# taz.de -- So viel politische Kriminalität wie nie: Nicht zu fassende Gewalt | |
> Innenministerin Faeser vermeldet einen Höchststand politischer | |
> Kriminalität. Der geht auf Coronaprotest zurück. Opferverbände sehen | |
> „Untererfassung“. | |
Bild: Sie suchen die Gewalt: Corona-Protest in März 2021 in Kassel | |
BERLIN taz | Der Appell von [1][Said Etris Hashemi] ist eindringlich. „Wir | |
wollen, dass Hanau eine Zäsur wird“, sagt der 25-Jährige, der bei dem | |
Anschlag 2020 seinen Bruder verlor und selbst schwer verletzt wurde. Bisher | |
aber sehe die Polizei keine Fehler ein, die Aufklärung stocke, die Opfer | |
blieben Bittsteller, klagt Hashemi auf einer Pressekonferenz von | |
Opferberatungsstellen zu rechter Gewalt am Dienstag in Berlin. „Wir werden | |
aber weiter für Konsequenzen kämpfen.“ | |
Der [2][rassistische Anschlag von Hanau] liegt bereits zwei Jahre zurück, | |
er war mit zehn Toten ein Fanal. Aber die Gewalt ist nicht gebrochen, wie | |
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) ebenfalls am Dienstag bei der | |
Vorstellung der Jahresstatistik zu politisch motivierten Straftaten des | |
Bundeskriminalamtes (BKA) sagt. Im Gegenteil vermeldet sie einen | |
Allzeitrekord im vergangenen Jahr: 55.048 Delikte – ein Plus von 23 Prozent | |
zum Vorjahr und so viele wie seit Einführung der Statistik vor 21 Jahren | |
nicht. Auch die Zahl der Gewaltdelikte stieg um 16 Prozent auf ein Hoch von | |
3.889 Straftaten. | |
Faeser spricht von einer „großen Herausforderung“ und einem „Gradmesser … | |
die Intensität gesellschaftlicher Konflikte“. Die meisten der Straftaten, | |
21.964, wurden erneut von Rechtsextremen verübt, auch wenn es hier einen | |
leichten Rückgang gab. Fast konstant blieb die Zahl rechter Gewalttaten, | |
1.042. Auf linker Seite wurden insgesamt 10.113 Delikte gezählt, darunter | |
1.203 Gewalttaten, beides ein Rückgang. Bei „ausländischer Ideologie“, | |
darunter Straftaten im Kontext des Israel-Palästina- oder | |
Türkei-Kurden-Konflikts, lag die Zahl bei 1.153 Gesamttaten, bei | |
„religiöser Ideologie“ bei 479. | |
## Viele Taten kann Polizei nicht zuordnen | |
Der Grund für den Gesamtanstieg sind aber vor allem Straftaten, welche das | |
BKA nicht in die klassischen Bereiche zuteilen konnte und als „nicht | |
zuzuordnen“ einstufte. 21.339 Straftaten wurden hier erfasst, fast 40 | |
Prozent aller Delikte. Ein beträchtlicher Teil, 7.142, wurde den | |
Coronaprotesten zugeordnet, darunter auch die Erschießung des | |
[3][Tankstellenwarts Alex W. durch einen Maßnahmengegner in | |
Idar-Oberstein]. Faeser nennt die Tat einen „furchtbaren Höhepunkt der | |
Gewalt“. Insgesamt werden den Coronaprotesten 9.201 Straftaten zugerechnet | |
– 1.329 davon als rechts motiviert. In die 21.339 nicht zuordenbaren Taten | |
fielen auch 7.298 Delikte im Kontext der letztjährigen Wahlen. | |
Für Faeser bleibt klar: Die größte extremistische Bedrohung gehe weiterhin | |
vom Rechtsextremismus aus. Auch den erneuten starken [4][Anstieg | |
antisemitischer Straftaten] um 29 Prozent auf 3.027 Delikte nennt die | |
Innenministerin „eine Schande für unser Land“. Die Taten kamen zu 84 | |
Prozent von rechts, die Hälfte wurde laut BKA bei Coronaprotesten begangen. | |
Faeser warnt aber auch vor einem zunehmend islamistischen Antisemitismus | |
und fordert ein „konsequentes Einschreiten der Polizei“. Für die Täter | |
brauche es „spürbare Konsequenzen“. | |
Auffällig bei der Statistik ist auch ein Anstieg im Bereich homophober | |
Straftaten um 50 Prozent auf 870 Delikte und im Bereich „Geschlecht“ um 66 | |
Prozent auf 340 Taten. Auch Angriffe auf Mandatsträger nahmen um 50 Prozent | |
auf 14.243 Delikte zu. | |
## BKA startet neues Analyseprogramm | |
Als Antwort auf die Gewalt verweist Faeser auf ihren im März verkündeten | |
[5][Aktionsplan gegen Rechtsextremismus], der eine Zerschlagung | |
rechtsextremer Netzwerke und mehr Prävention verspricht. „Wir müssen die | |
Spirale von Hass und Gewalt stoppen“, mahnt sie. BKA-Präsident Holger Münch | |
verkündet zudem, dass seine Behörde seit Dienstag mit dem neuen Instrument | |
„Radar-rechts“ die Gefährlichkeit rechtsextremer Gefährder analysiere. 75 | |
Gefährder zählt das BKA hier aktuell. Bisher gab es das Analysetool nur für | |
den islamistischen Bereich. | |
Die Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt kritisieren am Dienstag | |
dagegen eine „eklatante Untererfassung“ von rechten Gewalttaten durch | |
Polizei und Justiz. So zählen die Beratungsstellen für 2021 allein in den | |
neun Bundesländern, in denen sie vertreten sind, 1.391 rechte Gewalttaten – | |
gut 300 mehr als das BKA bundesweit. Verbandssprecher Robert Kusche nennt | |
die Zahlen „alarmierend“ und verweist auch auf den Mordfall in Senzig | |
(Brandenburg). Dort hatte ein Coronaleugner seine Frau, seine drei Kinder | |
und sich selbst ermordet und in einem Abschiedsbrief Verschwörungsmythen | |
und antisemitische Motive offenbart. Die Opferverbände wie auch die Polizei | |
stufen die Tat als rechtsmotiviert ein. | |
## Opfer haben wenig Vertrauen in die Polizei | |
Kusche kritisiert, dass viele andere Straftaten von Coronaleugnern indes | |
nicht als klar rechts erfasst würden. Das wahre Ausmaß der Bedrohung werde | |
so verschleiert. Zudem würden viele Taten nicht erfasst, weil die Polizei | |
immer wieder rassistische Täter-Opfer-Umkehrungen vornehme oder Opfer vor | |
Anzeigen zurückschreckten. | |
Auch der Hanau-Betroffene Said Etris Hashemi beklagt einen | |
Vertrauensverlust in die Polizei. Faesers Aktionsplan kritisiert er als zu | |
unkonkret. Zudem fordert er mehr Hilfen für Anschlagsopfer, etwa eine | |
unbürokratische Grundrente. Letztlich könne man den Kampf gegen | |
Rechtsextremismus aber nicht den Behörden überlassen, betont Hashemi. „Es | |
liegt an uns allen.“ | |
10 May 2022 | |
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## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
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