen“ – … | |
du es nicht hochgeladen hast, hast du keinen Sport gemacht. | |
Sich noch zum Laufen aufzuraffen, weil der Kumpel heute auch schon 10 | |
Kilometer gerannt ist – dadurch wird man im besten Fall gesünder. | |
Gleichzeitig wird Freizeitsport, der einen Ausgleich schaffen soll, | |
[1][durch das permanente Vergleichen kompetitiver]. Strava ist dabei nur | |
ein Teil des Trends, der sich im Freizeitsport breitmacht: Immer weiter | |
pushen, auch wenn der Körper Stopp sagt. Schneller, länger, krasser. Muss | |
das immer sein? | |
Wer Kira Gerlach trifft, unterschätzt sie möglicherweise. Die 29-Jährige | |
ist zierlich, blond, ziemlich hübsch. Ihr Blick ist standhaft. Darin | |
erkennt man ihren Willen, der für eine Fußballmannschaft reicht. Einen | |
Halbmarathon in unter eineinhalb Stunden laufen – würde sie das nochmal | |
wagen? „Ja“, sie grinst, „das ist wie bei Frauen nach der Geburt. Direkt | |
danach sagen sie nie wieder, und dann bekommen sie doch noch ein Kind.“ | |
Gerlach kennt sich gut, traut sich viel zu. Aber es wird einen Tag geben, | |
an dem ihr Ehrgeiz sie zu weit treibt. | |
Eigentlich heißt Kira Gerlach anders. Sie wird hier anonym bleiben, weil | |
sie ihren Namen nicht in der Zeitung und im Internet lesen möchte. Mit mir | |
spricht sie trotzdem, weil der Leistungsdruck im Hobbysport zunimmt. Wir | |
sind befreundet. | |
Gerlach hat in ihrer Jugend Leistungssport gemacht, Vielseitigkeitsreiten, | |
und sie ist bei Wettkämpfen angetreten. Vielleicht sucht sie deshalb bis | |
heute immer neue Herausforderungen. Im Frühjahr 2024 steht sie zwar kurz | |
vor ihrem Studienabschluss in Architektur, und Masterarbeiten in diesem | |
Fach verschlingen oft Monate. Trotzdem will sie auch sportlich noch etwas | |
erreichen: den Berlin Marathon im September laufen. 42,2 Kilometer in drei | |
Stunden und fünfzehn Minuten. Also [2][bereitet Gerlach sich monatelang | |
darauf vor]. | |
„Ich habe gehört, dass wir Menschen Füchse oder Igel sind“, sagt sie. | |
Füchse würden sich für viele Dinge begeistern, können von allem ein | |
bisschen. Igel fräsen sich in ein Thema rein, sind total fokussiert. „Ich | |
bin ganz klar ein Igel.“ Also testet sie neue Trainingsmethoden, erstellt | |
sich online einen Trainingsplan, findet raus, wo ihre Schwellenbereiche | |
liegen, sodass sie ihre Leistung steigern kann. | |
Sie spüre gerne, wie sich ihre Leistung entwickelt. Dass sich ihr Körper | |
anpasst, sie schneller längere Strecken laufen kann. Anstrengende | |
Intervalleinheiten, bei denen sie abwechselnd so schnell läuft, wie sie | |
kann, und dann geht, hätten etwas Reinigendes. In der Erschöpfung liege | |
tiefes Glück. So ähnlich, wie wenn sie zwischen ihren Freundinnen auf der | |
Tanzfläche steht, die Musik richtig gut ist und sie nirgendwo sonst lieber | |
wäre. | |
Kompetenz sei eines der Grundbedürfnisse, das tief in uns verwurzelt ist, | |
sagt Jens Kleinert. Er forscht an der Sporthochschule in Köln zu Emotionen | |
und Motivation im Sport. „Schon Babys versuchen, mit Bauklötzen einen Turm | |
zu bauen, der möglichst groß ist“, sagt er. „Das machen sie nicht für | |
andere, sondern für sich selbst.“ Sie testen, schaffe ich das? Wie weit | |
komme ich? „Das heißt, Menschen haben ein angeborenes Bedürfnis, sich als | |
kompetent zu erleben.“ Wenn wir etwas schaffen, könne das sehr befriedigend | |
sein. So wie sich Babys über einen hohen Turm freuen, befriedige es uns im | |
Erwachsenenalter, dieses Gewicht zu stemmen oder jene Strecke zu rennen. | |
Das Bedürfnis, Leistung zu erbringen, ist also etwas Urmenschliches. | |
Kira Gerlach setzt Kilometer auf Kilometer und Strava zählt mit: | |
17 April: 13,33 km, 4:57/km, 1h 6min | |
22. April: 14,39 km, 5:00/km – Intervalle | |
400-600-800-1000-1200-1000-800-600-400 | |
23. April: 7,06 km, 5:27/km – Fahrrad abholen | |
26. April: 18,05 km – durch Zürich | |
27. April: 10,19 km, 325 Höhenmeter | |
1. Mai: 13,26km, 5:45/km | |
3. Mai: 16,33km, 369 Höhenmeter, 1h 31min | |
5. Mai: 21,49 km, 5:26/km – crew run | |
6. Mai: 10,12km, 4:58/km – 6x800 Meter Intervalle | |
10. Mai: 33,34 km, 5:22/km – heute bisschen ausgetobt | |
12. Mai: 21,09 km, 5:02/km – sunday routine | |
176 Kilometer in einem Monat. Ist das noch ein Hobby? „Ja“, sagt | |
Sportpsychologe Oliver Stoll, „das würde ich als ambitionierten Hobbysport | |
bezeichnen.“ Er forscht an der Universität in Halle zu den Auswirkungen | |
sportlicher Aktivität auf die Psyche und läuft jeden Tag sieben oder acht | |
Kilometer. Stoll sagt aber auch, wenn man so viel trainiere wie Kira | |
Gerlach und zusätzlich auch im Job Ambitionen habe, sei das ziemlich viel | |
Belastung. | |
„Emotional passiert viel, wenn wir laufen. Gerade bei leistungsorientierten | |
Menschen“, sagt Stoll. „Viele von den Sportlerinnen und Sportlern im | |
ambitionierten Bereich sind Perfektionistinnen und Perfektionisten.“ Wenn | |
sie den eigenen hohen Anspruch nicht erfüllen können, löse das negative | |
Emotionen aus. Der Selbstwert hänge stark von den Ergebnissen im Training | |
ab. Auf der positiven Seite stehe dabei, dass Perfektionist:innen | |
überhaupt an einem größeren Ziel arbeiten können, ohne jeden Tag eine | |
Belohnung zu bekommen. Sie haben ein Ziel im Kopf und ziehen den | |
Trainingsplan durch. | |
16. Mai: 8,05 km, 4:00/km, 8x600 | |
18. Mai: 20,11 km – quer durch den Wald | |
20. Mai: 11,04 km, 4:49/km, 53min | |
21. Mai: 11,04 km, 5:17/km, 58min | |
„Laufen ist mein Ventil“, sagt Gerlach. Sie arbeitet viel an ihrer | |
Masterarbeit, um den Kopf durchzupusten, geht sie laufen. Auf dem Plan | |
steht ein Longrun pro Woche. Lang, das seien 17 Kilometer und mehr. Also | |
joggt sie manchmal abends nach der Uni in großen Schlangenlinien nach | |
Hause. | |
Für das Gefühl, sich den Kopf freizurennen, hat Oliver Stoll eine | |
Erklärung. Hinter der Stirn liegt der präfrontale Cortex. Dieses Hirnareal | |
ist aktiv, wenn wir Probleme lösen, grübeln, analysieren. Je stärker wir | |
uns aber körperlich verausgaben, desto mehr werde dieses Areal | |
heruntergeregelt, sagt Stoll. | |
Beim lockeren Joggen mit einem Puls von 130 ließe sich noch nachdenken, | |
aber je mehr Leistung man bringe, desto schlechter könne man bewusst | |
rationale Probleme lösen. „Man kommt [3][in den sogenannten Flow].“ In | |
diesem Zustand verschieben sich Zeit- und Raumwahrnehmung. Für viele fühle | |
es sich dann so an, als würden sie mit der Umwelt verschmelzen. | |
30. Mai: 10 Kilometer, 3x8min @ ~4:15 | |
Ein Training, bei dem Gerlachs präfrontaler Cortex wahrscheinlich still | |
war. Sie läuft auf einer Tartanbahn im Kreis, dreimal acht Minuten am Stück | |
mit einem Tempo von 4:15 Minuten pro Kilometer. Dazu schreibt sie „new | |
VO2max unlocked“. VO2max, das ist ein weiteres Strava-Phänomen. | |
Hobbysportler:innen verlieben sich durch das permanente Tracken in | |
medizinische und statistische Werte. Der Wert beschreibt, wie viel | |
Sauerstoff der Körper maximal pro Minute verwerten kann. Die | |
Aufnahmefähigkeit lässt sich trainieren, und es gilt: Je höher dieser Wert | |
ist, desto besser, weil die Leistungsfähigkeit zunimmt. | |
Sitzt man mit Strava-Nutzer:innen nach einer Radtour beim Abendessen, | |
werden gerne mal Werte wie beim Quartettspielen hin- und hergeworfen. | |
„Was war dein Maximalpuls?“ „182“ – „185“ „Höchstgeschwindigke… | |
„60“ „FTP“ – Was? – „Wie viel Watt kannst du treten?“ – „3,… | |
Das ist witzig und oft nicht so ernst gemeint. Es macht Spaß, seine Erfolge | |
zu teilen, andere zu motivieren und sich Fotos anzusehen, die | |
Freund*innen von ihrer Wanderung im Urlaub hochladen. Strava wirkt dabei | |
auch noch purer als Instagram, wo alles poliert wird. Stattdessen teilen | |
die Nutzer*innen verschwitzte Gesichter und kalorienreiche Snacks, die | |
sie sich unterwegs reingezogen haben. Trotzdem stellt sich die Frage, was | |
der permanente Vergleich auf Dauer bewirkt. Wenn man selbst etwa immer | |
langsamer läuft als der Rest der Community und das nach jedem Lauf in | |
Zahlen und Balkendiagrammen serviert bekommt. | |
Wer sein Training noch tiefer analysieren will, kann für 75 Euro im Jahr | |
ein Abo abschließen, so verdient das Unternehmen aus San Francisco Geld. | |
2020 wurde der Unternehmenswert mit 1,5 Milliarden Dollar angegeben. | |
Mittlerweile tracken über 135 Millionen Sportler:innen in über 190 | |
Ländern ihre Aktivitäten mit Strava, damit hat sich die Zahl der | |
User:innen in den letzten fünf Jahren beinahe verdoppelt – die App ist | |
nach eigenen Angaben zum größten Sportclub der Welt gewachsen. | |
Und damit auch zu einem Ozean sensibler Daten, denn Nutzer:innen | |
gewähren Strava Zugriff auf viele Informationen, vom Wohnort über die | |
Herzfrequenz bis zum verwendeten Equipment. Immer wieder wird vor | |
Datenlücken gewarnt, weil sich angeblich anonymisierte Informationen doch | |
Personen zuordnen lassen. Marken wie Nike, Garmin und neuerdings auch Apple | |
connecten ihre Apps mit Strava, um Teil dieses Sportuniversums zu sein. | |
Auffällig ist, dass viele Nutzer:innen ihre Leistungen erklären, etwa | |
so: „Wieder zurück nach der Erkältung“ (ich kann noch nicht so doll), | |
„shake out run“ (ich laufe locker, weil ich morgen einen Wettkampf habe), | |
oder „unterwegs mit Marco“ (Marco ist ein Anfänger, wir sind sein Tempo | |
gelaufen). | |
Liegt im Vergleichen der Leistungen also ein Problem? Jens Kleinert fängt | |
beim Selbstwert an: „Das Wort hört sich zwar so selbstorientiert an, aber | |
er bildet sich durch den Vergleich mit anderen.“ Das heißt, wir messen uns | |
an dem, was wir gegenüber anderen können. Darin liege die Krux. | |
Wenn wir uns mit einer professionellen Leichtathletin vergleichen, kann | |
deren Leistung unerreichbar sein und uns runterziehen. Mit dem Nachbarn | |
können wir vielleicht mithalten, was wiederum motivierend ist und uns | |
anspornt. „Der Selbstwert ist sehr stark sozial orientiert“, sagt Kleinert, | |
„das heißt, der Vergleich mit anderen ist in uns verankert und hängt von | |
den Beziehungen zu anderen Menschen ab.“ | |
Hier stellen uns Instagram, Tiktok und auch Strava ein Bein. Seit vier, | |
fünf Jahren seien auf Social Media zwar auch Leute aktiv, die Fehler | |
machen, die Dinge nicht so richtig können. Überwiegend präsentierten sich | |
aber die Könner, sagt Kleinert. Wir vergleichen uns so automatisch mit | |
einer Auswahl an Menschen, die nicht die Realität abbilden. Das Resultat: | |
Wir blicken in einen manipulierten Spiegel und fühlen uns im Vergleich | |
immer minderwertiger. „Das ursprüngliche Selbstwertprinzip funktioniert auf | |
Social Media nicht mehr, weil Vergleiche oft einseitig negativ ausfallen“, | |
sagt Kleinert. „Das ist ein Problem für die Freude an Leistung.“ | |
Auf Sport-Apps übertragen kann das bedeuten, dass wir utopische Bestzeiten | |
von uns erwarten – und uns schlecht fühlen, wenn wir sie nicht erreichen. | |
Parallel zum Hype um die App gründen sich in vielen Städten zunehmend | |
Laufclubs. Laufen ist Lifestyle geworden, Strava schreibt in seinem | |
Jahresreport 2024 sogar ganz unironisch, dass Laufclubs die neuen | |
Nachtclubs seien. Theoretisch ist Joggen einer der günstigsten Wege, sich | |
zu bewegen. Ein ausgebeultes Schlafshirt, Hose egal, die Schuhe sollten | |
etwas federn und los, Meter machen. Theoretisch. | |
Auf Social Media gab es 2024 den Trend, sein teuerstes Outfit anzuziehen. | |
Ein Sportinfluencer zeigt sich im schwarzen Nike-Ganzkörperlook, neonpinken | |
Schuhen mit Carbonsohle, GPS-Uhr, Sportbrille von Prada. Es scheint, als | |
ginge es nicht nur darum, schnell, weit und häufig zu laufen, sondern dabei | |
auch noch krass auszusehen. | |
Gerlach läuft auch regelmäßig bei einem Laufclub mit. Sie joggen | |
sonntagmorgens, danach trinken sie oft zusammen Kaffee. Peter Duran hat die | |
Gruppe in Berlin vor rund fünf Jahren mitgegründet. Ihm sei es nicht darum | |
gegangen, einen Lifestyle zu hypen. Er wollte zusammen mit Freund:innen | |
laufen, dann kam die Coronapandemie und immer mehr Leute schlossen sich | |
ihnen an. Mittlerweile sind 200 Leute Teil der Gruppe, manche laufen jede | |
Woche mit, andere selten. | |
Warum, glaubt er, ist Laufen gerade in? „Wenn ich pessimistisch bin, glaube | |
ich, dass der Kapitalismus es geschafft hat, Laufen cool darzustellen.“ | |
Marken versuchen sich in die Laufclubs einzukaufen, sponsern Shirts für die | |
Gruppe, auch mal Laufschuhe. Der Sport, der bis vor ein paar Jahren noch | |
von Boomern in neonleuchtenden Outfits angeführt wurde, bekommt so einen | |
elitären Look. | |
Aber Duran hat auch eine andere Erklärung: „Viele haben das Bedürfnis nach | |
einer Gruppe.“ Sozial seien wir sehr entkoppelt, wir verbrächten mehr Zeit | |
vor Bildschirmen als mit anderen Menschen. Im Laufen finden viele | |
Gemeinschaft. „Das ist auch das, was mich am Glücklichsten daran macht“, | |
sagt er. Die Gruppe feuert sich gegenseitig an, wenn sie gemeinsam | |
trainiert, bei Wettkämpfen und natürlich auf Strava: „Krasses Volumen“, | |
„Maschine“, „wohoo“. Da will man das Level halten. | |
Kira Gerlach sagt, es mache ihr gar nicht unbedingt etwas aus, wenn andere | |
ihre Zeiten sehen. Dass sie wiederum immer sehen kann, wie viel die anderen | |
trainieren, das stresst sie zunehmend. Wenn Freund:innen, mit denen sie für | |
den Marathon trainiert, schon wieder einen langen Lauf hochgeladen haben, | |
denkt Gerlach daran, dass ihr wöchentlicher Longrun noch aussteht. | |
1. Juni: 16,22 km, 5:16/km | |
4. Juni: 10,03 km, 5:08/km – after work | |
6. Juni: 9,03km, 4:37/km – 5x1000 m Intervalle | |
8. Juni: 7,05 km, 5:03/km | |
Sie beginnt, Verabredungen am Samstagabend abzusagen, trinkt lieber nichts | |
und geht früh ins Bett, weil sie am nächsten Morgen zum Trainieren | |
verabredet ist. | |
9. Juni: 17,11 km, 4:41/km, Sonntag 8:49 Uhr | |
11. Juni: 6,82 km, 4:01/km, 5x800 | |
12. Juni: 15,25 km, 5:15/km | |
14. Juni: 7,13 km, 4:18/km – Tempo | |
17. Juni: 10,13 km, 5:03/km | |
19. Juni: 9,17 km, 283 Höhenmeter | |
22. Juni: 15,24 km, 604 Höhenmeter – steile, rutschige Waldwege und zwei | |
Flüsse zu überqueren | |
23. Juni: 22,03 km, 5:30/km – durch Bern | |
Zum diesen 22 Kilometern postet sie ein Foto der Aare, die sich klar durch | |
die Schweizer Stadt schlängelt. Was auf Strava nicht zu sehen ist: Gerlach | |
hatte gar nicht unbedingt Lust auf diesen Halbmarathon. Ihr linkes Bein | |
schmerzt beim Laufen, von der Hüfte zieht es runter in den Oberschenkel. | |
Sie ignoriert das: „Beim Laufen hat man immer mal Wehwehchen.“ | |
Eigentlich bräuchten wir eine ausgeprägtere Fehlerkultur, sagt Jens | |
Kleinert. „Da gibt es diesen schönen Begriff der Self-Compassion, übersetzt | |
heißt das so viel wie Selbstmitgefühl.“ Gemeint sei, dass man nicht zu hart | |
mit sich ins Gericht geht. Wenn man nicht die drei Kilo abgenommen hat, | |
nicht gewonnen hat oder auch mal drei Wochen nicht beim Sport war, solle | |
man sich das selbst verzeihen und sich stattdessen fragen: Was bedeutet das | |
und wie gehe ich damit um? | |
Das Gleiche gelte für eine soziale Fehlerkultur. „Einen Trainer, der auch | |
mal sagt ‚ist okay, wenn du heute keinen Bock hast‘, sehen wir in der | |
Fitnessbranche eher selten“, sagt Kleinert. „Meistens heißt es pushen, | |
pushen, pushen.“ Ganz selten sieht man auf Strava Läufe, die abgebrochen | |
werden, „gar keine Lust heute“, schreibt eine Frau. Statt Flammen werden | |
Umarmungs-Emojis kommentiert. | |
Rückblickend sagt Gerlach über den Lauf in Bern: „Das war der Moment, wo | |
ich einfach mal auf meinen Körper hätte hören sollen.“ Es habe immer mal | |
Tage gegeben, an denen sie keine Lust hatte, aber während des Laufens sei | |
der Spaß gekommen. Im Juni muss sie sich aber durch Trainingseinheiten | |
durchbeißen, die Freude bleibt aus. „Alles fühlte sich anstrengender an“, | |
sagt Gerlach und sie merkt, die Leistungskurve geht nicht mehr hoch. | |
Der Sportpsychologe Oliver Stoll sagt, es bestehe die Gefahr, sich zu viel | |
zuzumuten. Viele würden nicht richtig essen, hätten einen Vollzeitjob und | |
wollten gleichzeitig Topleistungen im Sport bringen. Alles zu jonglieren – | |
schwierig. Was ist der häufigste Fehler? „Falsche Pausen“, antwortet Stoll | |
direkt. „Radfahren gehen, das ist keine Pause.“ Die Belastung auf den | |
Muskeln und Knochen sei zwar eine andere als beim Laufen, aber das | |
Herz-Lungen-System werde trotzdem gefordert. „Und diese Beanspruchung ist | |
genauso hoch.“ | |
Wer zu intensiv mit einem zu hohen Pensum trainiert, könne in einen | |
Übertrainingszustand geraten. „Und da kommt man nur schwer wieder raus“, | |
sagt Stoll. Symptome seien permanente Müdigkeit, obwohl man viel schläft, | |
und eine höhere Ruheherzfrequenz als gewöhnlich. „Dieser Zustand ist nicht | |
so schlimm wie ein Kreuzbandriss, aber es haut einen aus der | |
Saisonplanung.“ Stoll habe schon Läufer:innen erlebt, die drei, vier | |
Monate in dem Energietief festhingen. Was helfe, sei, die Belastung | |
runterfahren, essen, zunehmen – und nicht zu früh wieder anfangen. | |
25. Juni: 5,41 km, 3:59/km – 5x800 | |
27. Juni: 13,25 km, 5:23/km | |
28. Juni: 11,11 km, 4:44/km – nachts um halb 10 nach Hause gelaufen | |
30. Juni: 18,06 km, 5:14/km, 20:30 Uhr | |
Gerlachs Bein tut weh. Nicht mehr nur am Ende eines Laufs, sondern immer | |
ein bisschen. An Abenden, an denen sie frei hat und Freund:innen treffen | |
könnte, ist sie zu erschöpft, hat keine Lust, unter Leute zu gehen. | |
Das Laufen entwickelt sich von einer Freizeitaktivität zu einem | |
zusätzlichen To Do auf der ohnehin langen Liste. Im Trainingsplan geben | |
bunte Felder vor, an welchem Tag Gerlach wie lange laufen soll: Dienstags | |
langsamer Dauerlauf, donnerstags soll sie schnell sein. Feuerrot leuchten | |
die Tage, an denen sie eine Halbmarathondistanz zurücklegen soll. Sechs | |
Stunden und mehr nimmt das Training pro Woche in Anspruch. | |
Sie braucht das Laufen für den Kopf, den Flow, damit die Gedanken schweigen | |
und der Stress nachlässt. Aber Rennen kostet viel Energie, die ihr dann bei | |
der Arbeit fehlt. | |
2. Juli: 6,33 km, 5:52/km | |
3. Juli: 11,05 km, 5:17/km | |
5. Juli: 21,21 km, 5:03/km | |
7. Juli: 20,01 km, 5:28/km | |
Trotz vieler Dehnübungen und Faszienrolle lässt der Schmerz im Bein nicht | |
nach. Auch beim Gehen sticht es manchmal. Gerlach geht zum | |
Physiotherapeuten, er sagt, es muss nicht, aber es könnte etwas am Knochen | |
sein. | |
9. Juli: 10,40 km, 5:13/km | |
10. Juli: 9,44 km, 5:07/km | |
und dann | |
13. Juli: 30,07 km, 5:19/km, 2h 41min – getting lost in the forest with | |
myself | |
„Eine richtig dumme Aktion“, wie Gerlach sagt. Übers Wochenende fährt sie | |
in ein Haus am See. Sie will sich herausfordern, also steigt sie früher aus | |
dem Zug und läuft die restliche Strecke durch dichten Wald, vorbei an | |
Heufeldern, über Wiesen. Unterwegs nimmt sie die Kopfhörer raus, um die | |
Natur zu hören. Vorher hat sie eine Schmerztablette geschluckt. | |
Als sie ankommt und in den See springt, einen Beinschlag macht, durchfährt | |
sie höllischer Schmerz. Als würde ihr Körper schreien: Hör endlich auf! Das | |
MRT ein paar Tage später ergibt: Ermüdungsbruch, Grad 3 von 5. Im linken | |
Oberschenkel nahe der Hüfte sind durch das intensive Laufen Haarrisse im | |
Knochen entstanden, in die Flüssigkeit eingedrungen ist. In beiden | |
Hüftgelenken, da wo der Oberschenkel auf die Hüfte trifft, hat sie | |
Blutergüsse. | |
Wenn man so viel läuft, dass der Knochen nachgibt, hat das dann mit Sucht | |
zu tun? Oliver Stoll zählt auf, welche Faktoren zu einer Suchterkrankung | |
gehören. Man steigert die Dosis, isoliert sich, fokussiert sich auf die | |
suchterhaltende Tätigkeit, hat Entzugssymptome. Und ganz entscheidend, man | |
leidet darunter, dass man es macht. „Süchtige wollen gar nicht | |
weitermachen, aber es ist der einzige Weg, das Spannungsgefühl loszuwerden. | |
Die haben so große Blasen an den Füßen, dass das Fleisch bis zum Knochen | |
offen liegt, und laufen trotzdem weiter“, sagt Stoll. Sportsucht, die | |
offiziell auch gar nicht diagnostiziert werden kann, gäbe es ganz selten. | |
Weniger als ein Prozent der Menschen, die Sport treiben, seien davon | |
betroffen. | |
Zu einem anspruchsvollen Ziel gehörten die Tage, an denen man keinen Bock | |
hat, dazu. „Das ist normal im Sport“, sagt Stoll, „das finde ich nicht | |
schlimm.“ Wenn die Lust aber jeden Tag fehlt oder man verletzt ist und | |
trotzdem laufen geht, „dann hat man ein Problem“. Für Oliver Stoll klingt | |
Gerlachs Fall nach Leidenschaft. Die trete in zwei Varianten auf, | |
harmonisch oder zwanghaft. Die zwanghafte Leidenschaft sei eine Vorstufe zu | |
dem, was mal eine Suchterkrankung werden könne. | |
Zehn Wochen darf Gerlach gar nicht laufen gehen, am Anfang nicht mal | |
spazieren, sie soll Treppenstufen meiden. Zuerst will sie sich nicht | |
eingestehen, dass aus dem Marathon nichts wird. Sie beruhigt sich mit dem | |
Gedanken, dass es ohne hohe Ambitionen klappen könnte, wenn sie einfach | |
entspannt mitläuft? Doch ihr [4][Pensum fällt schlagartig] von rund 50 | |
Kilometern pro Woche auf null. Wohin jetzt mit dem Stress? Manchmal kriecht | |
ihr die Anspannung zwischen die Rippen, schnürt ihre Brust zusammen und | |
Panik breitet sich darin aus. | |
„Aber dann war da auch eine Erleichterung“, sagt Gerlach im Nachhinein, | |
„weil es mich gezwungen hat, eine Pause zu machen.“ Nach zwei Wochen merkt | |
sie, dass es ihr körperlich wieder viel besser geht, dass sie wieder | |
Energie hat. Den Marathonplatz gibt sie weiter und vergräbt sich in ihrem | |
anderen Großprojekt, der Masterarbeit. | |
Mit ein paar Monaten Abstand gesteht sich Kira Gerlach ein, dass sie sich | |
mit dem vielen Training selbst keinen Gefallen getan hat. „Ich war wie in | |
einem Tunnel“, sagt sie, „habe einfach weitergemacht und mich selbst | |
reglementiert.“ Manchmal habe sie sich ihre eigene Freiheit geklaut und | |
weniger im Moment gelebt, stattdessen immer vorausgedacht, immer die | |
nächste Einheit geplant. „Irgendwie immer maximiert.“ | |
Kira Gerlach ist in ihrem Umfeld nicht die Einzige, die sich kaputt gerannt | |
hat. Auf Anhieb kann sie neun Menschen aufzählen, die einen Ermüdungsbruch | |
hatten. Auch Laufgruppengründer Duran hatte welche in beiden Füßen. Kurz | |
vor Weihnachten schreibt ein Physiotherapeut, der in der Gruppe mitläuft, | |
in den Chat: „2024 war, glaube ich, das Jahr der Ermüdungsbrüche.“ Damit | |
sich das im neuen Jahr nicht wiederholt, schickt er eine lange Liste mit | |
Tipps. Man muss genug Kalorien zu sich nehmen, genug Calcium, Proteine, | |
Vitamin D. Kraftübungen und Pausen machen. Laufen ist eben doch nicht | |
einfach aus dem Haus gehen und losrennen. | |
Gibt es ein Anzeichen, dass man übertreibt? Motivationsforscher Jens | |
Kleinert holt aus: „Es gibt intrinsische und extrinsische Motivation.“ | |
Intrinsische Motivation bedeute, dass ich Freude an der Sache habe. „Ich | |
fahre Fahrrad, weil ich gerne Fahrrad fahre. Und nicht, weil ich abnehmen | |
will, weil ich länger leben will, auch nicht, weil ich besser schlafen | |
will, sondern nur, weil ich gerne Fahrrad fahre.“ | |
Wenn man extrinsisch motiviert ist, treibe man Sport, um etwas anderes zu | |
erreichen. Also schlank sein, anderen etwas beweisen, cool sein. „Ziele | |
erreichen ist zwar grundsätzlich gut, aber wenn ich immer nur auf die | |
Konsequenzen schiele und nicht der Sport selbst im Mittelpunkt steht, dann | |
verliere ich irgendwann die Freude am Sport treiben. Und das ist ein | |
Riesenproblem.“ | |
Um dem vorzubeugen, rät Kleinert, sich immer wieder mit einem Freund zu | |
fragen: Macht uns das da gerade noch Spaß? Machen wir das gerne? | |
Bei Strava fehlt diese Funktion. Wie viel Spaß man hatte, will die App | |
nicht wissen. | |
16. September: 3,58 km – erster Lauf nach 10 Wochen Verletzungspause | |
Darunter Emojis mit Herzen, Emojis mit Tröten, Sternschnuppen. | |
Langsam tastet sich Gerlach zurück. Die Uhr sagt ihr, dass sie für einen | |
Kilometer ungefähr eine Minute länger braucht als vor der Verletzung. Und | |
ihr Puls ist auch höher. „Das zu realisieren, war ein harter Moment“, sagt | |
sie. „Am liebsten hätte ich den Puls einfach ausgestellt. Aber ich muss mir | |
einfach Zeit geben.“ | |
Manchmal fühlt sie ein Kribbeln in ihrem Oberschenkel. Dann kriege sie | |
Angst und frage sich: „Ist da wieder was oder bilde ich mir das ein?“ | |
21. Oktober: 9,25 km, 5:35/km – never felt so unfit | |
Um sich vor einer erneuten Verletzung zu schützen, macht sie jetzt | |
Krafttraining. Kniebeugen mit einer Hantelstange, Kniebeugen auf einem | |
Bein, Kniebeugen mit Schwung und Kettlebell. Außerdem: Plyometrics. Das | |
sind explosive Sprünge, die helfen sollen, die Knochen zu verdichten. Sie | |
achtet darauf, mehr zu essen – Kohlenhydrate vor dem Sport, Proteine danach | |
– und vor allem, nicht mehr morgens mit leerem Magen laufen zu gehen. Wenn | |
man nicht abnehmen will, ist das gerade für Frauen ein No Go, weil der | |
Körper dann auf Reserven zurückgreift und so verletzungsanfälliger wird. | |
Und, vielleicht besonders schwer: Auf drei Tage Training folgt ein Tag | |
Ruhe. | |
17. Januar: 13,33 km, 5:26 km – mit den girls | |
20. Januar: 10,11 km, 4:43/km – Tempo gemacht | |
25. Januar: 21,05 km, 5:15/km, 1h 50min | |
28. Januar: 8,4 km, 4:14/km – Intervall Pyramide | |
400-600-800-1000-800-600-400 | |
Für dieses Jahr nimmt Kira Gerlach sich drei Dinge vor: ein Training auch | |
mal ausfallen lassen, wenn sie keine Lust hat, den Marathon in Kopenhagen | |
laufen und davor, Mitte Februar, den Halbmarathon in Barcelona. | |
Kurz vor dem Start in Barcelona ist sie unsicher. Sie will den Lauf | |
genießen und gleichzeitig wissen, was ihr Körper nach der Verletzung wieder | |
kann. Für ihr Selbstbewusstsein wäre es ein Push, wenn sie eine gute Zeit | |
läuft, sagt sie. Was ist drin? | |
16. Februar: 21,30 km, 4:21/km, 1h 32min – so happy with this one! | |
Eine silberne Medaille glänzt auf Strava. Das war Gerlachs zweitschnellster | |
Halbmarathon, sie war nur eine Minute langsamer als vor der Verletzung. | |
„She’s back“, schreibt eine Freundin darunter. | |
25 Feb 2025 | |
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## AUTOREN | |
Sophie Fichtner | |
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