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# taz.de -- Freispruch der Sürücü Brüder: Schlimmes Signal
> Berliner Reaktionen auf Sürücü-Urteil. Zwölf Jahre nach dem Mord an Hatun
> Sürücü fehlen immer noch Schutzeinrichtungen für junge volljährige
> Frauen.
Bild: Gedenkstein für Hatun Sürücü in Berlin-Tempelhof
Mit Entsetzen haben Frauenorganisationen, Migrantenverbände und Politiker
auf den Freispruch der Sürücü-Bruder in der Türkei reagiert. Das Urteil sei
erwartbar gewesen, aber ein schlimmes Signal, heißt es nahezu unisono.
Mehr als zwölf Jahre nach dem sogenannten Ehrenmord an der 23-jährigen
Deutschkurdin Hatun Sürücü hatten deren zwei ältere Brüder Mutlu und
Alpaslan in Istanbul vor Gericht gestanden. Am Dienstag erfolgte der
Freispruch. Begründet wurde dieser mit Mangel an Beweisen. Das ist insofern
nicht verwunderlich, weil die Hauptbelastungszeugin M. im Istanbuler
Prozess nicht vernommen worden ist. „Wir wissen nicht, wie intensiv die
Bemühungen waren, die Zeugin zu finden und zu hören“, sagt Myria Böhmecke
von Terre des Femmes. Nach ihren Informationen war M. geladen. Der Prozess
sei auch mehrfach verschoben worden.
Die Hauptbelastungszeugin M. befindet sich seit dem Frühjahr 2005 in einem
Zeugenschutzprogramm. Zur Tatzeit war sie mit Ayhan, dem jüngsten der
Sürücü-Brüder, liiert. Der damals 19-Jährige hatte die Schwester auf der
Straße aus nächster Nähe mit drei Schüssen in den Kopf getötet. Im Prozess
vor dem Berliner Landgericht hatte Ayhan angegeben, den Mord allein
begangen zu haben. Seiner Freundin M. indes hatte er nach der Tat anderes
erzählt: Der ältere Bruder Mutlu habe die Tatwaffe besorgt. Der andere
Bruder, Alpaslan, habe Schmiere gestanden.
Enttäuscht vom Prozessausgang zeigt sich auch Frauensenatorin Dilek Kolat
(SPD). Sie halte die beiden Brüder für die eigentlichen Schuldigen,
erklärte Kolat. „Ich bin sehr enttäuscht, dass die Gerechtigkeit nicht
gesiegt hat.“ Ayse Demir, Vorstandssprecherin des Türkischen Bundes,
spricht von einem demotivierenden Signal. Seit dem Tod von Hatun Sürücü sei
in den migrantischen Communities zwar viel an Aufklärungsarbeit passiert.
Aber das reiche nicht aus. „Ehrenmorde sind immer noch ein Problem.“
Der Fall Sürücü sei das typische Muster eines „Ehrenmordes“, sagt auch
Myria Böhmecke von Terre des Femmes. Männliche Familienmitglieder planten
die Tat. Ausgeführt werde sie nicht selten vom Jüngsten der Familie, weil
der unter das Jugendstrafrecht falle und somit Strafmilderung bekomme. Auch
Ayhan Sürücü wurde zu 9 Jahren und sechs Monaten verurteilt. Wäre er
erwachsen gewesen, hätte er vermutlich „lebenslänglich“ erhalten. Ein
Schuldspruch der zwei älteren Brüder – „das hätte Signalwirkung gehabt�…
meint Böhmecke.
Die Sensibilität für das Thema sei seit Hatun Sürücüs Tod 2005 zwar
gestiegen, weiß die Referentin von Terre des Femmes. Aber
Schutzeinrichtungen für Frauen, die Hilfe suchten, gebe es immer noch nicht
genug. Meistens handele es sich um Wohnprojekte für Minderjährige. Benötigt
würden aber auch Einrichtungen für junge Volljährige. Die Frauen bräuchten
eine Art Familienersatz. Deshalb seien Frauenhäuser für diese spezielle
Gruppe nicht der richtige Ort.
„Ehrenmorde und Zwangsverheiratung haben oft einen Zusammenhang“, sagt
Böhmecke. Auch Hatun Sürücü war zwangsverheiratet gewesen. Sie hatte sich
von dem Mann, mit dem sie ein gemeinsames Kind hatte, losgesagt und
versucht, ein Leben nach ihren eigenen Vorstellungen zu führen.
Die letzte Studie des Bundesfamilienministeriums stammt von 2008. Damals
waren 3.443 Fälle von Zwangsverheiratung in der Bundesrepublik verzeichnet
worden.
Grund für Entwarnung sieht Böhmecke mit Blick auf eine Statistik des
Bundeskriminalamtes (BKA) über „Ehrenmorde“ nicht. Rund 12 Fälle habe das
BKA zwischen 1996 und 2005 pro Jahr gezählt. 2016 seien es 14 Fälle
gewesen. Zu begrüßen sei deshalb, dass der Bundestag am morgigen Donnerstag
den Gesetzentwurf zum Verbot von Kinderehen in zweiter und dritter Lesung
verabschiede.
31 May 2017
## AUTOREN
Plutonia Plarre
## TAGS
Ehrenmord
Hatun Sürücü
Zwangsheirat
Schwerpunkt Rassismus
Lesestück Recherche und Reportage
Elterliche Gewalt
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Hatun Sürücü
Ehrenmord
Schwerpunkt Türkei unter Erdoğan
Ehrenmord
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