| # taz.de -- Gewichtsfragen: Joghurt nur noch mit der Gabel | |
| > Die Medien, die Politiker, der Blick in den Spiegel: Alle sagen, wir | |
| > sollen abnehmen. Dabei sollten wir uns eher um die allzu Dünnen sorgen | |
| Bild: Fitnesswahn - warum eigentlich? | |
| Die Zeichen sind oft nur von Eingeweihten zu entziffern. Kürzlich in einem | |
| Restaurant mit italienischen Speisen in Berlins Charlottenburg, traditions- | |
| wie neobürgerliche Gäste. Eine Frau in den mittleren Vierzigern, extrem | |
| schlank, ja schmal, sitzt mit einer Freundin offenbar zum Abendessen | |
| beisammen. Vor ihr auf dem Teller eine beeindruckend riesige Pizza. Die | |
| Gute scheint eine schwächliche Blase zu haben, jedenfalls huscht sie nach | |
| jedem fünften Bissen kurz auf die Toilette. Oder muss sie die Nase | |
| nachpudern, den Lidschatten bekräftigen, war es zu viel des stillen | |
| Wassers, das sie in kleinen Schlucken trinkt? | |
| Eine Freundin kennt sich aus, sie weiß die Anzeichen zu deuten, ihr Blick, | |
| betont sie, sei nicht böse, aber genau. Selbst ist sie von eher runder | |
| Statur, sie selbst nennt sich pummelig, und sagt sie dies, klingt es | |
| lapidar, doch auch eine Spur nach einer trotzigen Behauptung. So sagt sie, | |
| das Hüsteln nach den Besuchen auf der Damentoilette verrate die dürre Frau | |
| am Nebentisch. Die habe gekotzt, die musste das Essen wieder herauswürgen - | |
| und jedes Erbrechen sei mit einem mächtigen Schwall Magensäure versehen. | |
| Die Lauge wiederum reize die Speise- wie die anatomisch benachbarte | |
| Luftröhre, daher der Hustenreiz. | |
| Der Befund stehe fest, wird mir bedeutet, bei der Armen handele sich um | |
| einen typischen Fall von Bulimie, von Ess-Kotz-Anfällen. Woher soll einer | |
| das wissen, der aufs Essen und dessen Menge eher wenig achtet, dem Fettes | |
| kaum noch schmeckt, der mittags nicht isst, weil es dann kein Arbeiten mehr | |
| gibt am Nachmittag. Sondern lieber abends zulangt, auf dass der Magen nicht | |
| leer in die Nacht muss. Es kann jedenfalls kein Minderheitenproblem sein, | |
| diese Essstörung. Dieses, im Wortsinn: absolute Konzentrieren auf die | |
| Nahrungszufuhr (wie ihre Abfuhr), diese Leidenschaft für das körperliche | |
| Schema in eigener Sache. | |
| In Wahrheit muss es sich um ein epidemisches Phänomen handeln; Spiegel | |
| Online berichtete kürzlich über die auf jede Außenwirkung eigentlich | |
| bewusst verzichtende "Pro ana"-Bewegung. Von Mädchen ist dort die Rede, die | |
| sich bewusst sind, krank zu sein - deren, bitte sehr, von Eltern | |
| unangefochtener Lebenssinn aber darin besteht, so mager, so leicht wie | |
| irgend möglich zu werden. Am besten, wird in einem Eintrag in einem dieser | |
| Foren gebeichtet, so um die 40 Kilogramm. Also Kindergröße, das Gegenteil | |
| dessen, was eine normale Ernährung gerade im Laufe der Pubertät bewirkt: | |
| einen Körperbau, der sich, genetisch gesehen, dem der Eltern annähert, | |
| welchem der beiden auch immer. Eine Figürlichkeit, und nur dies weiß die | |
| Wissenschaft, die sich weitgehend den körperlichen Anlagen annähert. Aus | |
| einem Mädchen (oder Jungen), dessen Mutter propper aussieht und dessen | |
| Vater kräftig ist, wird niemals eine Britney Spears - es sei denn um den | |
| Preis buchstäblich kraftraubender Manipulationen. | |
| Die Forschung zum Thema Ernährung steht freilich vor all diesen modernen | |
| Erscheinungen der modernen Körperwelt wie die Ochsen vor Gebirgen. Man weiß | |
| eine Menge - aber das Wissen ist zugleich begrenzt. Menschen mit krassem | |
| Übergewicht oder organisiertem Untergewicht litten unter familiären | |
| Störungen; Ernährungsstörungen müssten außerdem als Indiz einer verfehlten | |
| Verbraucheraufklärung gesehen werden, weil gerade die Snacknahrung höher | |
| kalorisch sei, als man ihren Mengen ansieht. Außerdem fehle es allen | |
| Menschen - die Sorge gilt in erster Linie den jungen - an Bewegung, an | |
| motorischer Lust, an ausgleichendem Sport zu all dem TV-Konsum, dem sich | |
| viel zu viele Männer und Frauen hingegeben. Ein Teil der kulturkritischen | |
| Klage - der Autor Paul Nolte hat sich damit passabel bekannt gemacht - geht | |
| in die Richtung, gerade die proletarischen Massen, die Unterschichten, | |
| verwahrlosten gerade im Hinblick auf ihre Nahrungsaufnahme. Zu viel Fett, | |
| allzu krass ihre Neigung, sich Junkfood einzuverleiben, zu wenig | |
| Kraftstoff, zu viel Zucker und Weißmehl. | |
| Und das ist ganz genau das, wovon die Forschung nichts wissen will: vom | |
| Zusammenhang zwischen einer Ideologie der Fitness, die gerade in | |
| Mittelschichtsverhältnissen grassiert, und einer Fantasie von Verachtung | |
| für alle, die sich dieser sportiven Zurichtung des Körpers verweigern, ob | |
| bewusst oder unbewusst, ist einerlei. Dieser Konnex bleibt in allen | |
| Bekundungen zum Thema blind: Niemand weiß genau, ob jene Pummeligen nicht | |
| am Ende länger und gesünder leben als jene, die ihr Leben vielfältig auf | |
| Schlankheit, Muskularität und Dehnbarkeit der Sehnen orientieren. | |
| Keine einzige Untersuchung widmet sich - vielleicht sogar mit Interviews | |
| gefüttert - der Frage, woher der Terror vom Fitsein rührt. Was in den | |
| Personen vorgeht, die ihren Joghurt nur mit der Gabel zu essen vermögen, | |
| die Wein meiden, weil er Zucker enthält, die als Fleisch nur Geflügel | |
| akzeptieren und zum Kaffee nur absolut geschmacksausgelöschte Magermilch | |
| zur Abrundung. Jenen, die sich offenkundig füllen, um sich wieder zu | |
| entleeren, die mager bleiben müssen, weil sie sich, knochig und unweich | |
| durch und durch, immer noch zu teigig fühlen. | |
| Die Zahlen sprechen eine deprimierend eindeutige Sprache. Von Magersucht | |
| sind etwa 100.000 Menschen - deutlich überwiegend junge Frauen - betroffen, | |
| von der Ess-Brech-Sucht 600.000 und vom sogenannten Binge Eeating | |
| (zeitweise maßlose Fresslust) immerhin 2 Prozent der Bevölkerung, also 1,6 | |
| Millionen Frauen und Männer. Nicht in Ziffern zu fassen ist die tägliche | |
| Propaganda, die in puncto Esskontrolle und -moral auf uns herabsinkt. All | |
| die Castingshows, in denen nur strichdünne Mädchen auftreten; all die | |
| Heranwachsenden, die eine Lolita sein möchten; all die Medien, von Brigitte | |
| über Vogue und Bravo Girl bis zu Mens Health, die den schmächtigen, | |
| trainierten, durchkontrollierten Körper als Ideal nahelegen - und | |
| entsprechende Trainings- und Diätprogramme ausbreiten. | |
| Selbst die Grünen machen bei diesem unseligen Trend mit. Als sie noch | |
| Verbraucherministerin war, schämte sich Renate Künast nicht, im Bunde mit | |
| der Industrie ein Programm für bessere, das heißt auf Schlankheit | |
| orientierte Richtung aus der Taufe zu heben: Dass die "Plattform für | |
| Ernährung und Bewegung" mehr ist als ein Werbegag sehr im Sinne des | |
| Zeitgeistes, muss bezweifelt werden. Als ob die wichtigste Sorge nicht die | |
| um die Dicken, sondern die um die allzu Dünnen kreisen müsste. | |
| Möglicherweise haben Mädchen (und Jungen) den Eindruck, sie seien nur als | |
| Schlanke attraktiv, tauglich als Objekt, in das man sich gern verliebt. | |
| Jede Umfrage im Bekanntenkreis - machen Sie selbst die Probe aufs Exempel - | |
| sagt nur dies: Die Liebe schert sich nur außerordentlich gering um Pfunde. | |
| Im Gegenteil bevorzugen im gewöhnlich heterosexuellen Fall Männer bei | |
| Frauen eine gewisse Pfundigkeit, auch wenn sie nicht in Fette gehen soll - | |
| und Frauen scheinen Männer am liebsten dann in den Blick zu nehmen, wenn | |
| der Blick stimmt, der Gang, die Gestik. Und all dies ist doch, recht | |
| besehen, unabhängig von dem, was eine Waage gerade so sagt: Das | |
| Körpergewicht, auch dies nur weiß die Forschung, ist dann ein gesundes, | |
| wenn eineR sich mit ihm wohlfühlt. Body Mass Index oder wie die Parameter | |
| von der stimmigen Kilogrammmasse sonst auch lauten: sie verfehlen ihren | |
| Gegenstand notgedrungen immer. Jeder Mensch ist, so banal dies klingt, | |
| verschieden. | |
| Vielleicht hängt es auch mit der selbstbesoffenen Art der | |
| Mittelschichtskader zusammen. Wo man das gut sehen kann, ist Schottland. | |
| Einerseits in Edinburgh, der Hauptstadt dieses Teils vom Vereinigten | |
| Königreich. Eine Metropole von feinem bürgerlichem Habitus. Viele | |
| Starbucks-Filialen, Galerien, Ökoquartiere, viel Verwaltung, eine Menge | |
| Kultur, Touristen noch und noch. Anders das nur eine Stunde entfernte | |
| Glasgow. Es wirkt im Vergleich eher rotzig, schmutzig, man erkennt noch die | |
| Verwundungen durch die Entindustrialisierung, kein Viertel für die Schicken | |
| und Schönen allein, alles mischt sich, mit ersichtlicher Dominanz der | |
| proletarischen Einwohnerschaft. Der Unterschied: Während in Glasgow die | |
| Dünnen eher bemitleidenswert hungrig aussehen - es sind ja nur wenige -, | |
| wirken die ihren Körperspeck nicht versteckenden Menschen in Edinburgh | |
| beinah asozial, das Bild der allgemeinen Fitness beschmutzend. | |
| Wir wurden den Eindruck nicht los, als sei es in der ollen Proletenstadt | |
| nicht so wichtig, auszusehen wie athletisch geformte Ziegen. Und das muss, | |
| allein schon der Zeitersparnis wegen, die es bringt, sich nicht manisch auf | |
| den eigenen Körper konzentrieren zu müssen, alles sehr viel gesünder sein. | |
| 20 Aug 2007 | |
| ## AUTOREN | |
| Jan Feddersen | |
| Jan Feddersen | |
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