| # taz.de -- Urteil über Jugendehen: Der Einzelfall entscheidet | |
| > Kinderehen sind verboten. Trotzdem lehnt der Bundesgerichtshof es ab, die | |
| > vor langer Zeit geschlossene Ehe einer damals 16-Jährigen aufzuheben. | |
| Bild: Eingang zum Bundesgerichtshof in Karlsruhe | |
| FREIBURG taz | Der Bundesgerichtshof (BGH) hat erneut gegen das neue Gesetz | |
| zur Bekämpfung von Kinderehen opponiert. Nachdem er 2018 bereits das | |
| Bundesverfassungsgericht anrief, hat er jetzt den Familiengerichten | |
| Ermessen bei der Eheaufhebung zugebilligt. Konkret ging es diesmal um Ehen, | |
| bei denen ein Partner zum Zeitpunkt der Heirat zwischen 16 und 18 Jahre alt | |
| war.Das Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen wurde vom Bundestag 2017 | |
| beschlossen, nachdem bei der großen Flüchtlingszuwanderung 2015 hunderte | |
| Fälle von jungen Mädchen bekannt wurden, die mit erwachsenen Männern | |
| verheiratet waren. Als Reaktion hob der Gesetzgeber zunächst das deutsche | |
| Ehealter auf 18 Jahre an und erstreckte die Regelung dann auf im Ausland | |
| geschlossene Ehen. | |
| Wenn ein Partner bei der Heirat unter 16 war, gilt die Ehe jetzt als | |
| nichtig, also nicht existent. Ist der jüngere Partner zwischen 16 und 18 | |
| Jahre alt, sollte die Ehe vom Familiengericht in der Regel aufgehoben | |
| werden.[1][Ende 2018 legte der BGH] die Regelung für die Ehe mit | |
| Unter-16-Jährigen dem Bundesverfassungsgericht vor. Es verletze das | |
| Kindeswohl, dass die Nichtigkeit der Ehe automatisch eintrete und es | |
| keinerlei Einzelfallprüfung geben dürfe. Das Bundesverfassungsgericht will | |
| noch in diesem oder im nächsten Jahr entscheiden.Im aktuellen BGH-Urteil | |
| ging es nun um Ehen, bei denen der jüngere Partner bei der Heirat zwar | |
| minderjährig, aber über 16 Jahre alt war. Im Gesetz heißt es, dass hier das | |
| Familiengericht die Ehe aufheben „kann“. Aber in der Begründung machte der | |
| Gesetzgeber klar, das die Aufhebung der Ehe die Regel sein soll und das | |
| Familiengericht – abgesehen von zwei Sonderfällen – kein Ermessen habe. | |
| ## Gewichtige Gründe gegen Aufhebung | |
| Das sah der BGH nun anders. Auch in dieser Konstellation komme es auf eine | |
| Einzelfallprüfung an. Wenn gewichtige Gründe gegen die Aufhebung der Ehe | |
| sprechen, solle auf die Aufhebung verzichtet werden. Hier musste das | |
| Bundesverfassungsgericht nicht gefragt werden, weil der Wortlaut der Norm | |
| dem BGH eine „verfassungskonforme Auslegung“ erlaubte.Im konkreten Fall | |
| ging es um die Ehe von zwei Libanesen, die 2001 [2][im Libanon geschlossen] | |
| wurde. Er war 21, sie war 16. Ab 2002 lebte das Paar in Deutschland, sie | |
| bekam nach der Volljährigkeit vier Kinder, trennte sich dann aber 2016 von | |
| ihrem Mann und lebt nun in Berlin mit einem neuen Lebensgefährten | |
| zusammen.Als das Berliner Standesamt erfuhr, dass die Ehe ursprünglich eine | |
| „Kinderehe“ war, beantragten Berliner Behörden die Aufhebung der Ehe. Der | |
| BGH nutzte nun sein Ermessen und lehnte dies ab. Eine Eheaufhebung stünde | |
| „in krassem Gegensatz zu der langjährig bewusst im Erwachsenenalter | |
| gelebten Familienwirklichkeit“. | |
| Wie die inzwischen erfolgte Trennung zeige, sei die Frau „ohne weiteres zu | |
| einem selbstbestimmten, von ihrem Ehemann unabhängigen Leben in der Lage“. | |
| Wenn sie die Ehe beenden wolle, könne sie sich ja scheiden lassen, so der | |
| BGH. Dann bekommt sie vielleicht sogar Unterhalt.(Az.: XII ZB 131/20) | |
| 14 Aug 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Christian Rath | |
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