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# taz.de -- Anorexie-Gruppen im Internet: „Schöne Mädchen essen nicht“
> Junge Frauen unterstützen sich online beim Hungern, fremde Männer
> „coachen“ sie – mit verstörenden Mitteln. Eine Recherche in
> Anorexie-Gruppen.
Bild: In Chatgruppen werden die Körper junger Mädchen hart beurteilt
Die Nachricht poppt an einem Samstagabend um 21.10 Uhr auf meinem Handy
auf. Ein Mann, den ich noch nie in meinem Leben gesehen habe, schreibt mir:
„Ich weiß was dünn ist … ob es das richtige ist sich die Gesundheit so zu
ruinieren musst du selbst wissen Ich würds dir aber raten wenn ich mir dein
ganzes fett ansehe“.
Ich habe den Mann im Internet kennengelernt. Er bietet dort als sogenannter
Ana-Coach seine Dienste an. Ana steht für [1][Anorexie], Magersucht. Der
Mann hilft essgestörten Mädchen und jungen Frauen dabei, noch magerer zu
werden, als sie sowieso schon sind.
Ich habe ihn während meiner Recherchen für eine Schülerzeitung
kennengelernt. Ich habe so getan, als sei ich daran interessiert, mich auf
ein Gewicht weit unter dem Normalgewicht herunterzuhungern. Ich bin 15
Jahre alt und gehe auf ein Berliner Gymnasium. Mit Essen habe ich selbst
keine Probleme. Das Thema Magersucht interessiert mich, weil es auch in
meinem Freundes- und Bekanntenkreis immer mehr Mädchen gibt, die Probleme
damit haben.
Die Recherche wird mich in eine Welt führen, in der magersüchtige
Teenagerinnen gegenseitig kontrollieren, was sie essen dürfen – und sich
bestrafen, wenn die verabredete Kalorienmenge nicht eingehalten wird. Und
sie führt mich zu Männern, die sich „Coaches“ nennen und denen auf der Ja…
nach Nacktbildern fast jedes Mittel recht zu sein scheint. Es ist die Welt
der Pro-Ana-Communitys, die in sozialen Medien, Onlineforen und
Messengerdiensten zusammenkommen.
## Keine harmlose Marotte
Nach Einschätzung vieler Expert:innen ist Magersucht unter jungen Frauen
weit verbreitet. Sie ist keine harmlose Marotte, die man nicht weiter ernst
zu nehmen braucht. Für viele endet sie tödlich. Fast jede:r zehnte
Betroffene stirbt an den körperlichen Folgen oder begeht mit diesem
Krankheitsbild Suizid, heißt es in einem [2][Artikel des Deutschen
Ärzteblatts]. Und Magersucht ist in der Regel auch nichts, was von allein
wieder verschwindet. Viele Betroffene haben jahrelang mit ihr und ihren
Auswirkungen zu kämpfen.
Bei Magersucht unterscheidet man zwei Kategorien: Anorexia nervosa und
Anorexia athletica. Bei der ersten hungern sich die Betroffenen runter, bei
der zweiten machen sie zudem exzessiv Sport. Daneben gibt es noch Bulimie,
bei der die Betroffenen entweder extrem viel essen, nur um sich danach zu
erbrechen (Purging-Typ), oder Essattacken haben, die aufgenommene Nahrung
aber bei sich behalten (Non-purging-Typ) und sie dann durch Fasten oder
Sport auszugleichen versuchen. Neben den „Pro-Ana“-Communitys gibt es auch
die „Pro-Mia“-Communitys für Bulimiekranke.
In den Pro-Ana-Communitys verherrlichen die Betroffenen ihre Krankheit,
geben sich Abnehmtipps und motivieren sich gegenseitig. Meistens posten sie
dazu bei Tumblr, Pinterest, Instagram oder in Messengern Fotos von extrem
dünnen, trainierten oder knochigen Körpern, die sie mit einschlägigen
Hashtags versehen. Das Kürzel „-spo“ steht für „Inspiration“.
Manchmal schicken Betroffene sich auch Bilder, auf denen normale bis
übergewichtige Menschen abgebildet sind. Das soll abschreckend wirken. Oder
sie schicken sich vulgäre Texte, die ihre Leser:innen gezielt beleidigen
sollen, etwa als „fettes Schwein“. Mit anderen Botschaften wiederum werden
die Leser:innen regelrecht in den Arm genommen und mit Zuversicht
überschüttet. Und dann gibt es noch Motivationssprüche wie „Nichts schmeckt
so gut, wie sich dünn sein anfühlt“; „Hungry to bed, hungry to rise –
makes a girl a smaller size“, also „Hungrig ins Bett, hungrig aufstehen –
sorgt dafür, dass Mädchen eine kleinere Größe haben“; und „Schöne Mäd…
essen nicht“.
In den Foren und Chatgruppen werden die Süchte oft auch vermenschlicht.
Viele Mädchen schreiben Briefe an ihre „beste Freundin Ana“ und richten
ihre Lebens- und Essgewohnheiten ganz nach deren Regeln aus, fast wie bei
einer Sekte. Das ist vor allem in den Ana- und weniger in den
Mia-Communitys (Bulimie) zu beobachten, doch die Übergänge sind fließend.
„Anas“ Regeln beziehen sich vornehmlich auf Nahrungsaufnahme und Sport,
aber auch auf Selbstbestrafung, also noch mehr Hungern oder
selbstverletzendes Verhalten.
Auf Instagram ist es besonders einfach, mit Anhängerinnen der Ana-Community
in Kontakt zu treten. Wenn man die richtigen Suchbegriffe kennt, wird man
schnell fündig. Oft sind ihre Instagram-Biografien durch Informationen
ergänzt. Das kann neben dem Nutzernamen die Größe, das Alter oder die
Nationalität sein, aber auch ihr Startgewicht, ihr aktuelles Gewicht, ihr
Zielgewicht, ihr Traumgewicht und ihr BMI (Body-Mass-Index).
Die Mädchen und jungen Frauen geben in ihrem Profil außerdem an, ob sie Mia
(Bulimie) oder Ana (Anorexie) haben. Darüber hinaus findet man häufig den
Zusatz „pro“ oder „not pro“, der zeigt, ob sie ihre Essstörung als etw…
Positives sehen oder sich davon distanzieren. Unterscheiden tun sich die
Konten der Pro-Anas und Not-pro-Anas jedoch selten. Fast alle posten
Gewichts- und Kalorientracker, Inspirationsbilder und „Bodychecks“, also
Bilder vom eigenen Körper, oftmals nackt, aber an den entsprechenden
Stellen zensiert, oder in Unterwäsche.
Die Mädchen, mit denen ich im Laufe meiner Recherche in Kontakt trete, sind
jung, meistens minderjährig, oft fühlen sie sich wertlos und
vernachlässigt. Auf Instagram finde ich auf Anhieb Hunderte, die sich als
Ana oder Mia beschreiben. Neben untergewichtigen Mädchen sehe ich auch
junge Mütter und Studentinnen.
Doch die Instagram-Auftritte sind nur ein kleiner Teil. Je weiter man sich
in dieses Milieu hineinbewegt, desto abgründiger wird es. Schnell stoße ich
auf die Möglichkeit, an geschlossenen Gruppenchats und privaten Coachings
teilzunehmen.
Zwar wurde der Zugang zu solchen Angeboten in den letzten Jahren erschwert,
weil die entsprechenden Websites öfter gemeldet und von Google gesperrt
oder gelöscht werden, dennoch dauert es nur wenige Minuten, bis ich fündig
werde. Viele der Anzeigen sind erst wenige Tage, teils Stunden alt. Über
die dort vermerkten E-Mail-Adressen, Telefonnummern und Profilnamen soll
man Gleichgesinnte erreichen können.
Über einen Whatsapp-Einladungslink gelange ich in eine Gruppe, die sich
„Vorgruppe“ nennt. In der Beschreibung stehen genaue Anweisungen: „Stellt
euch mit Namen, CW, GW und UGW und Hobbies vor.“ Die Abkürzungen stehen für
das aktuelle Gewicht, das Zielgewicht und das Traumgewicht, das dann noch
mal unter dem Zielgewicht liegt.
Ich sende eine Nachricht mit fiktiven Daten in den Chat. Einen Tag später
schreibt mir die Gruppenleiterin, die sich als Lily vorstellt, es seien
noch Plätze frei, sie würde mich gerne aufnehmen. Am Nachmittag werde ich
zu einer Whatsapp-Gruppe mit sechs weiteren, ausschließlich weiblichen
Mitgliedern hinzugefügt und freundlich begrüßt.
Ich frage die anderen im Chat, wie lange sie schon „pro“, also Anorexie
bejahend, sind. Lily antwortet: „Ich würde nicht sagen, dass ich pro bin.
Hab mich eher damit abgefunden.“
In der Beschreibung stehen die Regeln: Drei Tage Probezeit nach
Gruppeneintritt, Strafpunkte und Verlassenmüssen der Gruppe bei
Nichteinhaltung der Regeln, außerdem muss jeden Freitag ein Foto von der
Waage geschickt und der BMI für das Ranking der Gruppenmitglieder neu
berechnet werden.
Das Profilbild ist eine Tabelle, die anzeigt, wie viele Kalorien man
täglich zu sich nehmen sollte. Ich frage, ob man sich daran orientieren
muss. Eine Teilnehmerin schreibt: „an der auf’m profilbild orientiert sich
glaub ich inzwischen keiner mehr. also ich versuche immer unter 600 kcal zu
bleiben und wenn ich über meinem limit bin alles zu verbrennen:)“.
In ihren Tagesprotokollen geben die Mädchen meistens an, zwischen null und
1.000 Kalorien zu essen. Sobald es mehr als 1.000 Kalorien sind, schämen
sie sich: „natürlich gibt es auch tage an denen es ziemlich scheisse läuft
gerade wenn mein bulimisches verhalten wieder extremer wird und es zu FA’s
[Fressattacken] kommt in denen ich locker 3000 kcal esse:/“.
Daraufhin schreibt eine andere: „es ist halt echt so schlimm, insbesondere
das feeling danach.. ich hatte eben auch nen krassen binge und konnte
danach nicht erbrechen weil meine speiseröhre so am arsch ist. deshalb
gibt’s morgen warscheinlich kein update zu meinem gewicht weil ich mich
nicht auf die waage stellen will. also das ganze wochenende nicht“.
Als ich von den anderen wissen will, was ihr Traumgewicht ist, schreibt
eine: „Ich will meine Knochen sehen“ – „Und fühlen“.
Und: „Bei mir geht es gar nicht mehr so wirklich ums Aussehen sondern um
Kontrolle und Nummern. Es gibt mir auch Halt und das Gefühl von
Geborgenheit.“
Nach einigen Tagen beschließen Lily und ihre Co-Gruppenleiterin, neue
Regeln einzuführen. Von nun an gibt es einen zweiten Gruppenchat. In der
„Protokollgruppe“ sollen wir jeden Abend Auskunft darüber geben, was wir
gegessen und getrunken haben, wie viele Kalorien wir verbrannt haben und
wie wir uns damit fühlen. Anhand eines Punktesystems werden unsere
Auskünfte bewertet. Minuspunkte gibt es bei Essattacken und Alkohol.
Letzteres, weil Alkohol viele Kalorien hat und man schlechter Fett
verbrennt.
Warum tun diese Mädchen sich so etwas an? Um das Krankheitsbild besser zu
verstehen, spreche ich mit einer Expertin über die psychischen Hintergründe
von Essstörungen. Julia Leithäuser ist Psychotherapeutin und
stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung
Nordrhein. Sie sagt: „Es ist derzeit umstritten, welchen Einfluss die
Vererbung genetischer Dispositionen auf die Entwicklung einer Essstörung
hat. Man geht von sogenannten multifaktoriellen Ursachen aus.“ Mit anderen
Worten: Es gibt viele Faktoren, die eine Bulimie oder Anorexie auslösen
können.
Leithäuser sagt auch: „Eine Körperschemastörung ist eigentlich Bedingung,
um mit Anorexie diagnostiziert zu werden.“ Anorektische Frauen sind ihr
zufolge oft perfektionistisch und diszipliniert veranlagt. Sie litten trotz
überdurchschnittlicher Leistungen an Minderwertigkeitskomplexen.
Bulimikerinnen seien impulsiver, kommunikativer und hätten meist auch noch
eine Gewichtsphobie. Beide Erkrankungen gingen häufig mit
Stimmungsschwankungen einher. Laut der Psychologin sind bis zu 1 Prozent
aller Mädchen und Frauen in Deutschland von Anorexie und zwischen 2 und 4
Prozent von Bulimie betroffen – die Dunkelziffer sei Schätzungen zufolge
jedoch höher. Die Datenlage zu Essstörungen bei männlichen Betroffenen ist
eher schlecht.
Die Pro-Ana-Communitys sind laut der Psychologin auch deshalb gefährlich,
weil der Austausch mit Gleichgesinnten ohne psychologische Betreuung die
Krankheit „zumindest aufrechterhalten“ kann. Leithäuser sieht hinter dem
Austausch mit anderen Erkrankten vor allem den Wunsch nach Anerkennung und
Bestätigung. Insbesondere in der Pandemiezeit seien da viele zu kurz
gekommen: „Wir alle brauchen jemanden, der uns ab und zu sagt, dass wir das
gut machen oder in dem Kleid gut aussehen. Das hat in den letzten Monaten
einfach gefehlt.“
Aber was macht es mit dem Körper, wenn man kaum etwas zu sich nimmt?
Ich telefoniere mit der Ernährungsberaterin Manuela Marin. Sie sagt: „So
eine dauerhafte Unterernährung von jungen Menschen kann zu ganz vielem
führen: Haarausfall, dass die Periode ausbleibt, Wachstumsverzögerung,
Osteoporose, manche haben auch Schwächeanfälle.“ Wenn Betroffene
Essattacken haben, sei das aber eigentlich ein gutes Zeichen. Es zeige,
dass „der Körper sich gegen die Sucht wehrt“.
Im Gruppenchat behaupte ich, mit dem Gedanken zu spielen, mir einen
Ana-Coach zu suchen, und frage nach Erfahrungen. „Nein bitte nicht. Ganz
schlimme Erfahrungen“ – „die meisten ana-coaches sind meistens bloß
irgendwelche ekligen notgeilen typen, die einem gar nicht mal helfen
wollen, sondern im laufe der zeit bloß bilder von einem verlangen“ – „ne…
mach das nicht das sind alles nur pedos“, kriege ich als Antwort.
Ein 14-jähriges Mädchen, mit dem ich über Instagram in Kontakt bin,
schreibt mir auf Englisch: „Das war eine der schlimmsten Erfahrungen meines
Lebens. Sie sind schrecklich, ich hatte zwei. Weil nach dem ersten dachte
ich, ich hätte nur Pech gehabt. Aber der zweite war zuerst cool, dann
wollte er Nacktfotos mit Gesicht und allem. Ich habe es nicht gesendet, ich
habe ihn blockiert. Besorg dir niemals einen“. Für die Recherche will ich
mich trotzdem darauf einlassen. Ich will mehr darüber erfahren, wie das
abläuft. Nach einigen Klicks habe ich die Kontaktdaten von vier Coaches.
Mit dreien von ihnen kommuniziere ich auf Englisch, mit einem auf Deutsch.
„Hey. Ich habe deine Anzeige für Coaching gesehen. Gibt es das Angebot
noch?“, schreibe ich einem über den Messenger Kik.
Zwei Tage später, kurz nach 21 Uhr, erhalte ich eine Antwort. „Stell dich
gerne mal vor“, schreibt er. Ich behaupte, 14 Jahre alt zu sein, bei 1,73
etwa 62 Kilo zu wiegen und abnehmen zu wollen. Prompt antwortet er: „okay,
wie lange bist du schon ana? hast du coaching Erfahrung? was wäre dein
Zielgewicht?“ Und fordert „ein paar Bilder“ an, um mich einschätzen zu
können. Ich schreibe, dass ich es zunächst auf 57 Kilo schaffen möchte,
später aber auf 40 bis 42 Kilo, was bei der behaupteten Körpergröße schon
massiv untergewichtig wäre.
„Kann ich dir morgen früh Fotos schicken? Habe gerade keine guten …“,
behaupte ich und frage, was für Bilder er sich vorstellt. „Also mal davon
abgesehen das ich noch nicht weis wie du aussiehst will ich gleich mal klar
stellen das ich kein Fitnesstrainer oder so quatsch bin sondern Ana Coach!
Sprich mit so einem Ziel kriegst du von mir nur ein müdes lächeln, knochen
sehen und spüren ja aber dann richtig“.
## „Ich bin so fett“
Dann kommt ein zweiter Post direkt hinterher: „Na dein körper natürlich
damit ich seh was man noch machen muss und ich kann nichts dafür das du
dich an nen coach wendest wenn du keine guten bilder parat hast also mach
welche“.
Als ich frage, wie alt er sei und seit wann Coach, schreibt er, er sei 21
Jahre alt, männlich und seit 2016 Coach.
Nach kurzer Überlegung entscheide ich mich, ihm einen Ausschnitt von meinem
Bauch zu schicken. „Ich bin so fett“, schreibe ich hinterher. – „Und da…
kommst du mir mit so nem Ziel!? wtf was bildest du dir ein du fettes Ding …
das ist eine Beleidigung für mich als Coach“. „Ich brauche ein Endziel auf
das ich dich bringen soll damit ich weis ob es sich für mich überhaupt
lohnt dir die Aufmerksamkeit zu schenken“. Ein Endziel? Ich gehe noch mal 2
Kilo runter, auf 38 Kilo. „geh nochmal 5kg runter mit deinem ziel und ich
überlegs mir Specki“, schreibt er. Noch mal 5 Kilo weniger? Das hieße: 33
Kilo bei einer Körpergröße von 1,73 Meter. Ich bin schockiert, stimme aber
zu: „Du bist der Profi.“
„ich weiß was dünn ist … ob es das richtige ist sich die Gesundheit so zu
ruinieren musst du selbst wissen Ich würds dir aber raten wenn ich mir dein
ganzes fett ansehe“, ploppt auf meinem Handybildschirm auf. „Ich kann dich
auch komplett kaputt machen das ist deine Wahl, ich bin nur coach und führe
das aus was du mir sagst“, ergänzt er. Als ich ihm im weiteren Verlauf des
Gesprächs sage, dass ich als „Skinnylegend“ sterben möchte, schreibt er:
„Ja du bist fett aber ich arbeite generell mit keinem zusammen der den
wunsch hat zu sterben“.
Ich bettele ihn an, bleiben zu dürfen.
Bevor das Coaching losgeht, verlangt er einen „Fake-Check“. Ich soll ihm
ein Bild schicken, auf dem mein Gesicht zu erkennen ist, außerdem ein
Zettel mit meinem vollen Namen, meinem Gewicht, dem Messengernamen und dem
Datum. Ich schreibe ihm, dass ich unschlüssig bin, ob ich ihm wirklich
vertrauen kann. Und dass ich gehört habe, manche würden das nur machen, um
an Nacktbilder zu kommen.
## „Ich erwarte Perfektion“
Er gibt sich verletzt: „Ich kenne keine anderen coaches auserdem bist du
minderjährig Ich würde mich strafbar machen wtf“.
Und: „Ich mache es weil ich knochen ästhetisch und schön finde, ich mag
einfach keine fetten frauen das ist eklig“.
Als ich ihm das geforderte Foto nicht schicke, antwortet er: „sorry dann
bin ich hier fertig … wie gesagt ich kriege täglich mehrere anfragen … und
wie du mitlerweile mitgekriegt hast bin ich noch ein richtiger coach von
denen es kaum welche gibt also kann ichs mir aussuchen wen ich nehme“.
Dann: „Zur not würde vorerst der Vorname gehen und ohne gesicht … auch wenn
ich eigentlich schon jetzt verletzt bin aber du brauchst Hilfe“.
Ich schicke das geforderte Bild.
Insgesamt macht er auf mich einen eher ungebildeten und naiven Eindruck.
Jedenfalls wirkt er nicht wie jemand, dem man sich anvertrauen will. Und er
scheint etwas verzweifelt zu sein. Als ich frage, was ich tun muss, um
schön zu werden, schreibt er: „Erstmals müsste ich noch wissen was ich
dafür kriege wenn ich dir helfe zudem erwarte ich wenn du wirklich hilfe
willst das ein sehr tiefes ziel pflicht ist. … ich erwarte Perfektion ich
würde ne menge zeit und Arbeit in dich inverstieren … mit sport und
Ernährungsplänen.. täglicher Motivation … immer erreichbar … challanges …
usw“.
Ich frage ihn, was er dafür haben möchte. Er antwortet: „Wie stehst du
einer Beziehung gegenüber mit deinem coach?“
## Nur noch Haut und Knochen
Um sicherzugehen, dass ich ihn richtig verstanden habe, frage ich noch mal
nach. Er schreibt: „im Sinne von Beziehung zwischen zwei menschen, zusammen
sein“, antwortet er. Und dann weiter: „ich sehs halt nicht mehr ein leute
perfekt zu machen wenn ich nichts davon habe deswegen hab ich auch kaum
noch anas“.
Ich frage, ob ich ihm als 14-Jährige mit seinen 21 Jahren nicht zu jung
sei. „Du bist alt genug um dir nen Coach zu suchen oder? also warum
solltest du zu jung für ne Beziehung sein“.
Danach sendet er mir ungefragt Fotos von Körpern, die seinem
Schönheitsideal entsprechen. Die Körper auf den Fotos sind nicht mager oder
dürr, sie sind skelettartig. Nur noch Haut und Knochen, die Rippen einzeln
zählbar, die Kniescheiben deutlich hervortretend, die Beckenknochen stehen
heraus.
„soweit runter wie die am Bild würde ich tatsächlich nur meine freundin
treiben … normale anas nicht … ich will ja schließlich was besonderes“,
schreibt er. Auf meine Frage, wie so eine Beziehung denn ablaufen könnte,
antwortet er, man könne sich ja gegenseitig besuchen.
## Sie fordern Bilder
Er fragt mich noch mal nach meinem Gewicht. 61,8 Kilo, behaupte ich.
„normalerweise nehm ich so fette anas garnicht auf … eigentlich bis max
50kg aber wenn du es ernst meinst mit Beziehung dann drück ich ein auge zu
sobald du fettes ding unter 60kg bist“, schreibt er. Als ich ihm antworte,
dass ich es alleine nicht schaffen würde, die 2 Kilo abzunehmen: „sag mal
ist dir das nicht peinlich!? zeig mir mal bitte deinen ganzen körper nicht
nur deinen bauch … muss das echt noch einschätzen.. am besten in
Unterwäsche (und nein ich bin kein perverser) muss halt gucken was weg muss
… man hat ja nicht jeden tag sowas fettes vor sich“.
Nach einigem Hin und Her schicke ich ihm Bilder aus dem Internet. Die sind
ihm anscheinend nicht freizügig genug. Er beendet den Kontakt.
Auch die anderen Coaches, mit denen ich in Kontakt stehe, fordern Bilder
oder Videos in Unterwäsche, bevor sie mit dem Training beginnen wollten.
„Um sich für ein Coaching zu bewerben und mir zu zeigen, dass du verstehst,
was ich von dir erwarte, besteht deine erste Aufgabe darin, mir ein
Bodycheck-Video zu machen. Platziere dein Telefon zum Aufnehmen, zeige mir,
wie du deine Kleidung ausziehst (außer deine Unterwäsche), und drehe dich
langsam. Danach werde ich über Kalorienlimit und Bewegung entscheiden“,
schreibt mir einer der Männer auf Englisch bei Kik.
Er fügt hinzu: „Wir vereinbaren, dass du dich auf eine bestimmte Menge an
Kalorien beschränkst und dass du ein Minimum an Sportübungen machst. Wenn
du bei einem der Punkte versagst, werden Strafen verhängt. Dies kann eine
Reduzierung der Kalorien sein, mehr Videos, um deinen Körper zu beurteilen
oder zu beschämen [to judge or shame], zusätzliche Work-outs, demütigende
Aufgaben, alles, was dich fokussiert bleiben lässt. Ich werde dich führen
und versuchen, dich zum Erfolg zu bringen.“
## Cyber-Grooming
Ein anderer englischsprachiger Coach verlangt: „Stell dein Telefon
irgendwohin und zeichne dich auf. Zieh deine Hose aus und dein T-Shirt.
Zeig mir jedes Stück Fett. Und dann sag in die Kamera, dass du alles tun
wirst, um schön auszusehen.“
Ich frage mich, was das für Männer sind, die eine vermeintlich 14-Jährige
um Nacktfotos und eine sexuelle Beziehung bitten oder kontrollieren wollen.
Dazu wende ich mich an die österreichische [3][Initiative
Saferinternet.at], um mehr über diese „Coaches“ zu erfahren.
Saferinternet.at ist Teil eines europäischen Präventionsprogramms und
schult Jugendliche, Eltern und Lehrende im Umgang mit dem Internet. Barbara
Buchegger, Mitarbeiterin der Initiative, spricht mit mir über meine
Erfahrungen mit den Männern. Dabei berichte ich auch von der Frage nach
einer „Beziehung“.
„Das geht dann schon in die Richtung Cyber-Grooming“, erklärt sie, dass
also Minderjährigen im Netz angeschrieben werden mit dem Ziel, sie sexuell
zu belästigen oder zu missbrauchen.
„Es treten ständig Erwachsene im Netz mit Jugendlichen in Kontakt, und die
finden das toll, ja. Die denken dann: Da ist jemand, und der sagt mir: ‚Oh,
du bist aber schön.‘ Oder: ‚Du bist aber toll und interessant.‘ “ Die
Jugendlichen wüssten oft, dass diese Personen viel zu alt für sie sind. Das
mache es umso interessanter. „Ich vermute, dass viele dieser Coaches einen
Willen nach Macht über jemand anderen haben, das ist der eine Punkt. Der
andere ist, dass solche Nacktfotos, besonders von jungen Jugendlichen und
Kindern, im Internet einfach viel Geld einbringen. Da gibt es im Darknet
einen Markt, dort wollen die Männer die Bilder dann verkaufen.“
Aber gibt es keine Möglichkeit, diesen „Coaches“ das Handwerk zu legen?
## Immer neue Seiten
Sarah Herrmann ist Fachreferentin im Bereich sexuelle Ausbeutung,
Pornografie und Selbstgefährdung bei jugendschutz.net und überprüft
schwerpunktmäßig Onlineangebote zum Thema Essstörungen. jugendschutz.net
ist das gemeinsame Kompetenzzentrum von Bund und Ländern für den
Jugendschutz im Internet.
Herrmann kennt das Problem der Ana-Gruppen und „Coaches“. „Es gibt seit
Jahren immer neuen Content, immer neue Seiten“, sagt sie. „Es werden
ständig Inhalte gelöscht, aber bis eine Seite, auf der zum Beispiel
Kontaktanzeigen für Coaching oder Gruppen verbreitet werden, vom Betreiber
überprüft und schließlich gelöscht ist, dauert es. Und dann gibt es schon
neue.“
Sie sagt auch: „Die Suche nach einem ‚privaten‘ Austausch in Gruppen auf
Social Media oder in Messengerdiensten wie Whatsapp ist in den letzten
Jahren – innerhalb der Bewegung – kontinuierlich gestiegen.“ Für eine
Kontaktaufnahme würden meist veraltete Pro-Ana-Blogs genutzt. In der
Kommentarfunktion dieser Blogs würden die neuen Anbieter dann Werbung für
ihre Hungergruppen oder Coachingangebote posten. Die Kontaktanzeigen seien
teils tagesaktuell.
Ein Großteil der Plattformbetreiber würde derartige Anzeigen nach einer
Meldung jedoch wieder entfernen. Außerdem gebe es Möglichkeiten, die dazu
führten, dass die entsprechenden Blogseiten bei Google nicht mehr in der
Trefferliste angezeigt werden. Diese Maßnahmen seien zwar erfolgreich,
jedoch steige die Anzahl der Hungergruppen weiter. „Hierauf deutet
zumindest die anhaltend leichte Auffindbarkeit von immer neuen Anzeigen
hin“, sagt Herrmann.
Je länger ich in der Ana-Community bin, desto mehr Sorgen mache ich mir um
ihre Mitglieder. Alle vier Coaches, mit denen ich mir hin und her
geschrieben habe, waren erwachsene Männer, die von sich behaupteten,
erfahren zu sein. Keiner von ihnen wollte mir weitere Informationen über
Ernährung und Bewegung geben, bevor ich nicht das geforderte Bildmaterial
geschickt hätte. Von den meisten ging großer Druck aus.
Der Einfluss der Whatsapp-Gruppe war subtiler: Dort ging es
freundschaftlich zu. Die Mädchen schickten sich innerhalb weniger Tage
mehrere Tausend Nachrichten. Innerhalb kurzer Zeit wurde der Gruppenchat zu
meinem meistgenutzten Kontakt.
Im Verlauf meiner Recherche merkte ich, dass ich einen immer größeren Drang
verspürte, mich an die Gruppenregeln zu halten und den gleichen Idealen
nachzueifern. Es ist diese Dynamik der sozialen Interaktion, die die
Gruppen so gefährlich macht. Am Ende der Recherche bin ich mir sicher, dass
ich als Betroffene nicht selbstständig von der Community losgekommen wäre.
Carla Siepmann, 15, besucht die 11. Klasse am Carl-von-Ossietzky Gymnasium
Berlin. Sie ist Chefredakteurin der Schulzeitung Moron. Die im Text
beschriebenen Chatprotokolle liegen der taz am wochenende vor.
Christina S. Zhu arbeitet als freie Illustratorin in Berlin.
20 Sep 2021
## LINKS
[1] /Mediziner-ueber-Ausloeser-der-Anorexie/!5617647
[2] https://www.aerztezeitung.de/Medizin/Anorexie-jeder-zehnte-Betroffene-stirb…
[3] https://www.saferinternet.at/
## AUTOREN
Carla Siepmann
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Wissen könne helfen, die Krankheit zu entstigmatisieren, sagt Stephan
Zipfel.
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