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# taz.de -- Analyse zum WM-Aus des DFB-Teams: Zurück in die Zukunft
> Nach dem erneuten WM-Vorrundenaus bräuchte das DFB-Team wieder einen
> Neuanfang. Zu befürchten ist aber eine
> Niederlagenaufarbeitungskommission.
Bild: Entsetzt: DFB-Spieler Antonio Rüdiger nach dem Spielende und WM-Aus
Manchmal entwickelt der Fußball eine infernalische Kraft. Er schleift
Gewissheiten, scheint die alte Welt aus den Angeln zu heben und eine neue
Ordnung zu schaffen, von der keiner wusste, dass sie in dieser Form
existiert. Auch Bundestrainer Hansi Flick war diese Parallelwelt nur aus
Erzählungen bekannt, bis er vom großen Scharfrichter Fußball bitter lernen
musste, dass Deutschland keine Turniermannschaft mehr ist und auch kein
Team, das automatisch in die K.-o.-Runde einer WM einzieht. Warum? Weil es
eben so ist.
Der Automatismus ist nun schon zum zweiten Mal gebrochen. [1][Deutschland
hat sein letztes Gruppenspiel gegen Costa Rica gewonnen, aber es reicht
nicht zum Weiterkommen].
Wo das DFB-Team sein Refugium hatte, da tummeln sich jetzt Teams aus Japan
und Marokko. „Diversity wins“ – so gesehen. Der Slogan steht am Flieger d…
DFB-Truppe. Er war anders gedacht und erweist sich nun als
Bekenntniskitsch. Wie so vieles in den vergangenen zwei, drei Wochen.
Der Fußball scheint die allzu Selbstsicheren auf den Boden der Tatsachen zu
führen: lustvoll, höchst unterhaltsam und für die Betroffenen mit einer
großen Gnadenlosigkeit. Fast könnte man denken, hier seien unsichtbare
Lehrmeister einer moralischen Anstalt am Werke, die jene [2][mit
hypertrophem Selbstbewusstsein] oder allzu schiefem Selbstbild in die
Wirklichkeit des Sports zurückholen, wo dann Bilder entstehen vom Elend der
Nationalspieler: konsterniert auf dem Feld, gelähmt auf der Bank, manche
mit Tränen in den Augen. Erstarrte Salzsäulen der Fassungslosigkeit.
## Gewogen und für zu leicht befunden
Der Kontrast ist riesig: Eben noch auf den WM-Pokal schielend, nun
Prüflinge, gewogen und für zu leicht befunden. Das Hyänenrudel der Experten
fletscht die Zähne. Die Presse, eben noch bereit, die größte
Nebensächlichkeit aus dem Lager der Deutschen als wichtige Nachricht unters
Volk zu bringen, schwenkt um in den Modus der Verurteilung.
Es ist nicht so, dass die Berufsopportunisten lange suchen müssten. Sie
werden schnell fündig. Dass es sich beim nun multiplen Scheitern der
Deutschen um Zufall, Pech gar, handeln könnte, fällt aus. Das Versagen ist
systemisch, so viel steht fest. Es hat eine innere Logik, deren Formeln
aber durchaus kompliziert sind.
Man muss ein bisschen ausholen, [3][zurückgehen ins Jahr 2006, als nicht
nur die Welt, sondern auch die Nationalmannschaft eine andere war]. Der
deutsche Fußball hatte gerade die größte Transformation seiner Geschichte
hinter sich. Die Kicker konnten plötzlich Tiki-Taka und sie konnten kreativ
sein, jedenfalls häufiger als früher.
## Geburt der „Internationalmannschaft“
Die Nationalmannschaft wurde zum Labor für Veränderung, durchaus in
Abgrenzung und Opposition zum verkrusteten DFB in Frankfurt am Main. Die
Nati-Crew, Hansi Flick war damals schon dabei, entwickelte einen
Korpsgeist, der inspirierend wirkte, frisch und modern. Sie bot eine
Identifizierungsplattform. Fans konnten mit denen etwas anfangen, sie
erzählten sich Sommermärchen.
Die Truppe zeigte damals schon Anzeichen von Hybris, allen voran
Vermarktungsoffizier Oliver Bierhoff, der sich nicht entblödete, als
Markenbotschafter der Schweizer Uhrenmarke IWC die Nationalspieler zu einem
Workshop in eben jene Firma zu schleifen, was viel über sein Verständnis
von Führung sagte.
Aber das ging unter. Das Image der Macher dominierte. Bundestrainer Jogi
Löw und sein Assistent Flick wirkten sympathisch, unprätentiös. Sie
erklärten ihren Fußball ruhig und geduldig. Deutschland hörte ihnen zu. Und
es ging ja auch wirklich voran. Nach der Überraschungs-WM 2006
[4][überzeugte die Nationalmannschaft in Südafrika] vor allem spielerisch.
[5][Von der „Internationalmannschaft“ wurde geschrieben,] von der
Unbeschwertheit der „jungen Wilden“.
Alles schien möglich. Und tatsächlich: [6][Der WM-Titel folgte vier Jahre
später]. Das Team konnte vor Kraft und innerer Überzeugung kaum laufen.
[7][Demütigte die Gastgeber]. „So geh’n die Gauchos“, sangen sie auf der
Berliner Fanmeile, [8][aufgepumpt vom Erfolg] – und weniger tugendhaft als
heute.
In solchen Momenten denkt man, es könnte ewig so weitergehen. Man hat ja
bewiesen, dass das Modell erfolgreich war. Warum etwas verändern? Die
Nati-Crew aber hatte sich zu Tode gesiegt. Sie hatte mittlerweile ja auch
den DFB erobert. Was sollte jetzt noch kommen? Die Uefa, die Fifa? Hansi
Flick wurde Sportdirektor im DFB, Oliver Bierhoff DFB-Direktor mit großen
Kompetenzen. Sie hatten den Laden übernommen oder zumindest nach ihren
Interessen ausgerichtet.
Bierhoff etablierte 2015 [9][die Marke „Die Mannschaft“], aber die
Mannschaft, angeblich Solitär im deutschen Teamsport, wuppte ab da nichts
mehr. Ein Prozess der Entfremdung setzte ein. Die Fans distanzierten sich
zunehmend; in Doha blieben sie blass, zersplittert, leise. Die Mannschaft
wurde zum Scheinriesen, zur Markenhülle. Löw blieb so lange auf seinem
Posten kleben, bis es peinlich wurde. [10][Erst das Aus bei der WM in
Russland] belehrte ihn eines Besseren.
## Saturiertheit der allzu Erfolgreichen
Und Flick? Hat als Bundestrainer seine Leichtigkeit verloren. Er ist vom
Fußballerklärer zum Funktionär geworden. Die Saturiertheit der allzu
Erfolgreichen hat auch ihn eingeholt. Bei den klimatischen Bedingungen im
DFB ist das kein Wunder. Am Stadtwald in Frankfurt, dem Sitz des DFB, sind
noch ganz andere gescheitert: zuletzt der Freiburger Fritz Keller als
Präsident, dabei schien er doch wie gemacht für den Posten. Der Verband
klammerte sich in seiner Hilf- und Richtungslosigkeit zunehmend ans
Nationalteam, und als aus dem auch ein unsicherer Kantonist zu werden
drohte, verkumpelte sich der Verband mit dem Juste Milieu.
Dafür ist nun der ehemalige SPD-Lokalpolitiker [11][Bernd Neuendorf, der
neue Präsident], zuständig, der sich [12][in Opposition zur Fifa und zu
Katar sieht]. Eingeigelt ins Luxusresort im Norden Katars, über 120
Kilometer von Doha entfernt, erschien das Lager der Deutschen als das
Epizentrum des ethisch vollendeten Fußballsports. So angemessen die
Anliegen der Deutschen gewesen sein mögen, die Politisierung war der
Leistung offensichtlich abträglich.
Auch diese Lehre hätten sie aus der [13][Katastrophen-WM in Russland]
ziehen können. Seinerzeit waberten die [14][Diskussionen ums „Deutschsein“
von Mesut Özil] durch die Mannschaft und die Öffentlichkeit, jetzt galt es,
dem katarischen Gesellschaftsmodell den Stempel der Rückständigkeit zu
verpassen – mit moralinsaurer Symbolpolitik, der One-Love-Binde und der
Mund-zu-Geste.
## Entrückt in einer schönen heilen Welt
Wie entrückt der DFB-Tross in seiner schönen, bis Donnerstag noch heilen
Welt lebte, illustriert eine Szene, die vorm Spiel gegen Spanien datiert:
Da erschien Bundestrainer Hansi Flick vor den Medien im Pressezentrum.
Allein. Normalerweise hätte er in Begleitung eines Spielers auf dem Podium
sitzen müssen, aber diese lange Fahrt sei seinen Schützlingen nicht
zuzumuten, „vor so einem wichtigen Spiel“. Und außerdem könnte doch die
versammelte Weltpresse zu den Deutschen kommen; man habe ein schönes
Medienzentrum im Norden Katars eingerichtet. Die Fifa sanktionierte den
selbstherrlichen DFB mit 10.000 Euro.
So geht es für die deutsche Nationalmannschaft zurück in die Zukunft,
vielleicht sogar ins Jahr 2000, dem letzten großen Tiefpunkt. Unter Erich
Ribbeck vergeigte der DFB-Tross die Europameisterschaft, verlor gegen
Portugal und England, konnte jahrelang nicht gegen „die Großen“ gewinnen.
Dann reagierte man. Mit Nachwuchszentren, professioneller Trainerarbeit,
mit Risikokapital. Vor so einem Umbruch scheint der deutsche Fußball nun
wieder zu stehen. Bundestrainer Flick, der wohl die längste Zeit
Bundestrainer gewesen sein dürfte, bemängelte nach dem spektakulären Aus
die Qualität der deutschen Defensivkräfte.
Es gebe zu wenig gute Abwehrspieler in Deutschland. Und die wenigen guten,
so ließe sich ergänzen, machen zum Teil haarsträubende Fehler. Beim 4:2
gegen Costa Rica patzte sogar der hoch gelobte Antonio Rüdiger. Auch Nico
Schlotterbeck, Niklas Süle und David Raum standen bisweilen neben sich.
Flick fand nie seine Stammabwehr, testete und rotierte. Weiter vorn setzte
er auf einen kompakten Bayern-Block, weil ihm das als ehemaligem
Bayern-Coach irgendwie logisch erschien. Wenig fruchtete, Chancen wurden im
Dutzend vergeben. Siechtum auf hohem Niveau.
Es braucht, nun ja, einen Neuanfang. Die Alten, Bierhoff, Flick und Co,
mehr oder weniger seit 16 Jahren im Amt, müssen den Laden übergeben an
Fußballfachleute, die nicht nur mit der Verwaltung alter Erfolge
beschäftigt sind. Der Marsch der 2006er-Crew durch die Institutionen ist zu
Ende.
Das Nationalteam muss in einen Prozess der Revitalisierung gehen. Das ist
schwierig in einem Umfeld von Inflation und Irritation, klar. Es bräuchte
dennoch so etwas wie einen Anarcho-Trupp, der den DFB aufmischt,
unangepasst und mutig. Aber wir ahnen schon, was kommt: die
Niederlagenaufarbeitungskommission, die NAK. Und die
Besserer-Fußball-Task-Force, die BFTF – unter Einbindung von Politik,
Kirche und NGOs.
Und könnte Bundeskanzler Olaf Scholz nicht mit einem Triple-Wumms helfen?
2 Dec 2022
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## AUTOREN
Markus Völker
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