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# taz.de -- Amnestie für Kindesmissbrauch: Neues Gesetz, alte Mentalität
> In der Türkei wird über einen Gesetzesentwurf diskutiert, der sexuelle
> Gewalt gegen Kinder unter bestimmten Umständen straffrei machen soll.
Bild: „Missbrauch ist eine Straftat, für die es keinen Freispruch geben kann…
Erneut wird in der Türkei über eine Amnestie für Fälle von Kindesmissbrauch
diskutiert, in denen der Täter das Opfer heiratet. Diese Regelung, die in
der Öffentlichkeit als „Ehe-Amnestie“ bezeichnet wird, sieht vor, dass
Täter, die Minderjährige heiraten und sexuell missbrauchen, unter
bestimmten Bedingungen freigelassen werden könnten.
Der Gesetzesentwurf stößt bei Frauenorganisationen und in der Gesellschaft
seit Ende des vergangenen Jahres auf breiten Protest. Wenn er ins Parlament
eingebracht wird und das Gesetz verabschiedet wird, könnte das dazu führen,
dass Täter straffrei ausgehen, weil unterstellt wird, das minderjährige
Kind habe der Beziehung zugestimmt. Frauenrechtsorganisationen warnen
davor, dass dieser Gesetzesentwurf zu Straflosigkeit bei Kindesmissbrauch
auch außerhalb von Kinderehen führen könnte.
In einer gemeinsamen Presseerklärung haben im Januar mehr als 60
zivilgesellschaftliche Organisationen gegen den Entwurf protestiert,
darunter der Türkische Psychiatrieverband und die Frauenorganisation Uçan
Süpürge. Sie weisen darauf hin, dass mehr als 30 Prozent der Kinderehen in
der Türkei von einem Imam geschlossen werden – und das mit dem
Einverständnis der Eltern.
In der Erklärung heißt es weiter: “Ein zwölfjähriges Mädchen könnte mit
einem 15 Jahre älteren Mann islamisch verheiratet werden und sexueller
Missbrauch in diesem Verhältnis würde nicht als Straftat gezählt werden.“
Sie befürchten zudem, dass mit diesem Gesetz nicht nur Missbrauch innerhalb
von Kinderehen straffrei werden würde, sondern alle Täter, die Mädchen
sexuell belästigen, straffrei ausgehen könnten.
## Der Körper der Frau gehört der Familie
Eine ähnliche Regelung, die seit 1936 im türkischen Justizsystem
existierte, wurde 2005 aufgrund der breiten Proteste von
Frauenrechtsorganisationen nicht in das neue Strafgesetzbuch übernommen.
2016 brachte die AKP den Gesetzesentwurf erneut als Wahlversprechen auf die
Tagesordnung. Der Entwurf von 2016 sah vor, dass eine Haftstrafe wegen
sexuellen Missbrauchs aufgeschoben wird, wenn der Altersunterschied
zwischen dem Täter und dem missbrauchten Kind weniger als zehn Jahre
beträgt und der Täter das Opfer heiratet. In der Vergangenheit haben die
heftigen Reaktionen der Öffentlichkeit die AKP in die Schranken weisen
können. Ob das ein drittes Mal klappen wird, ist jedoch nicht sicher.
Die Strafrechtlerin Gülşah Kurt findet die Spekulationen über den
Gesetzesentwurf besorgniserregend. Die Regelung im alten Türkischen
Strafgesetz sei aus Gender-Perspektive eine der problematischsten
Regelungen gewesen, sagt sie. Der Zweck des neuen Gesetzesentwurfs sei es,
die alte Mentalität zurückzubringen. „Dieser Mentalität zufolge gehören d…
Körper und die Sexualität der Frau nicht ihr selbst, sondern ihrer Familie
oder ihrem Ehemann. Demzufolge ist jeder Verstoß auch ein Angriff auf die
Ehre der Familie und des Mannes. Erst wenn die Frau verheiratet wird, wird
die Familienehre und das Gerechtigkeitsgefühl wiederhergestellt.“
Zum genauen Inhalt des Gesetzesentwurfs gibt es derzeit viele
Ungewissheiten. Dem türkischen Justizminister Abdülhamit Gül zufolge soll
sexuelle Gewalt gegen Kinder neben anderen Straftaten wie Terrorismus,
vorsätzliche Tötung und Folter von Amnestien ausgeschlossen bleiben. Die
Regierung zählt Kinderehen jedoch nicht zu Kindesmissbrauch. Eine weitere
Ungewissheit des Gesetzesentwurfs ist, ob der Altersunterschied zwischen
Täter und Kind von zehn auf fünfzehn Jahre angehoben werden soll, damit
durch eine Heirat die Haftstrafe ausgesetzt werden kann.
In einer gemeinsamen Erklärung protestierten im Dezember 63 Anwaltskammern
gegen den Gesetzesentwurf. Besonders die Diskussion über die Altersgrenze
sei absurd, heißt es in der Erklärung: “Ob der Altersunterschied zwischen
dem Täter und dem Kind zehn oder fünfzehn Jahre beträgt, ist unwichtig. Ein
Gesetzesentwurf, der Kindesmissbrauch rechtfertigt und fördert, ist nicht
zeitgemäß, rechtswidrig und darf niemals akzeptiert werden.“
## Das Gesetz erschüttert die Menschenrechte
Die Regierung erklärt die Notwendigkeit des Gesetzesentwurfs mit der
„Benachteiligung“ der Imam-Ehen, also Kinderehen, die nur durch einen Imam
geschlossen wurden, aber eigentlich nicht rechtskräftig sind. Laut
Strafgesetz stellt die sexuelle Beziehung zu Minderjährigen in islamisch
geschlossenen Ehen eine Straftat dar. Der Regierung zufolge zerbrechen
Familien, weil der Ehemann ins Gefängnis muss, obwohl keine Beschwerde
gegen ihn vorliegt. Mit dem Gesetzesentwurf solle diese Benachteiligung
beseitigt werden, so die Regierung.
Als der Gesetzesentwurf 2016 diskutiert wurde, erklärte der damalige
Justizminister Bekir Bozdağ, dass dieser nur “rückwirkend und
vorübergehend“ sei, da es sich nicht um „Vergewaltiger oder Personen, die
sexuellen Missbrauch gewaltsam durchgesetzt haben“ handele. „Es geht hier
um Fälle, bei denen das Einverständnis der Familie vorliegt“, so Bozdağ
damals. Eine Inhaftierung der Täter stelle für die Frauen eine weitere
Belastung dar, so das Argument der AKP. Laut Bozdağ gab es 2016 rund 3.000
Männer, die wegen Missbrauchs in der Kinderehe inhaftiert sind.
„Es sollte sowohl diskutiert werden, welchen Zweck dieser Gesetzesentwurf
erfüllt als auch, ob die Inhaftierten Opfer sind oder nicht“, sagt die
Verantwortliche für Kinderrechte beim Verein für Sozialrechte, Tuba Torun.
Außerdem solle untersucht werden, ob die Ehe einvernehmlich geschlossen
wurde oder durch den Druck der Familie oder des Täters. “Man kann nicht
einfach für eine Gruppe eine Gesetzesänderung erwirken, die die
Menschenrechte in ihren Grundfesten erschüttert“, sagt sie.
Torun warnt davor, dass eine “einmalige“ Änderung Kindesmissbrauch
erleichtern würde. “Die Täter könnten den Eindruck bekommen, dass ihre
Strafe ohnehin ausgesetzt wird und somit würde die Wirksamkeit der Gesetze
schwinden“, sagt sie. „Zudem könnten betroffene Minderjährige dazu
gezwungen werden, eine Ehe einzugehen. Eine solche Ehe könnte die Familie
des Täters erzwingen oder die Familie des Opfers im Namen der ‚Ehre‘.“
Aus dem Türkischen von Julia Lauenstein
9 Mar 2020
## AUTOREN
Elif Akgül
## TAGS
taz.gazete
Politik
Kinderehe
Zwangsheirat
Kriminalität
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