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# taz.de -- Expertin für Zwangsheirat: „Es geht um das Patriarchat“
> Aisha Kartal arbeitet mit jungen Migrantinnen, die vor der Unterdrückung
> in ihren Familien geflohen sind. Wie lernt man, ein freier Mensch zu
> sein?
Bild: „Das Problem der Zwangsheirat ist auch ein Versagen der deutschen Gesel…
taz am wochenende: Frau Kartal, Sie arbeiten für eine Beratungsstelle für
junge Migrantinnen, die [1][von Zwangsheirat betroffen sind]. Wie finden
diese Frauen zu Ihnen?
Aisha Kartal: Mittlerweile versuchen wir, nicht mehr erst darauf zu warten,
dass die Mädchen aus ihren Familien flüchten müssen. Wir informieren an
Schulen über Zwangsheirat und über die Rechte, die sie als Mädchen haben.
Wir suchen den Dialog, wollen Mädchen früh auf die Idee bringen, dass sie
erkennen, wenn man sie unterdrückt, und dass es noch eine andere Welt für
sie geben kann. Nach nahezu jeder Veranstaltung melden sich ein, zwei
Betroffene bei uns.
Wie viele Frauen sind in Deutschland betroffen?
Es gibt keine verlässlichen Zahlen. Auch Schätzungen sind schwierig. Unsere
Beratungsstelle betreute im letzten Jahr rund 200 Fälle, wo junge Frauen
Gewalt im Namen der Ehre erfahren haben. Davon haben 75 Frauen konkret
artikulieren können, dass sie von Zwangsheirat betroffen sind. Wir gehen
aber von einer weit größeren Fallzahl aus.
Was passiert mit diesen Mädchen? Wie schützen Sie sie vor ihren Familien?
Zunächst bringen wir die jungen Frauen in Wohngruppen in einer fremden
Stadt unter. Sie bekommen eine Betreuerin, die im Laufe der Zeit
Bezugsperson und Vertraute wird. In den Wohngruppen leben sie anonym,
anfangs dürfen sie keine Gäste haben, niemand darf wissen, wo sie wohnen.
Wir besorgen Papiere, Zeugnisse, auch Pässe. Dafür gehen wir viele Umwege,
um keine Spuren zu legen. Viele bekommen eine ganz neue Biografie. Bevor
die jungen Frauen wieder in eine Schule gehen dürfen, haben sie gelernt,
ihre Geschichte sicher zu erzählen. Sie haben sich stabilisiert in ihrer
neuen Biografie.
Dürfen sie jemals wieder private Kontakte zu ihrer Herkunftsfamilie
aufnehmen, oder bleibt das zu gefährlich?
In erster Linie muss ihr Aufenthaltsort gegenüber dem alten Umfeld geheim
gehalten werden. Freunde, Bekannte aus dem neuen Wohnumfeld sind okay. Auch
Partnerschaften. Es ist wichtig, dass sie irgendwann wieder am öffentlichen
Leben teilhaben. Sich raustrauen. Dabei lernen sie, dass sie für ihre
eigene Meinung einstehen können; dass Diskussionen ohne Gewalt
funktionieren. Das haben sie ja meistens in den Familien anders gelernt.
Wie lernt man, ein freier Mensch zu sein?
Die Frauen müssen ihr Ich entdecken. Meist dreht sich ihr ganzes Denken um
die Familie: Was wollen meine Eltern? Was denken die anderen von mir?
Schrittweise gelangen wir an den Punkt, dass die jungen Frauen definieren
können, was sie selbst wollen. Und auch ein Nein aussprechen können. Ein
Nein war immer Tabu in der Familie. Die Antwort war immer Gewalt. Bei uns
lernen sie, dass ein Nein Würde bedeutet. Das Ziel ist Selbstständigkeit.
Wie lange dauert dieser Weg in die Freiheit?
In unseren Wohngruppen leben die Mädchen in der Regel etwa zwei Jahre. Dann
ziehen sie in eine eigene Wohnung, führen ein eigenes Konto. In dieser
Phase haben sie noch zweimal pro Woche Kontakt zur Betreuerin. Wir sind
aber telefonisch jederzeit erreichbar. Tag und Nacht. Nach circa drei, vier
Jahren sind die Frauen durch diesen Prozess durch. Dann können sie
selbstständig leben. Meistens zeigt sich vorher, ob sie zurück ins
Elternhaus gehen. 98 Prozent unserer Betreuten bleiben. Aber dass welche
zurückgehen, das gibt es auch.
Weil sie ihre Angehörigen so sehr vermissen?
Die Mädchen haben natürlich auch schöne Erinnerungen an die Familie. Sie
vermissen ihre Eltern und Geschwister. Man kann seine Familie nicht einfach
löschen. Wir versuchen ihnen nicht die Sehnsucht zu nehmen, ihnen aber zu
erklären, dass sie an vielen Stellen unwürdig behandelt wurden. Dass sie
Aufgaben übernommen haben, die nicht altersgemäß sind. Dass sie Wünsche
formulieren dürfen, ohne dafür bestraft zu werden. Die Androhung von
Zwangsheirat ist ja meist nur das Ende einer langen Gewaltgeschichte. Alle
Mädchen haben jahrelange häusliche Gewalt hinter sich. Psychisch und
physisch.
Selbst wenn sie auf dem Papier volljährig sind, sind viele in ihrer
Entwicklung hinterher, sie haben nie gelernt, dass sie eigene Rechte, eine
eigene Ehre im Sinne von Würde haben. Im Gegenteil: Die Ehre wurde immer
nur gegen sie verwendet. Jahrelang wurde ihnen erzählt, dass nur zählt, was
gut für die Familie ist. Das Kollektiv steht über allem. Viele denken: Ich
bin nur das, was die Familie, der Vater, die Mutter, der Bruder will.
Was, wenn diese Mädchen nicht von Beratungsstellen wie Ihrer erfahren?
Wir gehen davon aus, dass viele Frauen heute in Deutschland
zwangsverheiratet leben und sich das nicht so schnell ändern wird. Aber: Es
hilft, dass dieser gewaltsame Kollektivismus in einer westlichen
Gesellschaft schnell an seine Grenzen kommt. Die Mädchen kommen in der
Schule und in den sozialen Netzwerken in Kontakt mit Gleichaltrigen. Sie
lernen in der Schule, dass sie ein Individuum mit eigenen Rechten sind.
Vieles, was sie draußen erfahren, widerspricht irgendwann dem propagierten
Weltbild zu Hause.
Dann entwickeln viele Frauen eine Vorstellung von ihrem Leben, sehen aber
keine Chance, sich gegenüber ihrer Familie durchzusetzen. Mit viel Glück
haben sie irgendwann die Kraft, sich jemandem anzuvertrauen, von ihrer
Gewalterfahrung zu erzählen. Sie wissen aber auch, damit entehren sie ihre
Familie. Und manchmal ist das sogar ihr Todesurteil.
Spielt die Religion eine Rolle?
Religion wird nur benutzt, um die Frauen kleinzuhalten. Es geht nicht um
Religion, es geht um das Patriarchat. Gewalt ist eine Erziehungsmethode,
wenn man nicht weiterweiß. Ehre ist nichts Religiöses, es hat mit erlernten
Geschlechterrollen zu tun. Mit patriarchalen Familienstrukturen, die immer
schon so gelebt wurden. Aus der Religion übernimmt man nur das, was einem
zur Erziehung, der eigenen Sache dient. Natürlich gibt es
Zwangsverheiratung auch in streng religiösen Familien, aber das ist nicht
die Mehrheit.
Aus welchen Familien kommen die Mädchen?
Vor rund 20 Jahren waren es noch mehrheitlich türkische Mädchen. Heute sind
es eher Frauen aus Irak, Afghanistan, Pakistan. Das hat natürlich mit den
Entwicklungen der Einwanderung nach Deutschland zu tun. Aber alle Familien
eint, dass sie in diesem Land nicht angekommen sind. Auch nicht etliche
Generationen später. Die meisten Familien haben komplexe Familiensysteme.
Sucht und Geldprobleme spielen manchmal auch eine Rolle. Die Ehre einer
Familie hängt an ihrer sozialen Stellung. Das muss die Tochter dann oft
ausbaden, indem sie so verheiratet wird, dass es der Familie nützt.
Oft sie werden mit einem entfernten Cousin im Heimatland oder Herkunftsland
der Eltern verheiratet, der sichert sich so zum Beispiel ein
Einwanderungsticket. Das ist gut für das Ansehen der Familie. Aber noch
mal: Das ist nicht typisch für diesen oder jenen Kulturkreis, für diese
oder jene Religion. Wenn man so will ist Zwangsheirat typisch in Familien,
in denen Männer ohne Einschränkung über die Frauen bestimmen.
Hat Deutschland begriffen, dass es ein Einwanderungsland ist und sich damit
auch solchen Themen stellen muss?
Ich halte das Problem der Zwangsheirat auch für ein Versagen der deutschen
Gesellschaft. Wir brauchen bessere Rahmenbedingungen, in denen sich die
Familien angekommen fühlen. Nur im Austausch mit anderen kann ein Mensch
lernen, dass es mehr gibt als das, was er bislang erfahren hat. Die meisten
Eltern haben nämlich selbst Gewalt in ihrer Vergangenheit erfahren. Und in
Deutschland sprechen wir über dieses Thema öffentlich erst seit rund zehn
Jahren. Immerhin: Heute muss man das Jugendamt nicht mehr überzeugen. Die
Lebenswelt von jungen Migrantinnen ist heute viel präsenter.
25 Oct 2019
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[1] /Zwangsheirat-in-Deutschland/!5631787
## AUTOREN
Sara Tomšić
## TAGS
Zwangsheirat
Patriarchat
Integration
Migration
Kamerun
Lesestück Recherche und Reportage
Elterliche Gewalt
Bundesverfassungsgericht
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