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# taz.de -- Kunstausstellung in Chemnitz: Identität nicht nachgewiesen
> Dank Coronahilfen erwarb der Bund zuletzt viel junge Kunst. Sie erzählt
> von unserer postmigrantischen Gesellschaft, wie nun in Chemnitz zu sehen
> ist.
Bild: Semantischer Kunstgriff aus Licht: „Die Deutsche Bevölkerung“ von Si…
Ein zartes Schachbrett ist auf dem Antrag für einen Kinderpass der
Bundesrepublik Deutschland zu erkennen. Von Blatt zu Blatt bewegt sich
darauf eine Bleistiftfigur. Die Visualisierung des ungleichen Spiels
zwischen Individuum und Bürokratie. [1][Sung Tieu kam als Kind] eines
vietnamesischen Vertragsarbeiters in die DDR. Ihre „Theoretical Draw“ wurde
jüngst für die Sammlung zeitgenössischer Kunst der Bundesrepublik
Deutschland angekauft und ist derzeit im Museum Gunzenhauser in Chemnitz zu
sehen.
Aus rund 360 Ankäufen der vergangenen fünf Jahre werden unter dem Titel
„present perfect“ gut 50 Werke von 44 in Deutschland lebenden
Künstler:innen präsentiert. Viele von ihnen erzählen von Migration, von
Rassismus und Stereotypisierung, aber auch von Solidarität. Bussaraporn
Thongchai arbeitete in einem Frauenhaus mit Migrantinnen, die Opfer von
Menschenhandel und Zwangsprostitution geworden waren.
Eine ihrer düsteren Zeichnungen in Chemnitz porträtiert eine Frau aus
Ostafrika, die ein Konto eröffnen wollte. Da sie keinen Reisepass, sondern
nur eine Aufenthaltsgenehmigung besaß, wurde ihr Antrag mit dem Stempel
„Identität nicht nachgewiesen“ abgelehnt – Bussaraporn Thongchai legte
Schlingen um den Hals der Frau.
Willy Brandt setzte 1971 mit dem Kauf eines ersten Kunstwerks den Anfang
für die Bundeskunstsammlung. Inzwischen umfasst sie rund 2.000 Arbeiten.
Sie hat kein eigenes Haus, ihr Bestand wird an Ministerien, Botschaften,
das Bundeskanzleramt und an Museen verliehen. Da zumeist die günstigeren
Arbeiten von jungen Künstler:innen erworben werden – der jährliche
Ankaufsetat beträgt 400.000 Euro –, ist die Sammlung zugleich Archiv
aktueller künstlerischer Produktion in Deutschland. Über die Ankäufe
entscheidet eine Kommission aus Fachleuten, alle fünf Jahre werden sie von
der Beauftragten für Kultur und Medien neu berufen.
## Direkt bei Künstler:innen kaufen, nicht über die Galerie
Noch Monika Grütters initiierte das Programm Neustart Kultur, durch diese
Coronahilfen standen der Sammlung 2020 und 2021 zusätzlich 4,5 Millionen
Euro für Neuerwerbungen zur Verfügung. „Bedingung war, dass die
Künstler:innen nicht institutionell, etwa durch eine Professur,
abgesichert und nicht nur qualitativ interessant waren, sondern durchaus
auch förderwürdig“, erklärt Frédéric Bußmann, Generaldirektor der
Kunstsammlungen Chemnitz und Mitglied der Neustart-Jury. „Auch wurde
versucht, direkt bei Künstler:innen zu kaufen.“
Neben Bußmann arbeiten Nadine Grünewald vom Kunstverein für Mecklenburg und
Vorpommern und Hilke Wagner vom Dresdner Albertinum als drei von sieben
Neustart-Jurymitgliedern in Ostdeutschland. Auf ihrer Ankaufsliste stehen
merkbar viele Künstler:innen, die in Erfurt, Karl-Marx-Stadt oder Leipzig
geboren sind oder studiert haben. Einige waren schon in der DDR aktiv,
Osmar Osten etwa, Christine Schlegel, Angela Hampel und [2][Gabriele
Stötzer].
Die Ausstellung der Bundeskunstsammlung macht derzeit auch eine
Kulturpolitik deutlich. Zeitgleich zu Chemnitz zeigt etwa das Neue Museum
Nürnberg eine Auswahl aus der Sammlung. Chemnitz und Nürnberg hatten sich
beide um den Titel der Kulturhauptstadt Europa 2025 beworben. [3][Er ging
nach Sachsen]. Behandeln die neu erworbenen Kunstwerke Themen aus dem
Osten, so werden sie vornehmlich in Nürnberg gezeigt. Darunter Sebastian
Jungs Zeichenserie „Besorgte Bürger, Chemnitz, 30.08.2018“ [4][zu den
rechten Ausschreitungen am Rande eines Stadtfestes].
Im Chemnitzer Museum Gunzenhauser kann man hingegen Benedikt Terwiels
Fotoserie „Imbiss am Kotti“ sehen. Sie erzählt vom Verschwinden einer
typischen Berliner Kiezkultur zugunsten einer gesichtslosen Renovierung
öffentlicher Plätze. Ist auf dem gepflasterten Boden zunächst noch zu
erkennen, wo der Imbiss stand, sind die Spuren bald nicht mehr auf den
Fotos sichtbar.
Der Künstler Stephan Janitzky stellt in Chemnitz die Frage nach den
sozialen Möglichkeiten der Malerei, indem er zwei Leinwände auf den Boden
legte und dazwischen Reste von Kreidestücken, die zuvor von den
Besucher:innen zertreten und in die Leinwände eingearbeitet wurden.
## Die Frage nach dem europäischen Selbstverständnis
Die 1989 in Kabul geborene [5][Tamina Amadyar] steuerte mit ihrem
abstrakten Gemälde „present perfect“ den Titel der Ausstellung bei. Eine
Zeitform, die Verwendung findet, wenn etwas in der Vergangenheit begann und
bis in die Gegenwart andauert. Leuchtende Farbfelder aus Grün und Blau
erinnern an Wasser und Pflanzen oder auch an Hände, die keinen Halt finden.
Zum Ende des Ausstellungsrundgangs steht eine junge Frau barfuß auf dem
Rollfeld des ehemaligen Berliner Flughafens Tempelhof. Im Video von Pauline
Boudry und Renate Lorenz spricht sie das Protokoll der 1951 verabschiedeten
Genfer Konvention, das minderjährigen Geflüchteten weitreichende Rechte
zusichern sollte. Daneben stellt Tilman Hornigs Europaflagge in der
Kulturhauptstadt Europa 2025 die Frage nach dem europäischen
Selbstverständnis. Ein Großteil der goldenen Sterne auf blauem Grund ist
weiß übertüncht.
12 Jan 2023
## LINKS
[1] /Ausstellung-ueber-kulturelle-Ambivalenz/!5623497
[2] /Underground-Kunstszene-im-DDR-Erfurt/!5889404
[3] /Europaeische-Kulturhauptstadt-in-Ostdeutschland/!5724524
[4] /BGH-bestaetigt-Urteil-zu-Messerattacke/!5681432
[5] /Ausstellungsempfehlung-fuer-Berlin/!5374980
## AUTOREN
Sarah Alberti
## TAGS
Bildende Kunst
Postmigrantisch
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