Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Buchband über Musikerinnen: Gegen jeden Essentialismus
> Mit „These Girls, too“ gibt Juliane Streich den zweiten Band über
> vergessene und verkannte Musikerinnen diverser Stile heraus. Doch etwas
> fehlt.
Bild: Radikaler als die Polizei erlaubt: Emma Goldman (1869-1949)
„Ging es denn nicht mal darum, Oben und Unten abzuschaffen, anstatt sich
ohne das geringste Augenzwinkern immer selber aufs höchste Podest zu
stellen?“, fragt Kersty Grether in einem Porträt der Berliner Rapperin Lena
Stoehrfaktor.
Erschienen ist es in der Anthologie „These Girls, too. Feministische
Musikgeschichten“, die die Leipziger Journalistin und taz-Autorin
[1][Juliane Streich] als Sequel zu dem 2019 veröffentlichten, ähnlich
angelegten Sammelband „These Girls“ unlängst herausgegeben hat. Dass
Grether die Vergangenheitsform verwendet, gibt zu denken. Denn Ziel von
„These Girls, too“ ist es, zu aktivieren, wie Streich in ihrem Vorwort
schreibt.
Das Buch soll erzählen „von Frauen, die sich mit Hilfe ihrer Songs und
Sounds ausdrücken konnten. Die damit Politik gemacht haben. Die mit Musik
Menschen zum Weinen gebracht haben. Oder zum Widerstand. Ihre Wut
rausließen. Frauen, die sich durchsetzen mussten. Frauen, die gefeiert
wurden. Oder gefeuert.“
## Tolle Volten
Es ist folgerichtig und trotz der nicht selten traurigen Geschichten schön,
wenn sich im ersten Raum dieser in Dekaden gegliederten und bis in die
2010er reichenden Galerie (die Dekaden 1920 bis 1950 werden dabei
zusammengefasst) von Julia Neupert und Franziska Buhre porträtierte Blues-
und Jazzsängerinnen wie Bessie Smith und Billie Holiday befinden. Es ist
eine tolle Volte, die 1960er Jahre mit Carol Kaye zu beginnen, die als
Bassistin „auf mehr als 10.000 Aufnahmen zu hören ist“, wie Franziska Reif
schreibt und als eines von vielen Hörbeispielen Nancy Sinatras
Arschtritt-Hymne „These Boots Are Made For Walking“ auswählt.
Zu entdeckende Musikerinnen treten auf, so die Sängerin und
Schriftstellerin [2][Jayne Cortez], nahegelegt von taz-Musikrededakteur
Julian Weber. Kürzlich hat Ulrich Gutmair in der taz die Punkband [3][Östro
430] gefeiert. Mehr zu ihnen hat Christina Mohr in „These Girls, too“
geschrieben.
Der stilistische und geografische Horizont des Buches ist beachtlich.
Natürlich sind seine Protagonistinnen im weiten Feld von Rock und Pop
unterwegs, in Metal, HipHop und Dancefloor, aber genauso gut auch im
Chanson, Folk, Italo-Pop, in Country, Soul und Avantgarde. Dass mit Violeta
Parra, porträtiert von Gaston Kirsche, Südamerika und mit Özlem Tekin, über
sie schreibt Sibel Schick, der äußerste Osten Europas vertreten sind, sei
unbedingt erwähnt.
## Blinder Fleck Osteuropa
Da aber fangen auch die Probleme an. Vollständigkeit ist ein Traum, der zum
Albtraum jeder Herausgeberin werden kann, so viel ist klar. Die DDR und
Osteuropa sind deutlich unterpräsentiert. Ein Kenner der Materie wie
Alexander Pehlemann schreibt über die tschechische Postpunk-Band Dybbuk.
Von ihren Achtziger-Jahre-Schwestern aus Estland hätte man gerne in eigenen
Kapiteln gelesen.
Im Korrektorat hätten die Satzzeichen die gleiche Akribie verdient wie die
Gender-Doppelpunkte. Nicht unterlaufen darf ein Satz wie der, dass am „28.
Februar 1998 der erste Krieg in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs“
ausgebrochen sei. Abgesehen davon, dass in einer Publikation, die sich auf
linke Theorie bezieht, ein Krieg nicht einfach ausbrechen sollte, ist das
so wahr, wie momentan diesen Dammbruch auf den 24. Februar 2022 zu legen.
Und wer das Pech hatte, Anfang der neunziger Jahre in Sarajevo zu leben,
und das Glück hat, noch sprechen zu können, wird an dieser Stelle einiges
zu sagen haben.
Das Missy-Magazin beginnt seine Besprechung mit einer Beobachtung, die
ähnlich bereits der NDR gemacht hatte: „Wir haben 2022, und auf den
Plakaten für die Sommerfestivals findet man mal wieder kaum Frauen.“ Keine
Frage, gegen Geschlechterungerechtigkeit wie gegen Bodenspekulation,
Mietwucher und Nationalismus gehört gekämpft. Die Frage ist aber, wie man
das anstellt, ohne dass in einer sinkenden Welt ein neues Oben und Unten
entsteht.
Die Anarchistin Emma Goldman hatte Ende 1921 mit ihrem Lebensmenschen
Alexander Berkman das postrevolutionäre Russland verlassen und schrieb vor
ziemlich genau 100 Jahren: „Frieden und Harmonie zwischen den Geschlechtern
und den Menschen hängt nicht allein von der formellen Gleichstellung der
Menschen ab und setzt auch nicht das Auslöschen individueller Merkmale und
Eigenarten voraus. […] Es ist heute für die Frau notwendig geworden, sich
von der Emanzipation zu emanzipieren, will sie wirklich frei sein. Das mag
paradox klingen, ist jedoch nur zu wahr.“
9 Sep 2022
## LINKS
[1] /Juliane-Streich/!a23082/
[2] https://www.youtube.com/watch?v=0PqqSPgUm2s
[3] /Punkband-Oestro-430-wieder-live/!5872046
## AUTOREN
Robert Mießner
## TAGS
Feminismus
Musikerinnen
Sammelband
wochentaz
Punkrock
Indierock
Leipzig
taz Plan
taz Plan
Musik
Debütalbum
HipHop
Juliane Streich
## ARTIKEL ZUM THEMA
Rapperin Lena Stoehrfaktor: Die Message unter die Leute bringen
Es bringt nichts, wenn du Underground bist, und keiner es merkt, sagt die
Rapperin Lena Stoehrfaktor. Auf ihrem Album „Pretty World“ zeigt sie
Haltung.
Feministische Frauenbands der 70er: Diese verdammte Blockflöte
Sie sind laut. Ende der 1970er Jahre singen junge Frauen über Sex und gegen
die Norm an. Das klingt noch heute inspirierend und radikal.
Berliner Musikerin Güner Künier: „Da ist etwas, das raus muss“
Zwischen Postpunk, Riot Grrrl und Krautrock: Güner Künier legt ihr
Debütalbum „Aşk“ vor. Darauf erzählt sie von Emanzipation – und von der
Liebe.
Debütalbum von Modus Pitch aus Leipzig: Motivminiaturen in Rundumsound
Fritz Brückner nennt sein Soloprojekt Modus Pitch. Auf dem Debütalbum
„Polyism“ bringt er den Instrumentenpark panoramatisch zum Schwingen.
Neue Musik aus Berlin: Im Feedbackraum der Pilze
Das Berliner Duo Spill assoziiert mit seinem Album „Mycelium“ das
Wurzelsystem der Pilze und deren Verständigung mittels elektrischer
Signale.
Konzertempfehlungen für Berlin: Die Zukunft der Klangschaften
Tönende Futuristik in Geschichte und Gegenwart, gedämpfte Darbietungen und
der Sound von ZIMT stehen diese Woche auf dem Programm.
Iannis Xenakis auf dem Musikfest Berlin: Stochastische Schönheit
Vom Komponisten Iannis Xenakis kamen viele Impulse für spätere Musik. Das
Musikfest Berlin feiert den Pionier mit mehreren Konzerten.
Hamburger Rapperin Finna auf Tour: Kompliziert und immer liebevoll
Selbst gedacht, selbst verkackt, selbst geschafft: Die Hamburger Rapperin
Finna geht mit ihrem Debütalbum „Zartcore“ auf Tournee.
HipHop-Label von und für Frauen: Mehr Flair, weniger Slot
Lina Burghausen leitet 365XX, das erste HipHop-Label, das ausschließlich
Künstlerinnen herausbringt. Das Debüt von Die P klingt vielversprechend.
Feministisches Poplexikon: Mehr Frauen für Spionage
„These Girls“, herausgegeben von Juliane Streich, ist die erste
deutschsprachige Anthologie nur über Popmusikerinnen. Die Auswahl besticht.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.