# taz.de -- Koloniale Spurensuche in Berlin: Apotheke der Schutztruppen | |
> Wie schlugen sich die kolonialen Aktivitäten im Stadtbild von | |
> Friedrichshain und Kreuzberg nieder? Ein Sammelband geht dieser Frage | |
> nach. | |
Bild: Die Oberbaumbrücke heute: In der Nähe legten früher die Schiffe zur Ko… | |
BERLIN taz | Auf der einen Seite der Oberbaumbrücke, die die Berliner | |
Ortsteile Kreuzberg und Friedrichshain verbindet, kann man in lauen | |
Sommernächten auf der Terrasse des Clubs Watergate den Blick auf die Spree | |
genießen. Auf der anderen Seite befindet sich ein schickes Restaurant in | |
einem historischen Gebäudekomplex, der es in sich hat und dessen | |
ursprüngliche Bedeutung kaum bekannt ist in Berlin. | |
Hier, am heutigen May-Ayim-Ufer lässt sich immer noch die historische | |
Doppelkai-Anlage bewundern, im wilhelminischen Stil erbaut und 1895 als | |
prunkvolle Schiffsanlegestelle eröffnet. Ihr Zweck war es, die Leute | |
einzusammeln, um sie von hier aus zur Kolonialausstellung im nahegelegenen | |
Treptower Park zu schippern. | |
„Man fuhr dann unter der Oberbaumbrücke hindurch, die so etwas wie eine | |
Grenze war“, sagt Migrations- und Postkolonialforscher Mark Terkessidis. | |
„Man verabschiedete sich aus dem neogotischen Berlin und fuhr dann | |
sozusagen in die weite Welt der Kolonialausstellung hinaus.“ | |
Die Spuren aus den Zeiten, in denen sich Deutschland, beziehungsweise | |
Preußen und später das Deutsche Kaiserreich und natürlich auch Berlin als | |
kolonialistische Mächte verstanden, sind also immer noch da. Überall in der | |
Stadt. Man muss nur etwas genauer hinblicken. Und den Kolonialismus als | |
Teil deutscher Erinnerungskultur ernst nehmen. | |
So wurde etwa das May-Ayim-Ufer selbst bis 2010 noch Gröbenufer genannt, | |
nach Otto Friedrich von der Groeben, der im späten 17. Jahrhundert eine | |
Kolonial-„Expedition“ an die afrikanische Guineaküste leitete. Sein | |
Auftrag: einen Handelsstützpunkt für Waren und Sklaven zu errichten. | |
Die [1][Umbenennung] war die erste in Berlin, die einen Namen mit | |
kolonialem Bezug aus dem Stadtbild entfernte, so Terkessidis. Damals wurde | |
darüber heftig gestritten, und dass nicht jeder den Sinn davon versteht, | |
Kolonialnamen zu tilgen, erlebt man ja aktuell wieder in Berlin beim | |
Dauerstreit um die Mohrenstraße, die inzwischen lieber „[2][M-Straße]“ | |
genannt wird, aber immer noch keinen offiziellen neuen Namen bekommen hat. | |
Terkessidis hat nun gemeinsam mit Natalie Bayer, der Leiterin des | |
Friedrichshain-Kreuzberg-Museums, das Buch „Die postkoloniale Stadt lesen“ | |
herausgebracht. Das, so heißt es im Untertitel, versammelt „historische | |
Erkundungen in Friedrichshain-Kreuzberg“. Finanziert wurde das Buchprojekt | |
aus Mitteln des Bezirkskulturfonds. | |
Die wissenschaftlichen Essays mehrerer Autoren und Autorinnen sind | |
Streifzüge durch einen Bezirk, die untersuchen, wie sich der Kolonialismus | |
ins Stadtbild eingeschrieben hat – und sei es auch nur unterschwellig und | |
gar nicht mehr sichtbar. So sagt Terkessidis etwa über den Treptower Park, | |
in dem er bis vor Kurzem noch regelmäßig joggen war: „Auch den nimmt man | |
anders wahr, wenn man sich die afrikanischen Dörfer dort vorstellt, die es | |
da während der [3][Kolonialausstellung] gegeben hat.“ | |
Der methodische Zugang, um mehr über das postkoloniale | |
Friedrichshain-Kreuzberg in Erfahrung zu bringen, war, Friedhofsregister zu | |
durchforsten, Straßennamen genauer unter die Lupe zu nehmen, bestimmte | |
Gebäude und Museen zu scannen, so Bayer. „Erst dachten wir, das war ja ein | |
Arbeiterbezirk, was soll da schon groß zu finden sein. Aber dann fanden | |
sich hier wahnsinnig viele Kolonialbezüge.“ | |
Dazu muss man wissen, dass eine Einteilung in bestimmte Bezirke erst 1920 | |
in Berlin vorgenommen wurde. Und dass das heutige Friedrichshain-Kreuzberg | |
immerhin direkt an Mitte anschließt, wo das imperiale Berlin sich mit | |
seinen imposantesten Prunkbauten repräsentieren ließ. | |
Bayer nennt die Arbeit für das Buch „Grundlagenforschung“. Über die | |
Rückkopplungen, die der Kolonialismus bis in die letzten Winkel der Stadt | |
hatte, „wusste man vorher gar nichts“, sagt sie. Und Terkessidis meint: „… | |
gibt ja immer die Vorstellung, [4][deutschen Kolonialismus] gab es zwischen | |
1848 und 1919, und danach war die Sache erledigt. Und das meiste von | |
Bedeutung ist sowieso in der Kolonie passiert und hatte wenig Rückwirkung | |
auf Städte und Bezirke in Deutschland. Unsere Idee war, mal zu schauen, was | |
dieser hier ausgelöst hat, auch bezüglich der Stadtentwicklung.“ | |
Bayer glaubt, einen Startschuss abgegeben zu haben, auf den noch viele | |
weitere historische Erkundungen folgen werden. Inzwischen, so sagt sie, | |
sind in vielen weiteren Berliner Bezirken ähnliche Untersuchungen gestartet | |
worden, auch in denen am Stadtrand, die erst noch meinten, bei ihnen gäbe | |
es sowieso nichts zu finden. | |
Auf der Website [5][Kolonialismus-begegnen.de] sollen die | |
Forschungsergebnisse dieser Streifzüge nun nach und nach hochgeladen | |
werden. Eine Stadtkarte des postkolonialen Berlins soll so entstehen. In | |
Hamburg und Köln gebe es bereits derartige historische Aufarbeitungen, so | |
Bayer, allerdings noch nicht in dem Umfang, in dem das jetzt für Berlin | |
geplant ist. | |
Dass der deutsche Kolonialismus im heutigen Berlin widerhallt, ist ja | |
inzwischen offenkundig. Das zeigt sich nicht bloß in Straßennamen, die | |
irgendwelche vermeintliche Abenteurer würdigen, die die weite Welt | |
erforschen wollten, in Wahrheit aber auch kolonialistisch unterwegs waren. | |
Selbst den großen [6][Alexander von Humboldt], mit dem sich Berlin so gern | |
schmückt, könne man ruhig mal kritischer betrachten, dafür plädiert | |
Terkessidis in seinem Buch „Wessen Erinnerung zählt?“. Reisen wie die | |
Humboldts hatten schließlich nicht nur den Zweck, den Menschen auf anderen | |
Kontinenten Guten Tag zu sagen. Sie bildeten die Grundlage für die Rede von | |
„Naturvölkern“ und die Herabsetzung anderer im Vergleich zur eigenen | |
Kultur. | |
Im Humboldt Forum des bizarrerweise wiedererrichteten Stadtschlosses in | |
Berlins Mitte werden nun ja auch die ganzen Schätze ausgestellt, die bei | |
Expeditionen auf teils arg dubiose Weise aus Übersee eingesammelt wurden. | |
Dort ist man jetzt mit Vorwürfen konfrontiert, diese seien eigentlich | |
nichts anderes als Raubkunst, die man endlich wieder [7][zurückzugeben | |
habe]. | |
Aber nicht bloß im Humboldt Forum wird man die deutsche Vergangenheit | |
einfach nicht los. Auf dem Neuköllner Friedhof Columbiadamm etwa findet man | |
den „[8][Hererostein]“, ursprünglich „Afrikastein“ genannt, der den | |
„heldenhaften“ Kolonialsoldaten gewidmet ist, die in der ehemaligen | |
deutschen Kolonie Namibia kämpften. | |
Und am Oranienplatz in Kreuzberg, wo sich heute eine Bar und ein Restaurant | |
eingenistet haben, befand sich einst die Oranien-Apotheke. Hier deckten | |
sich Reisende in die deutschen Kolonien mit Medikamenten ein, und die | |
sogenannten Schutztruppen, die die Ausbeutung der Kolonien militärisch | |
absicherten, wurden hier ebenfalls versorgt. Jede Kolonial-„Expedition“ | |
wollte ja erst einmal gut vorbereitet sein. Und nahm ihren Anfang unter | |
anderem in dieser in ein Restaurant umfunktionierten Apotheke am | |
Oranienplatz. In dem die historischen Apothekengerätschaften und -regale | |
übrigens immer noch als Dekoration zu sehen sind. | |
14 Nov 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Rassismus-und-Black-History-Month/!5829456 | |
[2] /Strassenumbenennung-in-Berlin-Mitte/!5781355 | |
[3] /Ausstellung-zur-Kolonialgeschichte/!5807261 | |
[4] /Deutscher-Kolonialismus/!t5394549 | |
[5] https://kolonialismus-begegnen.de/ | |
[6] /Humboldt-Ausstellung-in-Berlin/!5640129 | |
[7] /Rueckgabe-von-Kunstobjekten-an-Nigeria/!5863181 | |
[8] /Afrikastein-in-Berlin-Neukoelln/!5870084 | |
## AUTOREN | |
Andreas Hartmann | |
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