| # taz.de -- Zwangsheirat in Deutschland: Alles, was ich wusste | |
| > Zohra wurde von ihrer Familie zu einer Verlobung gezwungen. Als ihr Vater | |
| > drohte, sie zu töten, floh sie. Es begann ein schwerer Weg in die | |
| > Freiheit. | |
| Bild: Mich kann nichts mehr aufhalten, auch nicht meine Vergangenheit | |
| Zohra sitzt auf einem roten Sofa und knetet ihre Hände. Der Kontakt zur ihr | |
| kam durch ihre Betreuerin zustande. Diese arbeitet für einen Verein, der | |
| Frauen unterstützt, die Gewalt im Namen der Ehre erfahren haben. Ihre | |
| Betreuerin ist Zohras wichtigste Bezugsperson und darum bei den Gesprächen | |
| mit der taz dabei. Zohras Bedingungen: keine Orte, keine Namen, nichts, das | |
| sie verraten könnte. Darum sind ihr Name und ihr Herkunftsland geändert. | |
| Vor dem Gespräch legt sie ihr Handy vor die Tür, aus Angst, jemand könnte | |
| mithören. Die junge Frau sieht ihre Betreuerin an, nickt, beginnt zu | |
| erzählen: | |
| An den Tag, an dem mein Leben auseinanderbrach, erinnere ich mich nur noch | |
| verschwommen, aber die Worte meines Vaters, die mein neues von meinem alten | |
| Leben abschnitten, hallen noch heute in meinem Kopf: | |
| „Ich werde dich töten.“ | |
| Aber ich will von vorne anfangen, in meinem alten Leben. Ich bin in | |
| Turkmenistan geboren und aufgewachsen und bin die älteste Tochter meiner | |
| Eltern. Anfang der 2000er ging mein Vater nach Deutschland, er wollte ein | |
| besseres Leben finden und uns nachholen. Wenige Jahre später, ich war | |
| mittlerweile 14 Jahre alt, kam ich mit meiner Mutter und meinen | |
| Geschwistern nach Deutschland. Alles war anders als zu Hause. Nicht besser, | |
| nicht schlechter – einfach anders. | |
| Als ich klein war, war mein Vater ein liebevoller Mensch, ich war seine | |
| Prinzessin. Er war stolz auf mich, nahm mich überall mit hin, zum Tee mit | |
| Freunden, zum Einkaufen. Es war eine unbeschwerte Zeit. Doch jetzt war ich | |
| älter, eine junge Frau, und unsere Beziehung veränderte sich. Es kamen die | |
| Verbote. | |
| Mein Alltag bestand darin, zur Schule zu gehen. Danach nach Hause. Als | |
| älteste Tochter musste ich den Haushalt machen, meine Mutter tat nichts. | |
| Als mein Vater noch alleine in Deutschland war, hatte er eine andere Frau | |
| kennengelernt. Kurz bevor wir kamen, hatte er sich von ihr getrennt. Dass | |
| mein Vater sie betrogen hatte, verschaffte meiner Mutter eine Art Macht | |
| über ihn. Er war ihr etwas schuldig, sein Leben, seinen Respekt. Das nutzte | |
| sie aus, um ihn herumzukommandieren. Und er tat dasselbe mit mir. | |
| Ich durfte keine Freunde haben, männliche sowieso nicht, weibliche auch | |
| nicht. Meine Kleidung musste lang und weit sein. Eine Jeans unter einem | |
| Rock, ein Langarmshirt unter einem Top. Auch im Sommer. Keine Schminke, | |
| keinen Schmuck. Nicht einmal meine Damenbinden durfte ich alleine kaufen, | |
| überall musste ich in Begleitung meines Vaters oder einem meiner Brüder | |
| hin. Das Einzige, was mein Vater mir erlaubte, war ein Leben ohne Kopftuch. | |
| Das klingt vielleicht wie ein Widerspruch, ist es aber nicht. So sah ich | |
| nach außen angepasst aus. Ein Mädchen ohne Kopftuch wird doch nicht | |
| unterdrückt. Oder? | |
| ## Schande und Ehre | |
| Mein Vater kaufte mir irgendwann ein Handy. Was für Jugendliche | |
| normalerweise Freiheit bedeutet, bedeutete für mich Kontrolle. Mein Vater | |
| rief mich täglich an, mehrmals. Er fragte dann, wo ich sei. Natürlich war | |
| ich in der Schule. Wenn er anrief und ich nicht abnahm, stand er kurz | |
| darauf im Pausenhof. Er war paranoid. | |
| Einmal rief er an, als ich gerade auf dem Heimweg durch eine Unterführung | |
| lief. | |
| „Wo bist du?“ | |
| „Auf dem Weg nach Hause.“ | |
| „Du lügst, du klingst als wärst du in einem Keller.“ | |
| „Wieso denn in einem Keller?“ | |
| „Du fickst mit einem Mann!“ | |
| Schande war ein Wort, das ich oft zu hören bekam. Es war wie ein großes | |
| Ungeheuer, vor dem ich Angst hatte und das mich beim kleinsten Fehltritt | |
| verschlingen würde. | |
| „Du willst doch nicht sein wie diese ganzen deutschen Mädchen, oder? Zehn | |
| Freunde vor der Ehe, Sex, Alkohol, Drogen – das sind Schlampen. Willst du | |
| eine Schlampe sein?“ | |
| Mein Vater hatte panische Angst, dass ich mich verlieben, seiner Kontrolle | |
| entgleiten, ihn entehren könnte. Ehre ist auch so ein Wort, mit dem ich | |
| aufgewachsen bin. | |
| Die Ehre meines Vaters hing davon ab, was andere Leute über ihn denken und | |
| sagen. Allen voran unsere Verwandten, ihr Urteil war für meinen Vater das | |
| Wichtigste, wichtiger als das von Allah. Dass ich etwas tun könnte, was ihn | |
| in ein schlechtes Licht rückte, war seine größte Angst. Meine Mutter half | |
| mir nicht, sie beschützte mich nicht. Ich glaube, ich war ihr egal. Sie war | |
| nie eine echte Mutter, keine warmen Worte, keine Liebe, nur Kälte. Warum, | |
| weiß ich nicht. | |
| ## Aus dem „du sollst“ wurde irgendwann ein „du musst“ | |
| Ich war 17 Jahre alt als mein Vater zum ersten Mal sagte: | |
| „Du solltest heiraten.“ | |
| Die Ehe erschien ihm wie der rettende Hafen, in den er mich stecken konnte. | |
| Mich binden, bevor ich es vermasselte, bevor ich meine Jungfräulichkeit an | |
| einen Dahergelaufenen verlor und meiner Familie Schande brachte. Ich | |
| versprach ihm, dass ich keine Probleme machen würde. Alles, was ich wollte, | |
| war meine Realschule zu Ende machen. Ich wollte einen Abschluss, eine | |
| Chance auf ein echtes Leben. Doch mein Flehen half nichts. | |
| Meine Eltern luden Familien mit ihren Söhnen ein. Man trank Tee, aß Gebäck | |
| und ich wurde vorgeführt wie ein Zirkustier. Am Ende der Besuche traute ich | |
| mich etwas, was ich noch nie getan hatte. Ich sagte: Nein. Nein zu einer | |
| Ehe mit diesem Jungen, den sie mir da vorgestellt hatten. Mein Vater wurde | |
| wütend. Der Widerstand fühlte sich richtig an und gleichzeitig falsch. | |
| Falsch, weil ich eine gute Tochter sein wollte, weil ich gelernt hatte, | |
| nicht zu widersprechen. | |
| Aus dem „du sollst“ wurde irgendwann ein „du musst“. Es fanden weitere | |
| Treffen mit potentiellen Ehemännern statt, ich blieb bei meiner Antwort. | |
| Irgendwann nahm mich ein Onkel bei Seite und sagte: | |
| „Du musst beim nächsten Mal zusagen, sonst wird es gefährlich für dich.“ | |
| Ich ignorierte seine Worte, speicherte sie ab als weitere Drohung, erkannte | |
| nicht, dass es eine Warnung war, und sagte nach dem nächsten Treffen mit | |
| einem potentiellen Bräutigam wieder Nein. Ein paar Monate später, kurz vor | |
| den Schulferien, kam ich von der Schule nach Hause, mein Vater saß im | |
| Wohnzimmer und rief nach mir. | |
| „Deiner Großmutter in Turkmenistan geht es schlecht. Sie wird sterben.“ | |
| Ich bekam Angst. Ich liebte meine Oma sehr – seit meinem Umzug nach | |
| Deutschland hatte ich sie nicht mehr gesehen. Mein Vater sagte, ich solle | |
| hinfliegen, um mich zu verabschieden. | |
| Vielleicht hätte ich merken müssen, dass etwas nicht stimmte. Vielleicht | |
| hätte ich erkennen können, dass es eine Falle war. Aber der Mann, der mir | |
| da gegenübersaß, war mein Vater. Und bei aller Strenge glaubte ich daran, | |
| dass er mich liebte. Und ich glaubte nicht daran, dass er mir etwas Böses | |
| wollte. Ich habe ihm vertraut. | |
| ## Du darfst nicht zurück | |
| Also flog ich mit meinen Brüdern Anfang der Schulferien nach Turkmenistan. | |
| Das Erste, was ich sah, als wir in unser Heimatdorf kamen, war meine | |
| Großmutter, die im Garten Erde umgrub. Alles wirkte normal – zu normal. | |
| Aber ich fragte nicht nach. Am Tag darauf kam ich morgens ins Wohnzimmer. | |
| Meine Großmutter saß am Tisch und weinte. Was ist los? | |
| „Dein Vater hat gesagt, du musst dich hier verloben, ansonsten darfst du | |
| nicht zurück nach Deutschland.“ | |
| Ich hörte ihre Worte, aber verstand sie nicht. Ich brauchte einen Moment, | |
| bis ich es realisierte, bis der Satz von meinem Gehirn ins Herz sickerte | |
| und sich alles zusammenkrampfte. Erst schrie ich. Dann weinte ich. Dann | |
| flehte ich sie an. Vergeblich. Sie nahmen mir meinen Reisepass weg. | |
| In den kommenden Tagen kamen Mütter und Väter mit Söhnen, die mich | |
| anstarrten, wie in Deutschland. Als sie gingen, sagte ich Nein, jedes Mal. | |
| Tage vergingen, dann Wochen. Ich hörte auf zu essen. Hörte auf zu reden. | |
| Konnte nicht mehr schlafen. Meine Brüder redeten auf meine Großeltern ein. | |
| Die Antwort: Schande. Ehre. Sie muss heiraten. | |
| Nach drei Wochen entschied einer meiner Onkel für mich. Ein entfernter | |
| Cousin sollte mein Mann werden. Ich hatte keine Kraft mehr, mich zu wehren, | |
| ich sagte nichts und mein Onkel sagte in meinem Namen Ja. | |
| Der Tag meiner Verlobung war heiß. Meine Brüder kamen nicht. Ich saß nur | |
| da, wie in Trance. Der Cousin kam mit einer Pistole in das Haus meiner | |
| Großeltern, hielt sie vor mein Gesicht. | |
| „Wenn du die Zeremonie versaust, werde ich dich töten. Du wirst meine | |
| Frau.“ | |
| Für ihn war ich die Eintrittskarte nach Deutschland, ich war seine Hoffnung | |
| auf ein besseres Leben. Die Verlobung sollte hier stattfinden, die Hochzeit | |
| dann in Deutschland. Damit die Ehe anerkannt wird. Alle wussten: eine | |
| Verlobung reicht, um mich zu binden. In unserer Kultur zählt sie genauso | |
| viel wie eine Hochzeit. | |
| ## Ich kannte das Wort Vergewaltigung noch nicht | |
| Die Zeremonie fand statt, ich war nur körperlich anwesend. Von diesem Tag | |
| an war ich verlobt. Der Mann, den sie meinen Verlobten nannten, besuchte | |
| mich jeden Tag im Haus meiner Großeltern, flüsterte mir ins Ohr, wie schön | |
| ich war. An einem Nachmittag kurz vor meiner Abreise nach Deutschland, | |
| brachte er mich in ein Haus. Fasste mich an, küsste mich. Er entblößte | |
| mich. Ich war wie gelähmt, konnte mich nicht wehren. Meine Gedanken waren | |
| wie in Watte gepackt. Ich lag regungslos da, und er tat etwas, was nicht | |
| einmal er durfte, weil unsere Tradition, unser Gott es vor der Ehe verbot: | |
| Er drang in mich ein. | |
| Als das passierte, kannte ich das Wort Vergewaltigung noch nicht. Ich hatte | |
| noch nie zuvor einen Jungen geküsst, war noch nie berührt worden. Meine | |
| Eltern hatten mich nicht aufgeklärt. Ich wusste nichts über Sex. Und noch | |
| weniger wusste ich, dass ich hätte Nein sagen können. Dass es Grenzen gibt, | |
| die ich setzen darf. Dass mich niemand küssen darf, wenn ich es nicht will. | |
| Dass mich niemand anfassen darf, wenn ich es nicht will. Ich wusste nicht, | |
| dass mein Körper mir gehört. | |
| Alles, was ich über die Welt und den Glauben, über Mann und Frau und mich | |
| wusste, wusste ich von meinen Eltern. Allah verzeiht keinen Ungehorsam, | |
| eine Frau muss tun, was ein Mann verlangt, und ich bin, was meine Eltern | |
| von mir erwarten. So waren die Regeln. | |
| Zurück in Deutschland vergingen die nächsten Monate. Ich ging in die | |
| Schule, lebte mein Leben, als wäre es das einer anderen. Ich konnte laufen | |
| und atmen, aber ich hatte keine Worte mehr. Meine Großeltern hatten meiner | |
| Familie von der Verlobung berichtet. Von der Vergewaltigung hatte ich | |
| niemandem erzählt. Ich schämte mich so sehr. Außerdem hätten sie mir eh | |
| nicht geglaubt, und selbst wenn doch: Eine beschmutzte Tochter wäre eine | |
| Katastrophe gewesen, die Konsequenzen wären sehr gefährlich für mich | |
| geworden. | |
| ## Ein Straßenfest | |
| Der Tag, an dem mein Leben dann endgültig zerbrach, war ein warmer | |
| Herbsttag. Ich weiß nicht, ob ich meinem Vater morgens „Tschüs“ gesagt | |
| habe, ob meine Mutter überhaupt zu Hause gewesen war oder ob ich meinen | |
| Brüdern noch ein letztes Mal zum Abschied gewunken habe. Wie die letzte | |
| Begegnung mit meiner kleinen Schwester war, weiß ich auch nicht mehr. | |
| Was ich weiß, ist, dass mich eine Klassenkameradin nach der letzten | |
| Schulstunde fragte, ob ich mit auf ein Straßenfest wolle. Und ich dachte: | |
| Scheiß drauf. Sie werden mich zwingen zu heiraten, sie haben erreicht, was | |
| sie wollten – also wird es schon nicht so schlimm sein. Es war 16 Uhr. Ich | |
| war volljährig. Das war das allererste Mal, dass ich etwas nach der Schule | |
| unternahm. | |
| Wir waren gerade auf dem Fest angekommen, da klingelte mein Handy. Ich nahm | |
| es aus der Tasche und starrte es an. Dann nahm ich ab. | |
| „Wo bist du?“ | |
| „Auf dem Weg nach Hause.“ | |
| „Warum ist im Hintergrund Musik?“ | |
| „Ich …“ | |
| „Wo bist du, du Schlampe?“ | |
| „Auf einem Straßenfest mit einer Freundin. Aber ihre Mutter ist auch | |
| dabei!“ | |
| „Was? Scheiße, du hurst durch die Gegend. Ich habe es doch gewusst. Warte | |
| dort, ich komme!“ | |
| „Papa, ich …“ | |
| „Ich werde dich töten!“ | |
| Dann legte er auf. Nach diesem Anruf wusste ich: Er meint es ernst. Er | |
| hatte mir schon häufig gedroht, aber nie damit, mich umzubringen. Ich rief | |
| panisch meine Tante an: | |
| „Das ist euer Problem, klärt das unter euch.“ | |
| Ich rief meine Mutter an: | |
| „Papa sagt, er wird mich töten. Ich habe Angst!“ | |
| „Ist mir scheißegal.“ | |
| „Aber was soll ich tun?“ | |
| „Komm nicht mehr nach Hause.“ | |
| An diesem Tag nahm mich meine Klassenkameradin mit zu ihr. Die ganze Nacht | |
| hielt ich mein Handy umklammert, in der Hoffnung, meine Familie würde | |
| anrufen. Aber das Handy blieb dunkel. In dieser Nacht habe ich verstanden, | |
| dass es kein Zurück mehr gibt. | |
| ## Ein neues Leben | |
| Die nächsten Monate verbrachte ich in einem Frauenhaus, eine Lehrerin hatte | |
| mich ans Jugendamt vermittelt und die hatten mich hergebracht. Die Frauen | |
| aus dem Heim saßen abends oft zusammen und tranken etwas Gelbes. Danach | |
| waren sie immer gut drauf. | |
| „Was ist das?“ | |
| „Ein Wundermittel. Es hilft zu vergessen.“ | |
| Ich nahm einen Schluck. Und dann ein Glas. Irgendwann trank ich es jeden | |
| Abend. Es war Sekt und er half tatsächlich zu vergessen. Zumindest für ein | |
| paar dämmrige Stunden. Ließ die Wirkung nach, drückte ich nachts mein | |
| Gesicht ins Kissen, damit mein Weinen die anderen Frauen nicht weckt. | |
| Drei Monate blieb ich dort. Ich fühlte mich nicht wohl, hatte Angst, auf | |
| der Straße meiner Familie zu begegnen. Mit einer meiner Cousinen hatte ich | |
| Kontakt. Sie sagte irgendwann: | |
| „Wenn du leben willst, musst du von hier verschwinden.“ | |
| Weil ich wusste, dass sie recht hatte, erkundigte ich mich nach einer | |
| anderen Möglichkeit. Mir fiel ein Flyer in die Hände. Ein Wohnprojekt für | |
| Frauen wie mich. Auf dem Flyer stand: Ruf uns an. Und das tat ich. Die Frau | |
| am anderen Ende der Leitung hatte eine weiche Stimme, sie klang freundlich, | |
| sie sagte „Herzlich Willkommen“. | |
| Mein neues Leben in der neuen Stadt war anfangs nicht leicht. Ich vermisste | |
| meine Familie, fühlte mich schuldig, obwohl ich wusste, dass ich keine Wahl | |
| gehabt hatte. | |
| Was denken sie von mir? | |
| Bin ich jetzt eine Schlampe? | |
| Ich habe meiner Familie Schande gebracht. | |
| Wird Allah mir vergeben? | |
| Meine Schuld und meinen Schmerz ertränkte ich in Alkohol. Wenn man nie | |
| gelernt hat, was Freiheit heißt, kann sie überfordernd und grausam sein. | |
| Und ich war überfordert. Mit mir, den Menschen, den Möglichkeiten. Ich | |
| wusste nicht, wer ich war, was ich wollte. Es gab niemanden mehr, der mir | |
| Vorschriften machte. Ohne den Rahmen, den meine Familie mir im Leben | |
| gesteckt hatte, fühlte ich mich anfangs verloren. | |
| ## Wer bin ich? | |
| Meine Betreuerin brachte mir bei, mich in dieser Freiheit zu finden. Sie zu | |
| nutzen. Mich zu fragen: Wer bin ich? Was sind meine Bedürfnisse, meine | |
| Wünsche? Andere Kinder lernen das, wenn sie klein sind. Ich musste es mit | |
| Anfang 20 lernen. | |
| In der neuen WG lernte ich, zu diskutieren und Regeln einzuhalten, die ich | |
| mir selbst gegeben hatte. Ich schminkte mich, lud Freunde zu mir ein, | |
| kaufte mir zum ersten Mal selbst meine Kleidung. Ich lernte Verantwortung | |
| für mich zu übernehmen, Nein zu sagen, wenn mir etwas nicht passte. Früher | |
| sagte ich immer „mir egal“. Denn früher war die Antwort auf meinen | |
| Widerstand Gewalt. | |
| Irgendwann verliebte ich mich zum ersten Mal in einen Mann. Er war Iraner. | |
| Als er mich das erste Mal schlug, dachte ich, es sei nur ein Ausrutscher | |
| gewesen. Aber er tat es wieder. Eigentlich wollte ich keinen Sex mit ihm. | |
| Aber er fragte immer wieder, überredete mich. Ich wollte ihn nicht | |
| verlieren. | |
| Ich brauchte viele Monate, bis ich verstand: Es ist dasselbe wie in meiner | |
| Vergangenheit. Ich lasse mich unterdrücken. Meine Betreuerin half mir in | |
| dieser Zeit, mich selbst besser zu verstehen. Ich erkannte die Muster, in | |
| die ich immer wieder abrutschte, und ich lernte, sie zu umgehen. | |
| Heute fühle ich mich wohl in der Welt. Ich weiß: Ich bin so viel mehr als | |
| das Leid, das ich erlebt habe. Ich habe keine Angst mehr vor Menschen, denn | |
| ich kann mich selbst schützen. Wenn ich etwas über mich wissen will, muss | |
| ich keinen anderen mehr fragen. Ich finde alle meine Antworten in mir. Die | |
| Welt ist so groß, aber ich habe keine Angst mehr vor ihr. Allah beschützt | |
| mich. Mein Allah und nicht der Allah, den ich durch meine Eltern | |
| kennenlernte und fürchtete. Mittlerweile habe ich den Koran gelesen und mir | |
| ein eigenes Bild gemacht. Ich weiß jetzt, dass nirgends steht, dass Frauen | |
| keine Rechte haben und dass Allah ihnen Ungehorsam nicht verzeiht. Er liebt | |
| mich, wie ich bin. Mit meiner Geschichte und meinen Fehlern. | |
| Gerade kann ich noch nicht in die Schule gehen, dafür fehlt mir die Kraft. | |
| Ich hoffe, das ist bald anders. Mein großer Wunsch ist, dass ich meinen | |
| Abschluss nachholen kann. | |
| ## Mich kann nichts mehr aufhalten | |
| Ich habe immer noch Nächte, in denen ich nicht schlafen kann. Mein Herz tut | |
| dann weh. Ich vermisse meine Familie. Über eine Bekannte, die ich geschützt | |
| kontaktiert habe, weiß ich, wie es ihnen geht. | |
| Meine Schwester hat ein uneheliches Kind bekommen. Sie ist heute 15 Jahre | |
| alt. Das Kind ist von einem Flüchtling, ich glaube er ist kein Moslem. Als | |
| ich das alles erfahren habe, dachte ich: Für meine Schwester tut es mir | |
| sehr leid. Sie hätte mehr erreichen können. Jetzt lebt sie bei meinen | |
| Eltern, mein Vater spricht nicht mehr mit ihr und sie ist an ein Kind | |
| gebunden, obwohl sie selbst noch eines ist. Aber meinem Vater geschieht es | |
| recht: Das ist Karma. | |
| Wenn ich an meine Mutter denke, bin ich wütend. Auch die Ehe meiner Eltern | |
| wurde unter Zwang geschlossen, sie lernten sich erst am Tag ihrer Hochzeit | |
| kennen. Sie hatte es also selbst erlebt. Diese Frau konnte meinen Vater | |
| dazu bringen, ihr Tee zu servieren, ihr die Füße zu massieren – warum hat | |
| sie ihn nicht davon abgehalten, mir all das anzutun? | |
| Wenn ich an meinen Vater denke, bin ich traurig. Ich weiß, er kann nicht | |
| anders, er ist gefangen in seiner Welt mit all den falschen Werten. Ich | |
| denke, die Umstellung war schwierig für ihn: Er war viele Jahre allein in | |
| Deutschland und auf einmal waren wir alle da. Das überforderte ihn, er | |
| hatte viel Angst, glaube ich. Und obwohl dieser Mann mir so viel Leid | |
| angetan hat, liebe ich ihn. Ich liebe ihn, aber ich kann ihm nicht | |
| vergeben. | |
| Und wenn ich dann über mich selbst nachdenke, bin ich stolz. Mich kann | |
| nichts mehr aufhalten, auch nicht meine Vergangenheit. Ich habe genug Zeit | |
| verloren. Mein neues Leben ist wie eine zweite Chance, die ich mir erkämpft | |
| habe und nutzen will. Ich will das Leben genießen, mich selbst beschützen | |
| und jeden Tag gut zu mir sein. | |
| 25 Oct 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Sara Tomšić | |
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