# taz.de -- Psychologin über Essstörungen: „Die Anzahl nimmt zu“ | |
> Das Sich-Vergleichen ist ein Risikofaktor für Essstörungen, sagt die | |
> Osnabrücker Psychologin Silja Vocks. Ist das Body Positivity-Konzept eine | |
> Lösung? | |
Bild: Elendiges Vermessen: Szene aus den Räumen der Agentur Mcfit Model Berlin | |
taz: Frau Vocks, können Sie messen, wie egal jemandem der eigene Körper | |
ist? | |
Silja Vocks: Wir wollen mit unserer Forschung hier in Osnabrück unter | |
anderem herausfinden, inwiefern Frauen und Männer unterschiedliche | |
Standards setzen, wenn sie ihren Körper bewerten. Viele Studien haben | |
gezeigt, dass Frauen durchaus unzufriedener mit dem eigenen Körper sind als | |
Männer. Diese Unzufriedenheit bezieht sich auch auf andere | |
Leistungsdimensionen. In unseren Studien manipulieren wir beispielsweise | |
die Identität von verschiedenen Körpern, indem wir mittels Bildbearbeitung | |
Köpfe auf diese unterschiedlichen Körper setzen. Wir haben mit dieser | |
Methode herausgefunden, dass ein und derselbe Körper unterschiedlich | |
bewertet wurde, wenn der eigene Kopf oder ein fremder Kopf verwendet wurde. | |
Gilt das für Frauen und Männer? | |
Das Ausmaß dieser Doppelstandards unterschied sich zwischen den | |
Geschlechtern. Wenn der eigene Kopf draufgesetzt war, wurde der Körper von | |
den Frauen teilweise negativer bewertet und auch die Fettmasse höher | |
eingeschätzt, während es bei Männern gerade bei den Körpern, die dem Ideal | |
entsprachen, eher so war, dass der Körper positiver bewertet wurde, wenn er | |
die eigene Identität hatte. Bei Frauen mit den Essstörungen Magersucht und | |
Bulimie waren diese Doppelstandards noch mal stärker ausgeprägt. | |
Woran liegt das? | |
Das ist schwer zu sagen, es ist kaum experimentell zu untersuchen. Aber es | |
ist sicherlich auch eine gesellschaftliche Sache. Dass die Bewertung des | |
Aussehens bei Frauen durch Außenstehende oft stärker in den Vordergrund | |
rückt, ist in unserer Gesellschaft leider so. Bei Frauen wird außerdem der | |
sogenannte „Fett-Talk“ untersucht: Wenn Frauen mit anderen Frauen über ihr | |
Gewicht sprechen, dann verwenden sie meist sehr negative Worte: „Ich habe | |
zugenommen“, „Das ist hässlich“. Diese Art, über den eigenen Körper zu | |
sprechen, ist sozial akzeptiert und schafft auch Nähe zwischen den Frauen. | |
Da variiert also nicht nur die Bewertung der Körper zwischen den | |
Geschlechtern, sondern auch das, was an Eigenlob akzeptiert ist. | |
Sehen Sie darin eine Gefahr? | |
Ein negatives Körperbild, Schlankheitsstreben sowie Figur- und | |
Gewichtssorgen sind ja ganz zentrale Faktoren für die Entstehung und | |
Aufrechterhaltung von Essstörungen. Die epidemiologischen Daten zu | |
Essstörungen deuten darauf hin, dass die Betroffenen immer jünger werden. | |
Das kann verschiedene Gründe haben. Nachdem man lange davon ausgegangen | |
ist, dass die Anzahl der Neuerkrankungen mit Essstörungen stagniert, gibt | |
es jetzt neue Studien, die doch wieder einen Trend nach oben aufzeigen. Die | |
Frage ist, ob das möglicherweise unter anderem mit der immer stärkeren | |
Nutzung von Social Media zusammenhängen könnte, also damit, dass man hier | |
permanent mit dem Schlankheitsideal konfrontiert wird und sich das | |
Schlankheitsideal immer stärker einen Weg ins Leben der Betroffenen bahnt. | |
Kann der Trend zur Body Positivity dem entgegenwirken? | |
Body Positivity ist eine Bewegung, die das Schlankheitsideal in unserer | |
Gesellschaft kritisiert, das dazu führt, dass die Menschen sich | |
unzulänglich fühlen, wenn sie eben diesem Ideal nicht entsprechen. Diese | |
Bewegung will dem entgegentreten und die Vielfalt von Körperformen in den | |
Vordergrund rücken. | |
Das ist doch eine gute Sache, oder? | |
Es ist eigentlich erst mal positiv zu bewerten, dass durch Body Positivity | |
jetzt nicht immer nur die extrem schlanken Körper das Ideal darstellen, | |
sondern es da vielleicht mehr Vielfalt gibt. Das, was als schön betrachtet | |
wird – ein gesellschaftliches, soziales Phänomen –, bekommt so | |
unterschiedlichere Facetten. Dennoch wird an der Bewegung kritisiert, dass | |
man zwar verschiedene Körper schön finden möchte, egal ob dick oder dünn, | |
egal ob dem Schlankheitsideal entsprechend oder nicht, aber das Äußere | |
hierbei immer noch ein relevanter Faktor bleibt. Die | |
Body-Neutrality-Bewegung dagegen hat den Gedanken, dass man den Körper | |
akzeptiert, aber diesen nicht so sehr in den Vordergrund rückt und nicht | |
permanent bewertet. | |
Ist Body Positivity ähnlich problematisch wie der Schlankheitswahn? | |
Wenn es nur ein Ideal gibt – ein bestimmter Body-Mass-Index und bestimmte | |
Proportionen –, dann weichen die meisten Personen notgedrungen stark davon | |
ab. Diese Diskrepanz zwischen dem, wie man tatsächlich aussieht, und dem, | |
wie man aussehen möchte, ist ein Indikator für Körperunzufriedenheit und | |
somit ein Risikofaktor für Essstörungen. Deshalb ist natürlich die | |
Diskrepanz nicht so groß, wenn es verschiedene „Ideale“ gibt. Aber | |
nichtsdestotrotz sind aufwärts gerichtete soziale Vergleichsprozesse | |
zumeist problematisch, weil man selbst dabei schlechter abschneidet, was | |
wiederum einen negativen Effekt auf das Selbstwertgefühl hat. | |
Hilft es Menschen überhaupt, wenn sie zwar selbst weniger kritisch auf ihre | |
Körper schauen, aber die Gesellschaft ihren Wert weiterhin an ihrem | |
Aussehen festmacht? | |
Wir wissen, dass sich Personen selbst oft negativer bewerten als die | |
Gesellschaft oder als andere Personen von außen es tun, zumindest bei | |
Frauen. Wenn man sich also selber weniger negativ sehen würde, wäre man ja | |
schon mal näher an der Realität. Es spricht ja überhaupt nichts dagegen, | |
dem eigenen Aussehen Bedeutung beizumessen, sofern dies nicht in | |
selbstschädigende Gedanken und Verhaltensweisen mündet. | |
9 Mar 2021 | |
## AUTOREN | |
Mahé Crüsemann | |
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