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# taz.de -- Ukrainer*innen in Privatunterkünften: Immer noch prekäres Wohnen
> Eine Million Ukrainer*innen flüchteten bisher nach Deutschland, viele
> sind weiter privat untergebracht. Drei Protokolle über Hilfe und
> Herausforderung.
Bild: Besucher gehen an einem Hinweisschild der Initiative Ukrainian Coordinati…
BERLIN taz | Es sind gut eine Million Geflüchtete aus der Ukraine, die seit
Beginn des russischen Kriegs nach Deutschland gekommen sind, jedenfalls
nach Meldungen im Ausländerzentralregister. [1][Allein in Berlin stellten
80.000] von ihnen Anträge auf einen Aufenthaltstitel. Und es waren anfangs
vielfach Privathaushalte, die die Geflüchteten bei sich aufnahmen – und es
bis heute tun. Die Übergangslösung wird zur Dauerlösung, mit
Herausforderungen auf allen Seiten.
Dass das kein Optimalzustand ist, räumt Berlins Sozialsenatorin Katja
Kipping (Linke) offen ein. „Wir haben in Berlin eine enorme, also eine
richtig große Platznot. Das will ich in aller Deutlichkeit sagen“, sagte
sie der taz. Die Plätze in den öffentlichen Einrichtungen, etwa im
Ankunftszentrum in Reinickendorf, reichten nicht aus. [2][Und das Problem
hat nicht nur Berlin].
Der Staat bleibt so auf die private Hilfsbereitschaft angewiesen. Und die
hat laut einer aktuellen Umfrage des Deutschen Zentrums für Integrations-
und Migrationsforschung (Dezim) zuletzt zwar leicht abgenommen, [3][bleibt
aber auf hohem Niveau]. 47 Prozent der Befragten denken weiter darüber
nach, sich ehrenamtlich zu engagieren. Und 17 Prozent sind bereit,
ukrainische Geflüchtete vorübergehend privat aufzunehmen. Am Donnerstag
will Dezim eine weitere Umfrage zusammen mit dem Onlineportal
„[4][Unterkunft Ukraine]“ veröffentlichen. Auch hier lässt sich die
Hilfsbereitschaft ablesen: Allein das Portal vermittelte bis September
bundesweit 45.000 private Aufnahmen.
## Vereine kritisieren Unterbringung
In Berlin berichtet eine ehrenamtliche Mitarbeiterin des Vereins
„Schöneberg hilft“, dass die meisten Ukrainer*innen, die privat
untergebracht sind, kein eigenes Zimmer hätten, sondern auf Sofas in
Wohnzimmern schliefen. Die Situation sei „absolut unselbstständig“ und
eigentlich rechtswidrig. „Die Ämter stellen die Ohren auf stumm, wenn es um
die Mietkostenübernahme geht.“ Das belaste die Gastgeber:innen unnötig
finanziell und löse bei vielen Ukrainer:innen Schuldgefühle aus, weil
sie keine Miete zahlen können.
Auch Diana Henniges vom Verein „Moabit hilft“ berichtet, dass viele private
Gastgeber:innen die emotionale und finanzielle Mehrbelastung
unterschätzt hätten. Unterschiedliche Essgewohnheiten, Lebensrhythmen und
Hygienevorstellungen träfen aufeinander. Sprachbarrieren erschwerten die
Kommunikation. Hinzu komme die psychische Belastung, unter der viele aus
dem Krieg Geflohene leiden. Die meisten Gastgeber:innen wollten ihren
Wohnraum auch nur kurzzeitig zur Verfügung stellen. Aufgrund der fehlenden
staatlichen Angebote sähen sie sich aber unter Druck gesetzt, das
Engagement fortzusetzen, so Henniges.
„Es ist eine krasse Leistung, den privaten Wohnraum auf Dauer freizugeben.
Das ist nicht zumutbar“, findet Henniges. Die Landesregierung muss sich
schnell um eine langfristige Lösung kümmern. „Die Stadt war unfassbar
solidarisch. Davor muss ich meinen Hut ziehen. Aber das Land ruht sich auf
dieser Solidität aus.“
Kipping verweist auf ihre Bemühungen. „Wir alle, das Land Berlin und die
Bezirke, sind in der Pflicht, überall zu schauen, wo man noch Unterkünfte
und Plätze schaffen kann.“ Generell gebe es aber kaum noch freie
Unterbringungsplätze.
Schon im Juli trat in Berlin deshalb erstmals [5][ein Notfallplan in
Kraft]. „Wenn alle bisher geplanten Akquisen und Anmietungen klappen und
wenn die Ankunftszahlen nicht steigen – ich gehe eher von einem Anstieg aus
–, werden wir zum Jahresende ein Defizit von 3.000 Plätzen haben“, so
Kipping. Die Linken-Politikerin appelliert auch an die Geflüchteten,
Ausschau in anderen Bundesländern zu halten. „Das Wichtigste ist, sich
ehrlich die Karten zu legen. Jeder und jede, der oder die in Berlin bleiben
will, wird es in Berlin schwerer als in so manchem Flächenland haben, eine
Wohnung zu finden.“
***
## „Sie können ja nichts für ihre Situation“
Familie Böhm hat Anfang April kurzentschlossen eine Mutter mit zwei Kindern
bei sich aufgenommen. Die drei Ukrainer:innen sind vor den russischen
Angriffen auf ihren Heimatort Charkiw nach Berlin geflohen. Für den
Familienvater Timm Böhm war es eine Selbstverständlichkeit, Geflüchtete bei
sich aufzunehmen. „Drei meiner Großeltern waren auch Flüchtlinge. Hätte es
da nicht Menschen gegeben, die mit Essen und Unterkunft geholfen haben,
dann gäbe es mich heute nicht“, erläutert der Unternehmensberater die
Motivation, seinen Wohnraum mit Geflüchteten aus der Ukraine zu teilen.
Katja und ihre zwei Kinder haben im Haus der Familie Böhm ein eigenes
Schlafzimmer. Beim Einzug der Familie wurden Schränke und ein eigener
Kühlschrank für die Ukrainer:innen besorgt. Wohnzimmer und Garten werden
geteilt.
Die Sprachbarriere stelle eine besondere Schwierigkeit für das
Zusammenleben dar. Kulturelle Differenzen spielen auch eine Rolle, erklärt
Herr Böhm. Unterschiedliche Vorstellungen von Hygiene und Kindererziehung
treffen da aufeinander, wo Lösungen, mit denen sich alle
Mitbewohner:innen wohlfühlen, gefunden werden müssen. „Ich weiß nicht,
was falsch oder richtig ist, aber es ist halt anders“, meint Herr Böhm. Die
Gastgeber:innen sprechen Konfliktthemen sofort offen mit den Gästen an.
Das sei wichtig für ein langfristiges Zusammenleben, aber mitunter auch
anstrengend.
Katja leidet unter den Folgen eines Schlaganfalls und ihr Sohn hat wohl
eine posttraumatische Belastungsstörung. Die zerstörerischen Folgen seines
aggressiven Verhaltens haben die ersten zwei Monatszahlungen des Jobcenters
gekostet, berichtet Herr Böhm. Aber die Gastgeber:innen sind
verständnisvoll. „Sie können ja nichts für die Situation. Man kann ihnen
keinen Vorwurf machen, aber das heißt nicht, dass es nicht nervt“, so der
Gastgeber.
Herr Böhm hat Kindergeld für die Familie beantragt, Arzttermine organisiert
und begleitet und eine Unterbringung in einer nahegelegenen Schule
beziehungsweise Kita für die Kinder gefunden. Der Unternehmensberater
telefoniert im Auto mit Behörden und Ärzten und schreibt auf Rastplätzen
schnell E-Mails. Er legt seine beruflichen Termine so, dass er die Familie
zum Beispiel zum Jobcenter begleiten kann. Aufgrund des Engagements ihres
Gastgebers erhalten Katja und ihre Kinder bereits Leistungen vom Jobcenter.
Es gab auch ein Jobangebot für die Ukrainerin. Aber, wer als in den
Arbeitsmarkt integriert gilt, der:die hat keinen rechtlichen Anspruch auf
einen Sprachkurs mehr. Deswegen wurde das Jobangebot abgelehnt und Katja
bezieht vorerst Hartz IV und lernt Deutsch. Alles in allem sei es sehr
kostenintensiv und zeitaufwendig, so die Erfahrung von Familie Böhm. Aber
trotz der Sprachbarriere, der kulturellen Differenzen und des
bürokratischen Aufwands erfreut sich Böhm an dem Zusammenleben.
***
## „Leider keine angenehme Erfahrung“
„Es war nicht ganz so einfach, wie wir uns das vorgestellt haben“, muss
Joachim Meyer zugeben. Seine Frau und er haben Ende Februar das freie
Zimmer in ihrer Wohnung einem Geflüchteten aus der Ukraine zur Verfügung
gestellt.
Das Ehepaar hatte ihre Bereitschaft auf der Website einer privaten
Hilfsorganisation registriert. Kurze Zeit später wurden die Meyers um 3 Uhr
nachts angerufen und gefragt, ob sie jemanden aufnehmen können. Eigentlich
wollten sie eine Frau, vielleicht mit einem Kind, aufnehmen. In der Nacht
wurde eine Unterkunft für einen alleinstehenden blinden Mann gesucht.
Spontan sagten die Meyers zu. Die Freiwilligen, die die
Unterkunftsvermittlung organisiert haben, brachten den Mann noch in
derselben Nacht zu den Meyers.
„Wir haben ihn als Familienmitglied aufgenommen“, berichtet Joachim Meyer.
Sie haben gemeinsam gegessen und sich viel unterhalten. In ihrer Freizeit
haben die Meyers ihren Gast bei Arztbesuchen und Behördengängen unterstützt
und das Zusammenleben organisiert. Das Privatleben des Ehepaars blieb dabei
etwas auf der Strecke, erzählt der IT-Berater.
„Leider war es keine angenehme Erfahrung“, reflektiert Herr Meyer das
Zusammenleben. Der Ukrainer hatte psychische Probleme, war sehr aggressiv
und hatte Schwierigkeiten, mit der eigenen Blindheit umzugehen. So die
Schilderung des Gastgebers. Immer wieder hat er sich schwere Platzwunden
zugezogen, weil er in der unbekannten Wohnung gegen Türklinken und
Möbelecken stieß. Hilfsangebote der Meyers lehnte ihr Gast ab.
„Es wurde von Tag zu Tag schlimmer“, erzählt Herr Meyer. Eines Tages drohte
der Gast mit Selbstmord, weil es nicht so lief, wie er es erwartet hatte.
Da haben die Meyers gemerkt, dass ein sicheres Zusammenleben nicht mehr
möglich ist. Sie riefen bei der Hilfsorganisation an, die ihnen den Kontakt
vermittelt hatte. Die haben die Abholung und eine alternative Unterbringung
des Mannes organisiert. Insgesamt hat der Ukrainer eine Woche bei den
Meyers gelebt.
„Man sollte da nicht blauäugig rangehen“, rät Herr Meyer. „So eine Aufn…
und Betreuung ist ganz schön anstrengend.“ Er meint, dass jemand, der:die
so was macht, sich sehr gut überlegen solle, ob er:sie sich das finanziell
und zeitlich leisten kann.
Trotz der schwierigen Erfahrung würden die Meyers noch mal Menschen aus der
Ukraine bei sich aufnehmen. „Allerdings diesmal wirklich nur eine Frau mit
ein bis zwei Kindern und auch nur für eine begrenzte Zeit.“ Ihre
Bereitschaft haben die Meyers auch den zuständigen öffentlichen Stellen
ihrer Kommune über eine Website mitgeteilt. „Von denen haben wir nicht
einmal eine E-Mail erhalten, dass die Registrierung Erfolg hatte“,
berichtet Herr Meyer.
***
## „Eine angenehme Erfahrung“
Anne-Kathrin Semmler mietet eine Wohnung in der Nähe des Virchow-Klinikums
in Berlin. Als der Krieg in der Ukraine ausbrach, entschloss sie sich, ihre
Wohnung für eine geflüchtete Person zu verlassen und zu ihrem Freund zu
ziehen. „Ich wollte helfen“, erklärt Frau Semmler die Motivation, ihren
Wohnraum zur Verfügung zu stellen. „Man sieht ja den eigenen Wohlstand.
Mein Freund hat auch eine Wohnung, also konnte ich zu ihm ziehen“, so die
Immobilienverwalterin.
Als Frau Semmler ihren Wohnraum über die Initiative „housing.berlin“ anbot,
machte sie deutlich, dass sie keine Kapazitäten für die Begleitung zum
Sozialamt oder Jobcenter habe. „Klar, kann ich mal zum Einkaufen mitkommen
oder die Infrastruktur kurz erklären, aber ich hatte keine Zeit für
umfangreiche Fragen oder eine Art Betreuung“, erklärt Frau Semmler.
Glücklicherweise lief alles so, wie sich Frau Semmler das vorgestellt
hatte. Anfang Mai zog eine Ukrainerin in ihre Wohnung ein. Für die
Schutzsuchende war die Wohnung aufgrund der Nähe zum Virchow-Klinikum
passend. Ihre Tochter war dort zur Behandlung.
Hilfe bei Behördengängen oder Anträgen benötigte die Ukrainerin zu der Zeit
nicht. Außer zur Registrierung in Tegel suchte sie keine Behörden auf. Der
Besuch und die Genesung der Tochter hatten Priorität, weswegen auch der
Wohnraum fast nur zum Schlafen genutzt wurde. Aufgrund der Sprachbarriere
informierte sich Frau Semmler über eine Übersetzerin über das Wohlbefinden
ihres Gasts. „Sie hat nie ein Unwohlsein geäußert“, berichtet Frau Semmle…
Als die Tochter Anfang Juni aus dem Krankenhaus entlassen wurde, suchten
die beiden eine Wohnung für zwei Personen. In der Wohnung von Frau Semmler
konnten sie zu zweit nicht bleiben. Das hatte der Vermieter verboten. Die
Unterbringung in Frau Semmlers Wohnung war sowieso nie unbegrenzt
angedacht. „Über den Sommer wäre es sicherlich noch gegangen, aber
spätestens ab Herbst hätte ich schon gesagt, dass ich die Wohnung wieder
benötige“, meint die Gastgeberin.
Frau Semmler half dann noch bei der Vermittlung einer neuen Wohnung. Mutter
und Tochter sind wieder im privaten Wohnraum in Berlin untergekommen. Frau
Semmler hat noch lose Kontakt zu ihnen und weiß, dass sie sich jetzt auch
dem deutschen Behördendschungel stellen. Die ehemalige Gastgeberin hofft,
dass sie dabei Unterstützung erhalten.
Auch wenn die Unterbringung in ihrem Fall gut funktioniert hat und sowohl
für Gastgeberin als auch Gast eine angenehme Erfragung war, hätte sich Frau
Semmler einen Verteilungsschlüssel für die Menschen aus der Ukraine
gewünscht. „Es war fahrlässig, dass die Menschen sich den Wohnort selbst
aussuchen dürfen“, meint Frau Semmler. Sie versteht nicht, dass kleine
Städte und Ortschaften nicht in die Unterbringung der Ankommenden
einbezogen wurden, obwohl sie doch auch Kapazitäten hätten.
22 Sep 2022
## LINKS
[1] /Ukrainische-Gefluechtete-in-Berlin/!5878031
[2] /Zustrom-erwartet/!5881930
[3] https://www.dezim-institut.de/aktuelles/aktuelles-detail/weiterhin-hohe-unt…
[4] https://unterkunft-ukraine.de/?lang=de
[5] /Notfallplan-fuer-Fluechtlingsunterbringung/!5867509
## AUTOREN
Marita Fischer
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