# taz.de -- Porträt von Marc Weiser: Auch Free Jazz kann geil sein | |
> Schon lange mischt Marc Weiser in der Berliner Subkultur mit. Nun bringt | |
> er mit Konzerten Schwung in das Jugendwiderstandsmuseum in | |
> Friedrichshain. | |
Bild: Marc Weiser im Jugendwiderstandsmuseum in der Galiläakirche in der Rigae… | |
Es ist kalt in der Galiläakirche in Friedrichshain, dem Arbeitsplatz von | |
Marc Weiser, der seine Daunenjacke lieber nicht auszieht. Es gebe zig | |
Heizkörper hier, sagt er, aber diese anzuwerfen, das könne man sich ganz | |
einfach nicht leisten. Bei den derzeitigen Energiepreisen sowieso nicht. | |
Die 113 Jahre alte und unter Denkmalschutz stehende Kirche sei so gut wie | |
gar nicht gedämmt, „die Wärme steigt nach oben und zieht direkt ab durch | |
das Dach“, sagt er. | |
Gleich wird es hier, wo man fast seinen eigenen Atem zu sehen glaubt, ein | |
Konzert geben. [1][Tom Liwa, Singer-Songwriter-Legende] und ehemaliger Kopf | |
der Flowerpornos, ist aus dem Wendland angereist, um hier später zu | |
spielen. Er macht gerade den Soundcheck, trägt dabei eine Pudelmütze und | |
auch er zieht seine Winterjacke lieber nicht aus. | |
Gerne würde er mitten in der Kirche, die schon lange nicht mehr von ihrem | |
Besitzer, der Evangelischen Kirche, für Gottesdienste genutzt wird, | |
auftreten. Direkt vor dem Altar und der immer noch funktionierenden | |
Kirchenorgel also, wie ein Priester vor seiner Gemeinde, jedoch mit der | |
Gitarre in der Hand. Aber er sieht dann doch ein, dass diese Kälte | |
niemandem zuzumuten ist. Nicht ihm selbst und nicht dem Publikum. Also wird | |
er umziehen in den einzigen, wenngleich auch winzigen Raum des ganzen | |
Gebäudes, in dem eine Heizung läuft. | |
Weiser ist es, der Liwa für das Konzert nach Berlin geholt hat. Seit dem | |
Frühjahr dieses Jahres, seit der Aufhebung der härtesten Corona-Maßnahmen, | |
arbeitet er als Veranstalter im Jugendwiderstandsmuseum, das sich in der | |
Kirche eingerichtet hat. Und er hat den Ort, zumindest was die Konzerte | |
betrifft, seitdem gehörig umgekrempelt. | |
## Opposition in Friedrichshain | |
Die Idee hinter dem Museum ist es, [2][jugendkulturelle | |
Oppositionsbewegungen zu dokumentieren, die es auffällig oft im ehemaligen | |
Arbeiterbezirk Friedrichshain] gegeben hat. In vom Regime nur wenig | |
geliebten Kirchen wie der, in der man sich gerade befindet, fanden in der | |
DDR beispielsweise sogenannte Blues-Messen statt, in denen sich gerne auch | |
staatskritische Geister versammelten, die von der Obrigkeit misstrauisch | |
beäugt wurden. | |
Und als die DDR am Zusammenbrechen war, Ende der Achtziger, gab es hier in | |
Friedrichshain die größte Hausbesetzerszene der Stadt. Die | |
Straßenschlachten rund um die Mainzer Straße waren extrem und gingen in die | |
Geschichte Berlins ein. Auch davon wird in dem winzigen, aber originellen | |
Museum erzählt. | |
Veranstaltungen und vor allem Konzerte gehören schon länger mit zu dessen | |
Programm. Aber bis vor Kurzem waren das vor allem Punkkonzerte, passend zum | |
Flair von Teilen der Rigaer Straße, in denen die übriggeblienene | |
Hausbesetzerszene ihr letztes Refugium gefunden hat. Passend vielleicht | |
auch zu der Tatsache, dass [3][Punk als Widerstandsbewegung in der DDR] so | |
bedeutend war wie keine andere Jugendkultur im damaligen sozialistischen | |
Staat. | |
## Versponnen, verschroben, experimentell | |
Weiser aber, der sein musikalisches Programm [4][„Kultur am Dorfplatz“] | |
nennt, hat nun einen ganz neuen Sound in das Innere des alten | |
Kirchengemäuers gebracht. Jazz und experimentelle Elektronik zum Beispiel. | |
Die versponnen Klänge der Krautrock-Veteranen Embryo, die hier vor Kurzem | |
auftraten. Oder jetzt den verschrobenen Pop von Tom Liwa. | |
„Friedrichshain ist Anfang der Neunziger stehen geblieben“, sagt Weiser. | |
„Die Kneipen und die Kultur ist immer noch von der Zeit der besetzten | |
Häuser geprägt und seit damals ist eigentlich nichts Neues dazu gekommen.“ | |
Davon, das ist sein Ziel, möchte er sich „komplett lösen und sogar | |
distanzieren.“ | |
Die Neuausrichtung hin zum musikalisch Offenen werde auch durchaus | |
angenommen, findet er, und von der direkten Hausbesetzer-Nachbarschaft | |
wenigstens akzeptiert. „Neulich kam ein Punk vorbei, hat mir auf die | |
Schulter geklopft und gesagt: Free Jazz finde ich geil.“ | |
Weiser sagt, prinzipiell habe sich Friedrichshain in den letzten Jahren | |
natürlich schon verändert. Auch der Nordkiez um die Rigaer Straße sei | |
weitgehend gentrifiziert worden. Aber in der direkten Nachbarschaft zum | |
Widerstandsmuseum seien die Zustände teilweise ziemlich hart. „Wir haben | |
bei uns von mehreren Leuten Klamotten eingelagert, die in den letzten | |
Monaten zwangsgeräumt wurden“, sagt er. | |
„Schlägereien, extreme Gewalt und Drogenabhängige“ gehörten mit zum | |
Kiezbild. Es gehe somit auch darum, in einem sozialen Brennpunkt einen Ort | |
zu entwickeln, der nun zwar auch für eine für manche vielleicht etwas | |
ungewohnte musikalische Avantgarde offen ist. Der aber trotzdem nicht wie | |
ein Fremdkörper wirkt. | |
## Eine Art Hausbesetzer Veteran | |
Weiser ist mit seiner Tätigkeit im Jugendwiderstandsmuseum, das von dem | |
Sozialverband Hedwig-Wachenheim-Gesellschaft betrieben wird, sozusagen | |
zurückgekehrt zu seinen eigenen Wurzeln in Berlin. Als er, inzwischen Mitte | |
50, von Düsseldorf hierher zog, landete er direkt ums Eck in einem | |
besetzten Haus in der Rigaer Straße. Bei den Kämpfen um die Mainzer Straße | |
war er dabei. Er ist eine Art Hausbesetzer-Veteran. | |
Nach der Wende wurde es aber woanders in Berlins Osten noch interessanter | |
als in Friedrichshain, vor allem kulturell. Er zog weiter nach Mitte, | |
veranstaltete Konzerte im legendären „Eimer“ und machte nun verstärkt | |
selbst Musik. Ab den frühen Neunzigern wurde er zu einer der prägenden | |
Figuren der Berliner Subkultur, sowohl als Veranstalter als auch als | |
Musiker. So war er eine Zeit lang für das Programm des Clubs Maria am | |
Ostbahnhof zuständig und war Mitgründer des Musikfestivals Club | |
Transmediale, das es immer noch gibt und das auch international bekannt | |
ist. | |
Zuletzt veranstaltete Marc Weiser Konzerte im Roten Salon der Volksbühne. | |
Bis dort der ewige Chef Frank Castorf gehen musste. Mit dem neuen, Chris | |
Dercon, der nur sehr kurz blieb, weil er von dem Job komplett überfordert | |
war, habe er sich nicht so gut verstanden. Also war auch für ihn die Zeit | |
gekommen, zu gehen. | |
Und als Musiker war Weiser ebenfalls an so einigen bedeutenden Projekten | |
der Berliner Szene beteiligt. Mit den Elektronauten versuchte er sich an | |
Drum&Bass, mit Rechenzentrum an Glitch-Elektronik, die selbst die | |
Aufmerksamkeit des berühmten Londoner Radio-DJs John Peel erregte. Eine | |
Zeit lang war er Mitglied bei Zeitkratzer, einem Berliner Ensemble aus dem | |
Bereich der Neuen Musik. Und gelegentlich tritt er als Marc Marcovitch auf, | |
ganz ähnlich wie Tom Liwa: Allein und mit Gitarre. | |
Musikalisch war und ist Weiser also ziemlich breit aufgestellt, und das | |
soll sich nun also auch bei seiner Tätigkeit im Jugendwiderstandsmuseum | |
widerspiegeln. | |
Sein Ziel ist es, so sagt er, das Museum in der Kirche als | |
Veranstaltungsort zu etablieren und zu festigen. Dazu gehöre etwa auch die | |
Arbeit an einer besseren Sichtbarkeit, also beispielsweise an einem Update | |
der etwas [5][veraltet wirkenden Homepage]. Eine bessere Wahrnehmung sei | |
auch wichtig, um der Evangelischen Kirche als Vermieter der Galiläakirche | |
zu vermitteln: wir sind wichtig. Er glaubt nämlich, sonst könnte der | |
Eigentümer irgendwann auf die Idee kommen, die alte Kirche an jemand | |
anderes zu vermieten. Und dann müsste auch er wahrscheinlich erneut | |
weiterziehen, um wieder irgendwo etwas mit aufzubauen. | |
21 Dec 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Tom-Liwas-neues-Album-Goldrausch/!5099159 | |
[2] /DDR-Jugend/!5172824 | |
[3] /Konzert-mit-Ostpunkbands-in-Berlin/!5867695 | |
[4] https://widerstandsmuseum.de/kultur-am-dorfplatz/ | |
[5] https://widerstandsmuseum.de/ | |
## AUTOREN | |
Andreas Hartmann | |
## TAGS | |
Musik | |
Geschichte | |
Friedrichshain | |
Hausbesetzer | |
Konzert | |
DDR | |
Brandenburg | |
Stadtland | |
wochentaz | |
Stadtland | |
Cafés | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Neustart für Jugendwiderstandsmuseum: Ohne Plan, aber mit tausend Ideen | |
Das im Dezember dicht gemachte Jugendwiderstandsmuseum in der Galiläakirche | |
in Friedrichshain hat einen neuen Trägerverein gefunden. | |
Leerstehendes Rathaus in Brandenburg: „In Oderberg gibt es viel Reibung“ | |
Ab Samstag wird das leere Rathaus in Oderberg künstlerisch bespielt. Ein | |
Gespräch über Gentrifizierung auf dem Land und das Interesse des Investors. | |
Alte Lieder und Neue Musik: Mit Maria im Geigenhimmel | |
In der Musikgeschichte ist Maria immer wieder ein gern besungenes Thema. | |
Auch beim Berliner Ultraschall-Festival für Neue Musik war von ihr zu | |
hören. | |
Koloniale Spurensuche in Berlin: Apotheke der Schutztruppen | |
Wie schlugen sich die kolonialen Aktivitäten im Stadtbild von | |
Friedrichshain und Kreuzberg nieder? Ein Sammelband geht dieser Frage nach. | |
Berlins Spielplatz der Subkultur: Auf goldenem Boden | |
Das RAW-Gelände zeugt noch von Berlins wilder nachwendischer Zeit. Jetzt | |
werden die Interessen zwischen Partymeile und Investorentraum neu sortiert. | |
Auf einen Kaffee im neuen Kiez-Café: Café vorm Balkon | |
In der Hausburgstraße im Friedrichshainer Nordkiez ist nicht viel los. Da | |
ist das neu eröffnete „Café im Fenster“ eine willkommene Abwechslung. |