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# taz.de -- Zukunft der Kirchen: Alerta, Gemeinde, alerta!
> Seit 2022 sind die Mitglieder der Kirchen in Deutschland eine Minderheit.
> Fünf Themen, zu denen Christ*innen eine Haltung finden sollten.
Bild: Zusammenrücken, wenn sich die Reihen leeren: Gottesdienst im Essener Dom…
Es ist so weit: Weniger als die Hälfte der Menschen in Deutschland sind
Mitglied der katholischen oder evangelischen Kirche. Die 50-Prozent-Marke
wurde im Frühjahr unterschritten. Erstmals seit Jahrhunderten sind die
„Großkirchen“ damit eine Minderheit im Land. Zugegeben, eine Minderheit von
immerhin noch 40 Millionen. Orthodoxe, Freichrist:innen und andere nicht
mitgezählt.
Bedeutungslos sind die Kirchen damit keineswegs. Auch unter denen, die
ausgetreten oder gar nicht getauft sind, haben viele nach wie vor gewisse
Erwartungen an die Kirchen. Am Ende des Jahres lohnt also ein Blick darauf,
wie es 2022 so lief bei den Kirchen in Deutschland – und was im kommenden
Jahr besser laufen kann.
## Staatsleistungen
Auch 2022 haben die Bundesländer – Hamburg und Bremen ausgenommen – den
beiden Großkirchen wieder mehr als eine halbe Milliarde Euro überwiesen.
Diese Zahlungen sind nicht zu verwechseln mit der Kirchensteuer und auch
nicht mit staatlichen Mitteln für kirchliche Schulen, Krankenhäuser und
Kitas. Es ist Entschädigungsgeld für die Enteignung von Kirchenbesitz
Anfang des 19. Jahrhunderts. Schon in der Weimarer Verfassung wurde das
Ende dieser Leistungen festgeschrieben, ins Grundgesetz übernommen.
Nach über 100 Jahren geht die Ampel die Sache endlich an. Es ist gut, dass
die Verfassung umgesetzt wird. Und gut auch, dass die Kirchen einsichtig
sind. Allerdings wollen sie eine einmalige Ablöse. Zehn bis 11 Milliarden
Euro sind im Gespräch. Der katholische Bischof Gregor Hanke hat recht, wenn
er sich „für eine schnelle und einvernehmliche Lösung“ ausspricht. Recht
hat er auch mit seiner Analyse: „Wenn die Kirchen jetzt pokern, stehen sie
bei der rasant nachlassenden gesellschaftlichen Bedeutung der Kirchen am
Ende ohne nennenswerte Ablöse da.“ Also: Im kommenden Jahr müssen
Ergebnisse her. Denn die Gesellschaft könnte das Geld auch anderweitig gut
gebrauchen.
## Sexualisierte Gewalt
Wo wir gerade bei Zahlungen von der weltlichen an die geistliche Macht
sind: Der katholische Kölner Bischof [1][Rainer Maria Woelki] bekommt
14.156,81 Euro im Monat vom Land NRW. Von dem Massenaustritt in seinem
Erzbistum ist der mutmaßlich meineidige Oberhirte persönlich-finanziell
also nicht betroffen. Woelkis Versagen bei der Aufklärung sexualisierter
Gewalt spüren auch die örtlichen Protestant:innen bei den Austritten.
„Da wird die evangelische Kirche in Mithaftung genommen“, jammern die
Rheinländer ein Stück weit zu Recht. Andererseits hat die evangelische
Kirche ja selbst noch sehr viel in Sachen Aufarbeitung zu tun. Sie hinke
der katholischen Kirche sogar noch hinterher, mahnte im August die
Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Kerstin Claus.
Beeindruckt haben dagegen 2022 die Betroffenen damit, welche Schritte sie
teils zu gehen bereit waren. Georg Menne und Andreas Perr zum Beispiel
haben sexualisierte Gewalt durch katholische Priester erfahren. Die Fälle
sind strafrechtlich verjährt. Mit ihren zivilrechtlichen Klagen haben Menne
und Perr jedoch ein neues Kapitel im Kampf für Anerkennung aufgeschlagen,
denn sie machen die Kirchenoberen mitverantwortlich und fordern
Schmerzensgeld.
Mennes Prozess gegen das Erzbistum Köln hat im Dezember begonnen. Perrs
Fall wird vermutlich Ende März 2023 in Traunstein verhandelt werden. Mit
auf der Anklagebank: Papst emeritus Benedikt XVI., der sich von der
internationalen Großkanzlei Hogan Lovells vertreten lässt. Aber auch der
Kläger steht nicht allein. Die Initiative Sauerteig aus Perrs Heimatort
Garching bittet „jeden um seine, wenn auch noch so kleine Unterstützung,
damit Andreas Perr sich nicht einschüchtern lassen braucht“. Auf
initiative-sauerteig-garching.de kann man für den bestmöglichen
Rechtsbeistand spenden. Auch das ist Kirche.
## Kings, Queens, Christian Queers
„Wir alle waren schon immer Teil der Kirche und gestalten und prägen sie
heute mit“, heißt es in dem Manifest von 125 queeren Mitarbeitenden der
katholischen Kirche, die im Januar unter dem Schlagwort [2][#OutInChurch]
an die Öffentlichkeit gingen. Auch 35 kirchliche Verbände unterstützten die
Aktion. „Wir fordern eine Korrektur menschenfeindlicher lehramtlicher
Aussagen“, hieß es in ihrem Statement. „Und wir fordern eine Änderung des
diskriminierenden kirchlichen Arbeitsrechts.“
Eine Korrektur der katholischen Geschlechter- und Sexuallehre kam 2022 noch
nicht. Dass die Mehrheit der Bischöfe einen entsprechenden Antrag ablehnte,
brachte im September den Reformprozess des Synodalen Wegs fast zum
Scheitern. Immerhin haben sie Vorschläge zur Neubewertung von
Homosexualität und zur Teilhabe von Frauen an allen Ämtern in der Kirche
angenommen.
Und: Ende November hat der Verband der Diözesen Deutschlands das
katholische Arbeitsrecht reformiert. Homosexualität, Scheidung,
Wiederheirat – aus solchen Privatangelegenheiten ihrer Mitarbeitenden
wollen sich die Bistümer in Zukunft raushalten. Göttin sei Dank. Allerdings
muss 2023 noch nachgebessert werden. Denn nicht nur die sexuelle, sondern
auch die geschlechtliche Identität ist Privatsache und geht die
Dienstherren nichts an.
## Krieg und Klima
Von Beginn an waren viele Christ:innen in der Umwelt- und Klimabewegung
engagiert und auch in der Friedensbewegung. Einerseits kann man Ende 2022
sagen: Die Kirchen sind zu unentschieden bei den großen Fragen des Jahres,
ihre Stimme ist teils kaum hörbar. Mit Blick auf andere Länder kann man
aber auch argumentieren: Wie gut, dass die Kirchenleitungen hier den Krieg
nicht religiös verbrämen und die Klimakrise nicht leugnen. Wie gut, dass
sie sich nur noch als Player unter anderen in der Demokratie verstehen. Wie
gut, dass es Friedensbischöf:innen gibt, die diskutieren mit den
Kolleg:innen, die für mehr militärisches Engagement eintreten. Für
Geflüchtete setzen sich beide Seiten ein.
Wie gut, dass der Weltkirchenrat bei seiner Vollversammlung im September in
Karlsruhe die russische Delegation neben der ukrainischen hat teilnehmen
lassen. So musste sie die Verurteilung des russischen Angriffs als „illegal
und nicht zu rechtfertigen“ miterleben. Außerdem verabschiedeten diese „UN
des Christentums“ bei ihrer ersten Versammlung in Deutschland einen Appell
zum Klimaschutz.
Die evangelische Kirche in Deutschland hat auf ihrer Synode im November
sogar die Letzte Generation sprechen lassen und beschlossen, dass die
Kirche politische Bemühungen um ein zeitnahes Tempolimit von höchstens 120
Stundenkilometern unterstützt. [3][Kirchliche Mitarbeitende wurden
aufgefordert, ab sofort das Tempo zu drosseln]. Immerhin in dieser Sache
war eine Kirche 2022 allen anderen voraus.
## Angriff von rechts
Die Kirchen werden 2023 noch mehr Mitglieder verlieren, und zwar schneller,
wie das nach einem Kipppunkt meistens so ist. Das ist okay. Denn im
Schrumpfen liegt die Chance, authentischer und kreativer zu werden. Frei
nach Jesus: Wer seine Privilegien erhalten will, wird verlieren, wer sie
aber um meinetwillen verliert, der wird gewinnen.
Im Schrumpfen liegt aber auch das Risiko der kleinen, frommen Herde. Die
weit rechte Minderheit in der Minderheit – darunter einige Adlige – wappnet
sich konfessionsübergreifend für den Kampf gegen Geschlechtervielfalt,
Einwanderung und [4][Schwangerschaftsabbruch].
Linke, liberale und insbesondere konservative Christ:innen müssen darauf
eine ebenso übergreifende Antwort geben, und zwar wissenschaftstreu und
demokratisch.
29 Dec 2022
## LINKS
[1] /Zeugin-belastet-Kardinal-Woelki/!5895824
[2] /Reformbewegung-in-der-katholischen-Kirche/!5878210
[3] /Beschluss-der-Evangelischen-Kirche/!5892152
[4] /Online-Petitionen-gegen-Abtreibung/!5786746
## AUTOREN
Stefan Hunglinger
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