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# taz.de -- Femizid in Berlin: „Im schlimmsten Fall Tötung“
> Am Freitag beginnt der Prozess gegen zwei Afghanen, die ihre Schwester
> getötet haben sollen. Petra Koch-Knöbel sieht Parallelen zum Fall Sürücü.
Bild: Bei einer Kundgebung gegen Femizide im Januar 2021 in Berlin
taz: Frau Koch-Knöbel, ab kommenden Freitag stehen zwei afghanische Brüder
vor Gericht. Sie sollen ihre Schwester ermordet haben. Die 34-jährige
Maryam H. hatte mit ihren beiden Kindern in einem Berliner Flüchtlingsheim
gelebt. Woran erinnert Sie dieser Fall?
Petra Koch-Knöbel: Es gibt ungemeine Parallelen zum Fall [1][Hatun Sürücü].
Es geschah am 7. Februar 2005: Die 23-jährige Hatun Sürücü wurde im Bezirk
in Tempelhof von einem ihrer Brüder erschossen, weil sie ein
selbstbestimmtes Leben führen wollte.
Nach allem, was bisher bekannt ist, war das bei der Afghanin Maryam H. auch
so. Sie hatte sich scheiden lassen, das Kopftuch abgelegt und ein
eigenständiges Leben in westlichem Stil geführt. Wie Hatun soll sie zu
ihren Brüdern ein besonderes Verhältnis gehabt haben. Auch Hatun hatte bis
zum Schluss nicht glauben wollen, dass ihre Eltern und Brüder so weit gehen
würden, ihr etwas anzutun.
Nach dem Tod von Hatun Sürücü waren drei ihrer Brüder wegen Mordes
angeklagt, verurteilt wurde letztendlich aber nur der Jüngste, ein
19-Jähriger.
Für mich ist vollkommen klar, dass das in der Familie geplant worden war.
Wenn sich eine Frau nicht entsprechend den Strukturen und Traditionen
verhält, gilt das in archaisch-patriarchalen Familien als Ehrverlust. Im
schlimmsten Fall, wie bei Hatun Sürücü und mutmaßlich auch bei Maryam H.,
kommt es zur Tötung. Zu einem Femizid, wobei der Begriff Ehrenmord in
Fällen wie diesen zutreffender wäre.
Wo sehen Sie den Unterschied?
Wir sprechen von Femizid, wenn die Tötung oder Ermordung aufgrund des
Geschlechts erfolgt. Frauen sind da überwiegend betroffen. Ehrenmord
beinhaltet die zusätzliche Komponente, dass eine Person getötet wurde, weil
sie gegen archaisch patriarchal geprägte Familienstrukturen verstoßen hat.
Wie stehen Sie zu der Auffassung, der Begriff Ehrenmord sei beschönigend,
weil er eine Rechtfertigung der Tat beinhalte?
Ich kann diese Bedenken gut nachvollziehen. Es gibt aber auch junge Männer,
die – etwa weil sie homosexuell sind – von der Familie getötet werden. Da
muss man differenzieren zwischen Femizid und Ehrenmord.
Seit 2019 lebte Maryam H. in einer Flüchtlingsunterkunft in
Alt-Hohenschönhausen. Die [2][beiden nunmehr angeklagten Brüder] sollen in
ihrem Zimmer ein und aus gegangen sein. Ist bekannt, ob sich die Frau
hilfesuchend an die Behörden gewandt hat?
Bei Hatun Sürücü wissen wir, dass sie vom Jugendamt in
Friedrichshain-Kreuzberg unterstützt wurde. Die Familie war bekannt. Bei
Maryam H. weiß ich das nicht. Ich kenne auch die Einrichtung nicht, in der
sie untergebracht war. Grundsätzlich ist es so, dass das Personal in
Geflüchteteneinrichtungen geschult ist, was Zwangsverheiratung, häusliche
Gewalt und sexualisierte Gewalt betrifft. Wenn diese Bedrohung in
irgendeiner Form bekannt gewesen wäre, hätte man diese Frau niemals
ungeschützt in der Flüchtlingseinrichtung lassen dürfen.
Es scheint fast so, als hätte sich in den letzten 17 Jahren seit dem Tod
von Hatun Sürücü kaum etwas verändert.
Das stimmt nicht. Es gibt zahlreiche Gremien und Projekte, die mit ihrer
Expertise zur Bekämpfung von [3][Zwangsverheiratungen] und sogenannten
Ehrenmorden beitragen. Die Arbeit wird vom Arbeitskreis gegen
Zwangsverheiratung koordiniert …
… den Sie als Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte des Bezirks
Friedrichshain-Kreuzberg leiten.
Unser Verbund leistet eine intensive präventive Arbeit mit Infobroschüren
und Workshops. Dazu gehört auch eine Handlungsempfehlung für die Berliner
Jugendämter zum Thema „Intervention bei Gewalt gegen Mädchen und junge
Frauen in traditionell-patriarchalen Familien.“ Wir geben den Mädchen,
jungen Frauen und auch den Jungen jede erdenkliche Form von Hilfe, wenn wir
um ihre Probleme wissen und sie das wollen. Wir haben auch Mulitplikatoren,
die mehrsprachig sind. Und auch im Bereich der Justiz gibt es Fortschritte.
Zwangsverheiratung ist inzwischen ein eigener Straftatbestand und
sogenannte Ehrenmorde werden in der Regel nicht mehr als Totschlag mit
einer geringen Strafe geahndet.
Die letzte Befragung zum Thema Zwangsverheiratung in Berlin fand 2017 statt
und hatte eine Steigerung um 40 Prozent. Wie erklären Sie sich die Zunahme?
In der von Beratungseinrichtungen, Schulen und Projekten durchgeführten
Befragung hatten wir in Berlin 570 Fälle von Zwangsverheiratungen. 2013
waren es 416 Fälle. Ich weiß nicht, ob die Fälle wirklich zugenommen haben.
Ich vermute, dass wir eine Zunahme haben, weil die Beratungsangebote
öffentlich gemacht werden und Zwangsverheiratung kein Tabuthema mehr ist.
Mittlerweile suchen sich die Frauen auch online Beratungseinrichtungen. Man
kann eine Beratung auch anonym wahrnehmen.
Das Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen legt das Mindestalter zur Heirat
ohne Ausnahme auf 18 Jahre fest. Wie genau läuft so eine Zwangsverheiratung
ab?
Das passiert ganz oft in den Sommerferien. 83 Prozent der
Zwangsverheiratungen finden im Ausland statt. Überwiegend handelt es sich
um türkische und arabische Nationalitäten, aber auch Länder wie Indien und
Italien.
Italien?
Durchaus. Wir haben auch im christlichen Italien Zwangsverheiratungen.
Viele denken, das sind überwiegend islamisch geprägte Länder, aber das ist
nicht unbedingt der Fall.
Dann kommen die Mädchen aus den Sommerferien zurück und sind verheiratet?
Wenn wir Glück haben, kommen sie zurück. In der Regel bleiben sie aber im
Heimatland der Eltern, wo sie verheiratet werden. Häufig ist es so, dass
die Eltern den Wohnsitz hier abmelden. Das eine große Herausforderung, da
ist auch PAPATYA sehr engagiert …
… die Kriseneinrichtung für Mädchen und junge Frauen mit
Migrationshintergrund.
Wir versuchen die Mädchen zurückzuholen. In vielen Fällen ist das auch
gelungen. Natürlich versuchen wir im Vorfeld zu verhindern, dass es dazu
kommt. Vor jeden Sommerferien verteilen wir Leitfäden an die Schulen, wie
sie die Mädchen unterstützen können. Wenn eine Reise mit den Eltern zur
Zwangsverheiratung ansteht, raten wir: Bleibt hier.
Wie läuft so eine Rückholaktion ab?
Im Ausland gibt es inzwischen schon ein großes Netzwerk und wir haben
mittlerweile auch viele Verbündete. Es ist immer einfacher, die jungen
Frauen zurückzuholen, wenn sie vorher bei uns eine eidesstattliche
Versicherung abgegeben haben, dass sie im Falle einer Zwangsverheiratung im
Ausland widerrechtlich dorthin gebracht worden sind. So können wir ihnen
anwaltliche Unterstützung geben. Wichtig ist, dass wir wissen, wo sich die
junge Frau befindet. In der Regel wird den Mädchen der Ausweis abgenommen
und auch das Handy. Das ist alles äußerst schwierig. Wir beraten immer in
der Richtung: Nehmt ein altes Handy mit und eine SIM-Karte. Und schaut zu,
dass ihr eure Ausweisdokumente kopiert und in Berlin lasst, sodass wir
hier tätig werden können.
Wie helfen Sie jungen Frauen, die in Berlin bleiben?
Jungen Frauen, die den Verdacht haben, zwangsverheiratet zu werden, können
wir relativ gut helfen. Schwierig wird es immer dann, wenn es darum geht,
Strafanzeige gegen die Eltern zu erstatten. Diesen letzten Schritt machen
die meisten Mädchen nicht, weil sie wissen, das ist ein endgültiger Bruch.
Das war bei Hatun Sürücü genauso wie bei Maryam H. Sie wollen
selbstbestimmt und frei leben, aber sie wollen nicht den Bruch. Und das
lässt sich gerade bei patriarchalen, archaisch geprägten Strukturen nicht
machen.
15 Feb 2022
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[3] /Expertin-fuer-Zwangsheirat/!5631795
## AUTOREN
Plutonia Plarre
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