# taz.de -- Historiker über Fitnesskultur: „Fitnesskult ist hochpolitisch“ | |
> Der Historiker Jürgen Martschukat analysiert das Sportzeitalter: Nur wer | |
> seinen Körper auf Trab hält, kommt gesellschaftlich weiter. | |
Bild: Egal ob's regnet oder schneit: Raus, raus! Fit halten! | |
taz am wochenende: Herr Martschukat, heute schon gejoggt? | |
Jürgen Martschukat: Nein. Mittwochs habe ich immer ein sehr dichtes | |
Programm. Aber wenn ich nicht im Homeoffice bin, fahre ich mit dem Rad zur | |
Arbeit. | |
Sind Sie jemand, der Tritte und Schritte zählt? | |
Natürlich habe ich ein Messgerät an meinem Fahrrad und auch einen | |
Schrittzähler auf dem Smartphone. Der ist bei den meisten mobilen Telefonen | |
mittlerweile schon vorinstalliert – ein erster Hinweis darauf, dass wir im | |
„Zeitalter der Fitness“ leben. | |
So lautet der Titel Ihres Buches. Was genau kennzeichnet dieses Zeitalter? | |
Beispielsweise technische Strukturen, die auf Fitness und Leistung | |
ausgerichtet sind und die immer fester in unsere alltäglichen | |
Befindlichkeiten und unser Verhalten eingeschrieben werden. Es ist schwer, | |
nicht auf den Schrittzähler zu gucken, wenn man sowieso einen hat. Will ich | |
den Schrittzähler im Smartphone loswerden, müsste ich schon das Engagement | |
aufbringen, mich damit auseinanderzusetzen, wie und ob ich diese App | |
löschen kann. | |
Darf ich noch „Sport“ sagen, und ab wann ist es schon Fitness? | |
Im Sport geht es um einen mehr oder minder klar strukturierten Wettbewerb, | |
den man gewinnen will. Fitness ist eine autonome Praxis, bei der es nicht | |
darum geht, einen organisierten sportlichen Wettbewerb gewinnen zu wollen. | |
Trotzdem ist Fitness total wettbewerbsorientiert, und zwar mit Blick auf | |
das Leben. | |
Leibesübungen kannten aber auch schon die alten Ägypter, circa 3.000 vor | |
Christus. Und spätestens die antiken Griechen veranstalteten sportliche | |
Wettbewerbe. Was ist das zentrale Kennzeichen des Fitnesszeitalters? | |
Unsere moderne Gesellschaft organisiert sich wesentlich um den Körper und | |
dessen Leistungsfähigkeit herum. Im Zentrum steht ein Versprechen, das mit | |
einer Aufforderung beziehungsweise einer Verpflichtung verbunden ist: Wenn | |
wir uns gut um uns kümmern, unseren Körper pflegen und in Form halten, | |
kommen Glück und Erfolg. Die soziologische Stigmaforschung zeigt sehr | |
genau, dass dicke Menschen heute von Schule bis Jobmarkt diskriminiert | |
werden, es ihnen also schwerer gemacht wird, Erfolg zu haben. Der | |
Fitnesskult ist hochpolitisch, es geht um Teilhabe an Gesellschaft, um | |
Zugriff auf Ressourcen: Gesellschaftliche Anerkennung wird stark vom Körper | |
abhängig gemacht. | |
Sie setzen den Beginn dieser Epoche in den 1970er Jahren an. Was genau ist | |
da passiert? | |
Eine massive ökonomische Krise, unter anderem geprägt von den Ölkrisen. | |
Damit geht eine Neujustierung gesellschaftlicher Parameter einher: weniger | |
Staat, also weniger soziale Unterstützung, dafür mehr Markt, mehr | |
Wettbewerb, mehr Selbstverantwortung, mehr individuelles Engagement. | |
Das, was man heute Self-Empowerment nennt? | |
Ja, das spielt eine Rolle. Viele Fitnessbewegungen sind aus der | |
Counterculture heraus entstanden, etwa die frühe Laufbewegung, die von | |
Hippies getragen war. Das Laufen war Teil der Suche nach einem alternativen | |
Lebensstil – und nach Empowerment. Das Ziel war, vom verkrusteten Dasein | |
der Eltern und der kapitalistischen Verwertungslogik wegzukommen und zu | |
sich selbst zu finden. Nach und nach wurden Zu-sich-selbst-Finden und | |
Self-Empowerment zu einem gesellschaftlichen Leitprinzip und zu einer | |
Massenbewegung. | |
Ist der ehemalige Außenminister Joschka Fischer, der vom linksradikalen | |
Hausbesetzer zum leicht übergewichtigen Minister in Turnschuhen und | |
Marathonläufer wurde, ein Paradebeispiel für diese Entwicklung? | |
Er ist ein gutes Beispiel für die heute so präsente Vorstellung, durch | |
Körpertraining zu sich selbst finden zu können. Sein Buch trägt ja sogar | |
diesen Titel: „Mein langer Lauf zu mir selbst“. Seine Botschaft ist, dass | |
man alles schaffen kann, selbst 30 Kilo abnehmen, wenn man nur will und an | |
sich arbeitet. Mit dem Soziologen Andreas Reckwitz könnte man hier an das | |
„Versprechen der Singularität“ denken, also an das Versprechen der | |
Einzigartigkeit, das eine zentrale Rolle spielt. Man glaubt gern, etwas | |
ganz Besonderes zu tun, wenn man einen Marathon läuft. Und dabei ist das | |
Marathonlaufen zu einem Massenphänomen geworden. 1970 sind in New York | |
knapp 100 Leute beim Marathon gestartet, jetzt sind es 50.000. | |
Inwiefern hängt der Fitnesskult an der Freiheit? | |
Fitness braucht Freiheit. Es geht um die Freiheit, sich selbst verbessern | |
zu können. Diese Botschaft ist in liberalen Gesellschaften ganz zentral. In | |
den USA ist sie sogar in der Unabhängigkeitserklärung verankert: Jeder | |
Mensch hat das Recht auf ein Leben in Freiheit und das Streben nach Glück. | |
Dies ist ein Versprechen, das zugleich ungeheuer regulierend ist. Es führt | |
dazu, dass die Menschen eingeteilt werden in diejenigen, die es schaffen, | |
ein vermeintlich erfolgreiches Leben zu leben, und diejenigen, die an | |
diesen Anforderungen zu scheitern scheinen. Erfolg und Misserfolg gelten | |
als Konsequenzen eigenen Engagements – oder eben Nichtengagements. | |
Könnte man von einer Diktatur der Fitness reden, in der die Freiheit nur | |
noch darin besteht, zwischen Laufband und Fahrrad zu wählen? | |
Diktatur impliziert Zwang. Fitness als Form der Macht operiert subtiler, | |
über Anreize und positiv besetzte Werte, beispielsweise Gesundheit. Deshalb | |
sanktionieren Krankenkassen auch nicht über Strafen, sondern geben ihren | |
Versicherten Boni, wenn sie sich beispielsweise für ein Sportstudio | |
anmelden. | |
Was ist der Unterschied zwischen der Regulierung der Körper im | |
Fitnesszeitalter und dem Körperkult im Nationalsozialismus? | |
Fitness heute zielt auf individuellen Erfolg. Der Körperkult im | |
Nationalsozialismus war wesentlich auf eine kollektive Größe ausgerichtet, | |
auf den zutiefst rassistischen Volkskörper. In den USA hatte man in den | |
Nachkriegsjahren das Problem, dass die Programme, mit denen die Bürger zur | |
Arbeit an sich und ihrem Körper bewegt werden sollten, nicht so rüberkommen | |
durften wie der nationalsozialistische oder sowjetsozialistische | |
Körperdrill. Fitness im liberalen Amerika sollte nach Spaß und Lust | |
aussehen. | |
Mittlerweile hat sich Widerstand formiert: die Body-Positivity-Bewegung. | |
Ja. Interessant ist allerdings, dass im Akt dieses Widerstands erneut eine | |
intensive Beschäftigung mit dem Körper stattfindet und keine | |
Nichtbeschäftigung mit ihm. | |
Der Körper war auch in der Frauenbewegung immer schon ein Thema. | |
Auf jeden Fall. Frances Willard beispielsweise beschreibt, dass das | |
Fahrradfahrenlernen ein emanzipatorisch-politischer Akt ist: Sie lernt zu | |
steuern und zu entscheiden, wo sie abbiegt, wo sie anhält. In den 1970er | |
Jahren wird die Kontrolle über den eigenen Körper dann ein zentrales | |
Anliegen der Frauenbewegung. | |
Vom Technotempel zum Fitnesstempel. Wurde der Rausch aus dem Berghain | |
durch den Rausch auf dem Laufband ersetzt? | |
Jedenfalls ist das Fitnessstudio auch ein zentraler sozialer Ort, etwa fürs | |
Dating. Da kann man vorher beim Training erst mal den Körper auschecken und | |
hinterher an der Bar noch einen Smoothie zusammen trinken. Und zum Tempel: | |
Viele Fitnessanhänger beschreiben ihre Hinwendung ja als durchaus | |
religiöses Erweckungserlebnis. Atemlos am Kühlschrank angekommen zu sein, | |
um das nächste Bier rauszuholen, und dann beschlossen zu haben: Das ganze | |
Leben muss sich radikal ändern – das hat eine durchaus spirituelle | |
Dimension. Denn es bedeutet, nicht nur zweimal in der Woche eine Runde zu | |
drehen, sondern das ganze Leben darauf auszurichten. | |
Ich hätte gern ein „Jogging verboten“-Schild auf dem Bürgersteig. | |
Ich finde Verbote prinzipiell doof. Und man weiß ja, dass das Regieren über | |
Anreize viel effektiver ist. Aber: Wenn die Straßen für den Autoverkehr | |
gesperrt würden, dann hätte man mehr Platz für Jogger. | |
Führt die protestantische Enthaltsamkeit tatsächlich zu mehr Produktivität | |
als das ausschweifende Leben? | |
Fitness lässt das Recht auf den Exzess durchaus zu. „Exercise like you | |
party“ ist da ein durchaus passender Werbeslogan, über den ich bei meinen | |
Recherchen gestolpert bin. Wer sich im Griff hat, darf auch mal über die | |
Stränge schlagen. Außerdem kann Fitness durchaus Spaß machen und ist mehr | |
als nur Enthaltsamkeit und Unterwerfung. | |
Geht das auch wieder weg? | |
Fitness ist mehr, als erfolgreich Sport treiben zu können, sondern zutiefst | |
in die Leitprinzipien unserer Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaft | |
eingeschrieben. Nur wenn Ideen wie Postwachstum und Degrowth mehr Wucht | |
kriegen, wenn sich die Gesellschaften vom Zeitalter des Wettbewerbs | |
verabschieden, kommt auch das Zeitalter der Fitness an sein Ende. | |
Hat die Pandemie an dieser Einschätzung irgendwas geändert? | |
Einerseits sehen wir, wie sehr die Menschen darum ringen, auch in den | |
Zeiten der Pandemie an ihrer Fitness arbeiten zu können. Andererseits | |
lernen wir in der Pandemie, dass man solche Krisen nur gemeinschaftlich | |
angehen kann. Es zeichnet sich ab, dass diejenigen Gesellschaften am besten | |
durch die Pandemie kommen, die sich nicht gänzlich dem Markt verschreiben | |
und einen Rest an fürsorgender Sozialstaatlichkeit erhalten haben. | |
8 Feb 2021 | |
## AUTOREN | |
Doris Akrap | |
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