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# taz.de -- Kinderehe in der Türkei: Sechsjährige zwangsverheiratet
> Der Chef der islamischen Hiranur-Sekte soll seine Tochter als Kleinkind
> zwangsverheiratet haben. Die linke Tageszeitung Birgün deckt die
> Geschichte der heute 24-jährigen Frau auf.
Bild: Der türkische Präsident Erdoğan mit Vertretern der İsmailağa-Gemeind…
Istanbul taz | Ein Skandal in einer islamischen Sekte erschüttert die
türkische Gesellschaft. Wie die linke Tageszeitung Birgün aufdeckte, wurde
ein sechsjähriges Mädchen von ihrem Vater, der gleichzeitig Gründer und
Chef der islamischen Hiranur-Sekte ist, vor Jahren gezwungen, einen Mann zu
heiraten, der ebenfalls der Sekte angehörte.
Die heute 24-jährige Frau, die öffentlich nur unter den Initialen H.K.G.
bekannt ist, hatte der Staatsanwaltschaft geschildert, wie ihr Vater Yusuf
Ziya Gümüşel sie im Jahr 2004 zwang, den damals 29-jährigen Kadir İstekli
zu heiraten. Ihre Aussagen wurden vor wenigen Tagen Birgün zugespielt, die
sie dann [1][veröffentlichte].
Der Skandal trifft vor allem die islamische Regierungspartei AKP und ihren
Vorsitzenden, Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Die AKP unterstützt seit
Jahren Sekten wie Hiranur und ähnliche Organisationen.
Die Heirat von H.K.G. und İstekli wurde damals zunächst von einem Imam
durchgeführt. Erst als sie 18 Jahre alt war, wurde sie auch auf einem
Standesamt offiziell legalisiert. Wenig später setzte sich H.K.G. von der
Sekte ab und beantragte die Scheidung, die im November 2020 vollzogen
wurde.
Unmittelbar nach ihrer Scheidung ging sie zur Staatsanwaltschaft und zeigte
ihren Ex-Mann und ihre Eltern wegen Kindesmissbrauchs und erzwungener
Heirat an. Doch es tat sich offenbar nichts. Nachdem der Fall zwei Jahre
verschleppt wurde, gelangte Birgün schließlich an ihre Aussagen und machte
den Skandal öffentlich.
## Drohungen gegen Journalisten
Seit die AKP mit Erdoğan an der Spitze die Türkei regiert, wurden immer
wieder Fälle von in die Ehe gezwungenen Kindern bekannt oder auch
Mehrfachheiraten, gegen die nicht vorgegangen wurde. Stattdessen verbreiten
die türkische Religionsbehörde Diyanet und Sektenvorsteher immer wieder
Gutachten, laut denen Mädchen spätestens nach der ersten Blutung im
heiratsfähigen Alter seien. Offiziell beträgt das Heiratsalter für Mädchen
und Jungen 18 Jahre. Mädchen dürfen in Ausnahmefällen jedoch schon mit 16
Jahren heiraten.
Die unter anderem [2][von der AKP verbreitete Stimmung] dürfte auch dazu
geführt haben, dass die Ermittlungen gegen den Ex-Mann und die Eltern von
H.K.G. nicht vorankamen. Erst der Birgün-Bericht änderte die Situation. In
sozialen Medien löste er einen Sturm der Entrüstung aus. Gleichzeitig
wurden Birgün und speziell der Reporter Timur Soykan, der den Bericht
geschrieben hatte, massiv bedroht.
Plötzlich kam auch die Istanbuler Staatsanwaltschaft in die Gänge.
Innerhalb weniger Tage beantragte sie ein Verfahren vor Gericht und fordert
nun hohe Gefängnisstrafen für İstekli und die Eltern von H.K.G. Der
Ex-Ehemann soll für 67 Jahre hinter Gitter, die Eltern jeweils für 22,5
Jahre. Auch ein Datum für den Prozessbeginn im Mai ist bereits anberaumt.
Ähnlich wie die Justiz trat auch die Regierung die Flucht nach vorn an. Am
Donnerstag letzter Woche kündigte der zuständige Minister für Kultur und
Tourismus, Nuri Ersoy, im Parlament eine Untersuchung der Hiranur-Stiftung
an. Die Sekte unterhält in dem Istanbuler Vorort Sancaktepe seit 2006 einen
Wohn- und Arbeitscampus, auf dem 750 Jugendliche in Korankursen und
Islamkunde unterrichtet werden. Die meisten von ihnen wohnen in dem
Internat der Sekte, das sich ebenfalls auf dem Gelände befindet.
## Selbstmorde in Sektenheimen
Die Hiranur-Stiftung ist Teil der sehr viel größeren İsmailağa-Gemeinde,
die in der gesamten Türkei präsent ist. Immer wieder hat es in den letzten
Jahren in Heimen und Internaten von Sekten Skandale gegeben. So verbrannten
2016 in einem schlecht gesicherten privaten Mädchenheim bei einem Hausbrand
zwölf Mädchen, 22 weitere wurden schwer verletzt. In anderen Sektenheimen
häuften sich Suizide und Suizidversuche.
Weil die Kapazitäten staatlicher Studentenwohnheime nicht ausreichen,
landen vermehrt vor allem Kinder aus ärmeren Familien in den Fängen der
Sekten. Im September 2021 schrieb die liberale Internetzeitung Duvar: „Die
von islamischen Bruderschaften geleiteten Heime vermehren sich wie Unkraut.
Diese Wohnheime sollen die arme Jugend einfangen. Das Wohnungsproblem für
Studierende macht Kinder aus armen Familien zur leichten Beute für
islamistische Gruppen“.
Der jüngste Skandal schlägt mittlerweile auch in der Politik immer höhere
Wellen. Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu beschuldigte die Regierung,
durch Schweigen und Wegschauen die radikalen Islamisten zu unterstützen. So
hätte auch Justizminister Bozdag die Ermittlungen im Fall H.K.G.
verschleppt. Am Montag musste dann auch Erdoğan sein Schweigen brechen:
„Kinderheiraten mit 13 oder 14 Jahren können wir nicht akzeptieren. Das
Ganze ist eine einzige Tragödie“, sagte er.
Unterdessen weisen der Sektenführer Gümüşel und seine Frau alle
Beschuldigungen ihrer Tochter weit von sich. Nie hätte er eine seiner
Töchter zu einer frühen Heirat gedrängt, so Gümüşel. Die Bilder von seinem
Kind in einem weißen Hochzeitskleid seien bei einer Gemeindefeier
aufgenommen worden.
14 Dec 2022
## LINKS
[1] https://www.birgun.net/haber/hiranur-vakfi-nda-temize-cikma-calismasi-6-yas…
[2] /Amnestie-fuer-Kindesmissbrauch/!5667937
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
## TAGS
Kinderehe
sexueller Missbrauch
Türkei
Islam
Recep Tayyip Erdoğan
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