# taz.de -- Doku „Girl Gang“ über junge Influencer*innen: Leben für die V… | |
> Susanne Regina Meures folgt in „Girl Gang“ einer Influencerin. Sie | |
> beleuchtet ein Phänomen, das den Zeitgeist auf die Spitze treibt. | |
Bild: Ist im Alltag eigentlich meistens gestresst: Leonie in „Girl Gang“ | |
Die Frage, was ein gutes Leben ausmacht, hat über die Denkgeschichte hinweg | |
ganz unterschiedliche Antworten zutage gefördert – ohne einen universal | |
anzuerkennenden Lösungsansatz hervorzubringen. Wohl auch deswegen, weil das | |
damit verbundene Glück eine sehr subjektive Angelegenheit und somit nicht | |
allgemeingültig definierbar ist. | |
Die Welt, in die „Girl Gang“ eintaucht, vermittelt einen konträren | |
Eindruck. In ihr scheint sich durchaus bemessen zu lassen, wie gut ein | |
Leben ist. Glück kann offenbar in numerische Werte übersetzt werden. Die | |
Quantifizierung eines Daseins ist eigentlich die angestammte Sphäre der | |
Dystopie. Man denke nur an literarische Klassiker wie Aldous Huxleys | |
„Schöne neue Welt“ oder Sci-Fi-Filme wie „Gattaca“. | |
[1][Susanne Regina Meures] („Raving Iran“) aber hat einen Dokumentarfilm | |
gedreht. Er erkundet den Influencer-Kosmos und seine Spielregeln. Die | |
besagen, dass wer besonders authentisch wirkt, die größte Community hinter | |
sich versammeln kann. Authentizität, das wird schnell klar, ist ein | |
Trugbild. Tatsächlich belohnt wird, wer besonders viel Aufwand in die | |
authentisch anmutende Aufführung eines Lebens steckt, das ausnahmslos | |
glücklich erscheint. | |
## Eine recht schale Perfektion | |
Wobei hier [2][unter Glück eine recht schale Perfektion zu verstehen] ist. | |
Im Hinblick auf die Erfüllung von aktuellen beauty standards, etwa eine | |
angesagte Garderobe, und eine aufregende Freizeitgestaltung. Je gekonnter | |
diese zum Glück nach hedonistisch-konsumistischen Maßstäben | |
uminterpretierte Makellosigkeit in den sozialen Medien präsentiert wird, | |
desto mehr Menschen scheinen daran teilhaben zu wollen. Like- und | |
Follower-Zahlen fungieren als eine Art Anzeiger für ein gutes Leben. | |
Über drei Jahre hinweg hat die Regisseurin die zu Beginn 14-jährige Leonie | |
aus Berlin, im Netz als „Leoobalys“ bekannt, mit der Kamera begleitet. Auf | |
Tiktok und Instagram folgen ihren Accounts mittlerweile über 1,5 Millionen | |
Menschen. Nach der Logik der Influencer-Welt muss Leonie also eine überaus | |
seltene Erscheinung sein: eine Pubertierende, die richtig glücklich ist. | |
Dass dem so ist, davon ist die zum Start der Dreharbeiten 13-jährige | |
Melanie aus Bayern überzeugt. „Leos Leben ist einfach perfekt“, sagt sie | |
als eine weitere Protagonistin des Films, die Meures über den gleichen | |
Zeitraum begleitete. Sie zählt sich zu den größten Bewunderinnen von | |
Leonie, betreibt sogar einen Fan-Account, der der nur unwesentlich älteren | |
Influencerin gewidmet ist. Bis zu 17 Stunden verbringt sie täglich am | |
Handy, um nichts von ihrem Idol zu verpassen und Inhalte zu produzieren, | |
die sich um „Leoobalys“ drehen. | |
Während der etwa anderthalbstündigen Spielzeit zeigt sich allerdings, mit | |
wie vielen Entbehrungen Leonies Alltag verbunden ist, wie viel Zeit und | |
Planung es wirklich braucht, um „Content“ zu kreieren. Und wie wenig Platz | |
für Freunde bleibt, wie wenig Raum solchen Aktivitäten vorbehalten ist, | |
denen sie nur nachgeht, um Spaß daran zu haben – ohne dabei | |
„instagrammable“ zu wirken, ohne dass alles um sie herum zur Kulisse für | |
ihre Social-Media-Erzählung wird. | |
## Gestresst, gereizt und zornig | |
Da überrascht es kaum, dass die Jugendliche in den meisten Sequenzen des | |
Dokumentarfilms gestresst, gereizt, mitunter sogar zornig wirkt. Meures | |
zeigt sie hauptsächlich mit ihren Eltern, Andreas und Sani, die das | |
Management ihrer Tochter übernommen haben. Die Gespräche zwischen den | |
Dreien drehen sich vor allem ums Geschäft. Ständig wird die Jugendliche | |
ermahnt, dass sie sich noch um einen Post für Auftraggeber XY – darunter | |
Kosmetikhersteller, Schuh- und Bekleidungsmarken sowie eine Fastfood-Kette | |
– kümmern müsse. | |
„Girl Gang“ arbeitet mit Kommentaren aus dem Off, in denen die Eltern in | |
verschiedenen Kontexten beteuern, dass sie der Tochter bei der | |
Verwirklichung ihres Traums helfen wollen. Der Eindruck, dass es in erster | |
Linie darum geht, möglichst viel Geld mit Werbepartnerschaften zu verdienen | |
– durchaus auch um Leonies Zukunft zu sichern –, stellt sich dennoch ein. | |
Dass Leonie von mehr träumen könnte als einem diffusen Gefühl von Ruhm, | |
hingegen nicht. Eine Botschaft, jenseits von Kaufempfehlungen, vermittelt | |
sie auf ihren Kanälen jedenfalls kaum. | |
Würde Meures eine bloße Randerscheinung betrachten, könnte man „Girl Gang�… | |
mit einem gewissen Erstaunen über ein skurriles, abseitiges Phänomen | |
folgen. Leonie ist aber nur eine von vielen ihrer Art, die Zusammenarbeit | |
mit Influencern längst zu einer der beliebtesten Werbeformen avanciert, | |
insbesondere für sogenannte „Lifestyle-Marken“. | |
So ermöglicht der Dokumentarfilm einen seltenen Einblick in die Abläufe | |
einer Welt, die Ausdruck eines neoliberalen Zeitgeistes ist. In eine Welt, | |
in der er auf die Spitze getrieben wird, sich quasi in Reinform | |
präsentiert. Schließlich leben Influencer davon, sich im Alltag nahezu | |
lückenlos in einer Weise zu verhalten, die ihren Marktwert – ausgedrückt in | |
Follower- und Like-Zahlen – steigert. Damit wird beinahe jeder Bereich des | |
eigenen Lebens ökonomischer Verwertbarkeit untergeordnet. | |
„Girl Gang“ ist daher nicht nur ein aufschlussreicher, sondern auch ein | |
bestürzender Film. Gerade in Szenen, die verdeutlichen, welche | |
Begeisterungsstürme Influencer wie Leonie, die letztlich nicht viel mehr | |
als Werbung und damit einhergehende Aufforderungen zur Selbstoptimierung | |
anzubieten haben, auslösen können. Einmal ist die Jugendliche bei einem | |
Auftritt in einem Einkaufszentrum zu sehen. Die Menge kreischender, in | |
Tränen aufgelöster junger Fans droht allein durch ihren Anblick außer | |
Kontrolle zu geraten. Die religiös anmutenden Choräle, mit denen der Film | |
unterlegt ist und die zu Beginn deplatziert wirken, ergeben plötzlich Sinn. | |
19 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Arabella Wintermayr | |
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