Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Leerstehendes Rathaus in Brandenburg: „In Oderberg gibt es viel R…
> Ab Samstag wird das leere Rathaus in Oderberg künstlerisch bespielt. Ein
> Gespräch über Gentrifizierung auf dem Land und das Interesse des
> Investors.
Bild: Einer der Schauspieler vor dem leeren Rathaus in Oderberg
taz: Am Samstag gibt es die erste Ratsversammlung auf dem Oderberger
Marktplatz. Im ehemaligen Rathaus können Bürgerinnen und Bürger ihre
Anliegen vortragen. Wie kamen Sie auf die Idee, ein leerstehendes Rathaus
bespielen zu wollen?
Heiko Michels: Ich war letzten Sommer öfter in [1][Oderberg]. Da gibt es
einen [2][alternativen Biergarten] mit veganem Curry, der zu einem
Treffpunkt von Alteingesessenen, Neuen und Touristen geworden ist. So einen
öffentlichen Ort hatte Oderberg lange nicht mehr, habe ich dann erfahren.
Warum nicht?
Michels: Weil das Rathaus seit 15 Jahren zu und die Kirche wegen giftiger
Holzschutzmittel geschlossen ist. Bei einem meiner Besuche habe ich
Wolfgang Carbon kennengelernt, der vor zwei Jahren das leerstehende Rathaus
gekauft hat. Er sagte dann einfach: Macht doch was.
Warum stand das Rathaus so lange leer?
Marc Weiser: 2008 wurde das Amt Oderberg aufgelöst und in das Amt
Britz-Chorin eingegliedert, das seitdem [3][Amt Britz-Chorin-Oderberg]
heißt. Damit brauchte die Stadt mit ihren 2.500 Einwohnern kein Rathaus
mehr. Es wurde verkauft. Der neue Besitzer wollte es zu einem Seniorenheim
umbauen, das hat sich aber zerschlagen. Er hat es dann vor zwei Jahren
weiterverkauft.
Macht doch was, sagt der neue Besitzer. Warum dann ausgerechnet
Rathaus-Spiele?
Michels: Ich bin damals tagelang durch Oderberg spaziert und hab überlegt,
was wir damit machen können.
Weiser: Ich hab dann gesagt, hej, wir spielen einfach Rathaus so wie Kinder
Postamt spielen. Wir gehen da rein und gründen Amtsstuben und überlegen,
was passiert. Wir lassen den Performerinnen und Performern eine große
Freiheit und darum bauen wir ein großes Spektakel.
Michels: Das sind zwar nur drei Wochen, aber natürlich hoffen wir, dass es
dann weitergeht, dass Netzwerke entstehen.
Ist das wirklich eine gute Idee? Immer weniger Menschen vertrauen der
Demokratie und ihren Institutionen. Und dann kommen zwei Berliner nach
Oderberg und spielen mit ihnen?
Michels: Das Rathaus als Ort steht nicht nur für demokratische Prozesse.
Und es ist mehr als ein Ort, an dem man sich seine Stempel geholt hat. Es
ist auch der Ort, wo man sich getroffen hat, also ein Ort des sozialen
Austauschs. Das ist heute alles ins Digitale abgewandert. Wir wollen mit
kulturellen Praktiken den Phantomschmerz sichtbar machen, diese schwindende
öffentliche Sphäre neuartig beleben. Dass das Rathaus nicht mehr da ist,
kritisieren wir nicht. Das ist eine Entwicklung, die können wir nicht mehr
stoppen.
Weiser: Aber natürlich weißt hier jeder, dass auch viel an Infrastruktur
drumherum weggebrochen ist, seitdem das Rathaus leer steht. Es haben ja
auch Leute im Rathaus gearbeitet, von denen einige kleine Läden gelebt
haben.
Was in diesen drei Wochen passieren soll, ist in gewisser Weise ein Versuch
der Wiederbelebung in einer Stadt, in der vieles verloren gegangen ist. Wie
reagieren denn die Menschen in Oderberg auf Sie? Sie sind ja beide jetzt
schon seit einiger Zeit dauerhaft vor Ort.
Michels: Natürlich sind da viele skeptisch. Aber dann gehen wir ins
Gespräch, und dann merken sie, dass wir an ihnen und ihren Erfahrungen
interessiert sind. Dass sich auch die Pläne für die Amtsstuben und die
Ratsversammlungen, die wir abhalten werden, ändern. Wir kommen also nicht
mit einem fertigen Plan aus Berlin, sondern das, was in den Amtsstuben
verhandelt wird, entsteht vor Ort. All das kommt dann auch auf den
öffentlichen Ratsversammlungen um 18 Uhr auf dem Marktplatz zur Sprache.
Gibt es denn auch Menschen vor Ort, die in die Vorbereitung involviert
sind?
Michels: Die gibt es. [4][Die Perspektive Oderberg], die Initiative [5][Pro
Wald], die sich gegen einen Solarpark wehrt, das [6][deutsch-polnische
Theater Okno]. Da gab es gute Rückmeldungen.
Weiser: Ich war gerade beim Frühschoppen und sehe das ein bisschen anders.
In diesen drei Wochen werden wir nicht mehr schaffen als Kontakte
herstellen zu können. Erst im nächsten Jahr könnte es dann dazu kommen,
dass die Menschen vor Ort das mit uns zusammen machen. Die vor Ort aktiven
Initiativen sind übrigens auch Zugezogene, das sind die, die vor zwanzig
Jahren aufs Land gezogen sind. Die wirklich Einheimischen sind größtenteils
sehr skeptisch.
Das haben Sie auch beim Frühschoppen mitbekommen?
Weiser: Ja, für die ist das so der nächste Schritt einer Kolonialisierung.
Ihre Erfahrung ist, dass die Berliner hierher kommen und alles aufkaufen.
Zu Mondpreisen, die sie selbst nicht mehr bezahlen können. Das alles hab
ich mir angehört beim Frühschoppen. Ich glaube, nur so geht es, dass man
miteinander ins Gespräch kommt.
Michels: Oderberg befindet sich in einem Zustand der Transformation. Das
wollen wir auf die Bühne bringen. Auch die Kontroversen, die damit
zusammenhängen.
Weiser: Die Mechanismen, die hinter der Gentrifizierung stecken, sind auf
dem Land die gleichen wie in Berlin. Nur sind sie nicht immer so sichtbar.
Als Künstler ist man ja – normalerweise – ungern ein Trüffelschwein für
einen Projektentwickler. In diesem Fall sind Sie das aber, weil Sie dem
Besitzer des Rathauses helfen, seine Immobilie in Wert zu setzen. Haben Sie
deswegen mal eine Nacht schlecht geschlafen?
Weiser: Ich komme aus der Besetzerbewegung in der Rigaer Straße in
Friedrichshain. Natürlich ist das für mich ein Problem. Jede
Zwischennutzung hilft dem Eigentümer. Da kommt man nicht raus. Deswegen
habe ich gesagt: Wenn ich da mitmache, will ich das auch kritisieren
dürfen. Dann hat sich herausgestellt, dass das ein wirklich guter Typ ist.
Michels: Veränderung passiert sowieso. Vielleicht kommt einer in drei
Jahren und sagt: Ich mach da einen Coworking-Space. Es kann aber auch sein,
dass wir das beschleunigen. Das thematisieren wir aber offen. Vielleicht
sollten wir die Orte besetzen, bevor die Leute mit dem richtigen Geld
kommen.
Weiser: Wenn man ganz kurz nur eine Zwischennutzung machen würde und dann
wieder weg ist, dann würde ich das negativ sehen. Aber ich bin jetzt auch
in einem Alter, wo ich sage, ich habe ein Interesse daran, mit dem
Wolfgang…
…dem Eigentümer.
… was weiterzuentwickeln.
Und damit auch für verstärkten Zuzug zu sorgen? Vielleicht kommen wegen der
Rathaus-Spiele dann noch mehr Leute in die Stadt, die ja sehr viel Charme
hat. Dann waren Sie auch ein Treiber der Transformation, die Sie
beobachten.
Michels: Ja, das wird so sein. Das lässt sich nicht auflösen.
Weiser: Wir werden sowieso alle früher oder später aus Berlin verdrängt
werden. Nach Brandenburg zu gehen, ist dann wohl die einzige Alternative,
die uns bleibt. Wer Geld hat, kann in der Stadt bleiben. Wer keines hat,
muss sich draußen eine Alternative aufbauen. Je früher man damit anfängt…
Michels: Desto mehr erweitert man seinen eigenen Dunstkreis.
Weiser: Und jetzt kann man sich das vielleicht noch leisten. Ich
veranstalte seit 30 Jahren Konzerte, und ich merke ja auch da, wie wichtig
es geworden ist, alternative Kulturstätten im ländlichen Raum zu
unterstützen.
Michels: Ich hab in letzter Zeit das Gefühl, dass das, was Berlin in den
neunziger Jahren ausgestrahlt hat, ein kulturelles Labor zu sein, jetzt in
Brandenburg entsteht. Vielleicht platzen die Paradoxe unserer Zeit hier, in
den ländlichen Regionen, gerade eher auf als im Prenzlauer Berg oder
Kreuzberg. Als Theatermacher interessieren mich die Momente des Tragischen,
die Widersprüche. In Berlin gehen die einen in die Volksbühne, die anderen
ins Deutsche Theater. Egal was auf der Bühne passiert – im Publikum gibt es
jeweils ein gewisses Einverständnis. Hier gibt es dagegen Reibung, Reibung,
Reibung.
8 Jun 2023
## LINKS
[1] https://oderberg.info/
[2] https://www.brotundkunst57.de/
[3] https://britz-chorin-oderberg.de/
[4] https://www.perspektive-oderberg.org/
[5] https://pro-wald-hohensaaten.de/
[6] https://www.theater-okno.net/
## AUTOREN
Uwe Rada
## TAGS
Brandenburg
Zwischennutzung
Politisches Theater
Musik
Freiberufler
## ARTIKEL ZUM THEMA
Porträt von Marc Weiser: Auch Free Jazz kann geil sein
Schon lange mischt Marc Weiser in der Berliner Subkultur mit. Nun bringt er
mit Konzerten Schwung in das Jugendwiderstandsmuseum in Friedrichshain.
Berlins Selbstständige in der Krise: Die Stimmung ist wolkig bis trübe
Viele Solo-Selbständige trifft die Coronakrise besonders hart. Wie geht's
ihnen im Novemberlockdown? Sechs Protokolle.
Freiberufler in der Coronakrise: Tapfere Solokämpfer
Im April und auch im Mai hatten wir Soloselbstständige befragt, wie sie die
Coronakrise überstehen. Wie geht es ihnen jetzt im Juli? Sechs Protokolle.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.