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# taz.de -- Abnehmen mit Diabetes-Medikament: Spritze statt Sport
> Um Semaglutid gibt es einen Hype. Der Wirkstoff senkt den Blutzucker bei
> Diabetes – und hilft beim Abnehmen. Doch Medikamente mit ihm bergen
> Risiken.
Bild: Von vielen gefürchtet und regelmäßig genutzt: Die Waage
Da ist sie also, die lang ersehnte Wunderpille, die die Fettpolster
schmelzen lässt, [1][ohne sich dabei extrem kasteien zu müssen]. Der
Wirkstoff Semaglutid, der eigentlich zur Blutzuckersenkung bei Diabetikern
entwickelt wurde und dafür unter dem Namen „Ozempic“ seit Jahren zugelassen
ist, hat in aktuellen Studien erstaunliche Effekte auf das Körpergewicht:
Bei Jugendlichen zum Beispiel hat eine wöchentliche Spritze über 16 Monate
in Kombination mit einer Verhaltenstherapie zu einem Gewichtsverlust von
mindestens 20 Prozent bei einem Drittel der Teilnehmenden geführt.
Ähnliches belegen Studien mit erwachsenen Probanden.
Nichts weniger als ein „Gamechanger“ sei es, sagen Mediziner, mit dem man
vielen Patienten helfen könne. Die US-amerikanische Gesundheitsbehörde FDA
hat das Mittel in einer anderen Dosierung unter dem Namen „Wegovy“ darum
2021 ab einem BMI von mehr als 30 zugelassen, 2022 folgte die europäische
EMA dieser Entscheidung. Seither kann Wegovy vom Arzt verschrieben werden,
auch bei chronisch kranken Menschen.
Doch die Diätspritze hat sich zu einem Lifestyle-Medikament für nicht dicke
Menschen gemausert. Gepusht durch Erfahrungsberichte in den sozialen Medien
ist ein regelrechter Hype um Semaglutid entstanden: Elon Musk hat laut
eigenen Angaben auf Twitter damit einige Pfunde verloren, Kim Kardashian
wird es zumindest unterstellt, und sogar auf der Oscarverleihung
vergangenen März wurde es thematisiert. Moderator Jimmy Kimmel scherzte am
Anfang der Show: „Wenn ich mich hier so umsehe, frage ich mich, ob Ozempic
auch das Richtige für mich ist.“ Allein auf TikTok haben mehr als 600
Millionen Menschen die Hashtags #Ozempic oder #Wegovy aufgerufen.
Zwar gab es auch schon vorher Diätpillen, diese [2][hatten jedoch starke
Nebenwirkungen] oder waren wenig effektiv. „Wir hatten noch nie
Medikamente, die auch nur in der Nähe einer Effektivität waren, wie wir es
jetzt erleben“, sagt Jens Aberle, Präsident der Deutschen
Adipositas-Gesellschaft (DAG).
## Semaglutid aktiviert Bauchspeicheldrüse
Die Arznei funktioniert so gut, weil sie dort ansetzt, wo der Hunger
entsteht, nämlich im Gehirn. Dockt der Wirkstoff an bestimmten
Hormonrezeptoren im Hypothalamus an, wird über Signalkaskaden mehr Insulin
aus der Bauchspeicheldrüse entlassen, der Blutzucker sinkt, zugleich wird
das Hungergefühl gedrosselt.
Das Medikament wird einmal wöchentlich über einen Fertig-Pen gespritzt und
man hat dann laut diversen Erfahrungsberichten einfach keinen echten Hunger
mehr und ist auch schneller satt. [3][Konservative Strategien wie Fasten]
und Bewegung sind hingegen selten wirksam, von rund 10 Abnehmwilligen
schafft es im Schnitt einer, langfristig das Gewicht zu halten. Nur die
operativen Therapien wie Magenverkleinerung zeigen bessere Erfolge, sind
aber auch nur für stark Übergewichtige ratsam.
Die häufigsten Nebenwirkungen der neuen Medikamente sind Übelkeit und
Durchfall oder Kopfschmerzen. „Semaglutid ist zwar insgesamt gut
verträglich“, sagt Aberle, „anders als in der Berichterstattung und in den
sozialen Medien teilweise vermittelt wird, sind die neuen Medikamente aber
keine leichtfertig einzusetzenden ‚Abnehm-Spritzen‘ für die
Allgemeinbevölkerung.“
Denn noch ist unbekannt, was die Medikamente bei gesunden Personen
bewirken. Zwar ist Ozempic verschreibungspflichtig, dennoch ist die Arznei
offenbar so häufig ausgehändigt worden, dass der Hersteller Novo Nordisk
die Nachfrage nicht mehr bedienen kann und die Arznei nun auch für
Diabetiker Mangelware ist.
„Seit Beginn 2022 wird ein stetiger Anstieg des Verbrauchs beobachtet, der
unter anderem durch den Off-Label-Einsatz dieser Arzneimittel in der
Behandlung der Adipositas hervorgerufen wird“, sagt ein Sprecher des
Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte auf Anfrage der taz.
Auch die Markteinführung von Wegovy ist aufgrund von Lieferengpässen noch
nicht erfolgt.
## Abnehmen mit Risiko
Die Tatsache, dass die Spritzen in der Fachwelt so einen guten Ruf haben,
ist einer der Gründe für den medialen Hype. „Diäten und [4][das Bedürfnis,
schlank und schön zu sein], sind ja schon lange Themen, die viele Menschen
in den sozialen Medien beschäftigen“, sagt Eva-Maria Endres,
Ernährungswissenschaftlerin und Autorin des Buchs „Ernährung in Sozialen
Medien“.
„Auf dieses Thema trifft nun eine gut getestete und wirkungsvolle
Wunderpille, die auf dem Weg zum Wunschgewicht zudem nicht mehr mit
Restriktionen und hartem Workout verbunden ist.“ Bei der ganzen
Berichterstattung in TikTok, Insta und Co geht allerdings unter, dass
Semaglutid allein nicht so viel hilft, sondern trotz allem eine gewisse
Anpassung auch beim Essen oder im Fitnessstudio vonnöten ist.
Verfolgt man die Erfahrungsberichte in den sozialen Medien, häufen sich in
letzter Zeit dann auch Warnungen: Durch die schnelle Gewichtsreduktion
hängt zum Beispiel die Haut schlaff an bestimmten Körperpartien, wo vorher
Fett von innen straffte, etwa im Gesicht. „Ozempic face“ ist darum ein
immer häufiger auftretender Begriff geworden.
In einigen Fällen ist es zum Darmverschluss gekommen, zudem droht beim
Absetzen der bekannte Jo-Jo-Effekt. Doch das hält die User:innen nicht
ab. „Viele Menschen leiden ja sehr unter dem Schlankheitsdiktat, sie
denken: Wenn ich dünn bin, wird alles gut, da nimmt man auch Risiken in
Kauf“, so Endres.
## Wenige Fachkräfte auf Social Media
Auch der Kommunikationswissenschaftler Joachim Allgaier von der Universität
Fulda glaubt nicht, dass negative Berichte den Hype bremsen können: „Wegen
des sogenannten confirmation bias hört man nur, was man hören will.“
Zudem gebe es gerade im Ernährungsbereich wenige Fachkräfte, die in den
sozialen Medien aktiv und präsent seien. „Das Thema wurde einfach von den
Experten verschlafen“, so Allgaier. „Zwar gibt es mittlerweile eine gute
Wissenschaftskommunikation vor allem auf YouTube und Instagram, aber TikTok
ist wieder ein Feld, das besonders offen ist für [5][jedwede Art von
Behauptungen und Fehlinformation].“ Die DAG ist etwa nur auf Twitter
präsent. „Wir sind nicht auf allen sozialen Netzwerken und haben dafür auch
keine Kapazitäten“, erklärte die DAG auf Anfrage der taz.
## Großer Schaden
Der gesellschaftliche Schaden ist derweil immens. Einerseits kommt es durch
dieses Ungleichgewicht zu einer Erosion der Expertise. „Es wird den echten
Wissenschaftlern nicht mehr geglaubt“, sagt Allgaier. „Mit allen negativen
gesundheitlichen Konsequenzen, wenn man etwa eine gefährliche Diät macht,
die irgendein Heilpraktiker empfiehlt.“ Andererseits [6][steigt die Gefahr
für Essstörungen] sowie damit zusammenhängenden psychischen Leiden wie
Angststörungen und Depressionen bei Menschen, die viel in sozialen Medien
unterwegs sind. Das zeigen immer wieder Studien.
Auf TikTok erreicht die Diskussion über das Abnehmpräparat nun ein sehr
junges Publikum, das teils noch in der Pubertät steckt und erheblich
beeinflussbar in Sachen Körperidentität ist. Psychologen fürchten, dass das
den Druck Richtung Schlankheit nochmals erhöhen wird.
Auf der anderen Seite können dicke Menschen, die bereits mit
Folgekrankheiten zu kämpfen haben, von der Spritze profitieren. Ein
gefährlicher Hype für die einen, für die anderen ein Medikament, das sie
gesünder macht.
16 May 2023
## LINKS
[1] /Die-Wahrheit/!5785877
[2] /Herzfehler-durch-Diaet-Pillen/!5630164/
[3] /Fasten/!t5036618
[4] /Soziologin-ueber-Dicksein/!5094578
[5] /Desinformation-im-Netz/!5874986
[6] /Psychologin-ueber-Essstoerungen/!5751281
## AUTOREN
Kathrin Burger
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