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# taz.de -- Zwangsverheiratung in Berlin: Die Mutigsten gehen zur Polizei
> Eine Befragung zeigt: Weiter werden Hunderte Mädchen und Frauen
> zwangsverheiratet. Das Selbstbewusstsein der Betroffenen wächst.
Bild: Demeo gegen Homophobie, Gewalt und Zwangsverheiratung in Berlin, 2015
Jedes Jahr sind in Berlin Hunderte junge Menschen, zumeist Mädchen, von
Zwangsheirat bedroht. Das ergibt sich aus einer Umfrage des Berliner
Arbeitskreises gegen Zwangsverheiratung für das Jahr 2017. Veröffentlicht
wurde sie in dieser Woche von der Gleichstellungsbeauftragten des Bezirks
Friedrichshain-Kreuzberg, Petra Koch-Knöbel.
Danach wurden im vorigen Jahr 570 Fälle von versuchter oder erfolgter
Zwangsverheiratung bekannt. 83 Prozent der Betroffenen hatten einen
muslimischen Hintergrund, weitere waren christlichen, jüdischen oder
jesidischen Glaubens. „Die Umfrage erhebt ausdrücklich nicht den Anspruch,
quantitativ repräsentative Ergebnisse zu liefern“, sagte Koch-Knöbel am
Freitag der taz. So seien wegen der relativ einfachen und anonymisierten
Form des Fragebogens Mehrfahrzählungen nicht auszuschließen. Zudem dürfte
die Dunkelziffer um ein Vielfaches höher liegen.
Für die Erhebung befragte Koch-Knöbel 1.164 Berliner Einrichtungen aus dem
Antigewaltbereich, dazu Jugendämter, Polizei, Migrations-, Frauen-,
Gleichstellungs- und Integrationsbeauftragte sowie sämtliche Schulen und
Flüchtlingsunterkünfte. Davon haben 420 Einrichtungen den Erhebungsbogen
beantwortet.
Die Umfrage ist die zweite ihrer Art nach 2013. Damals wurden 460 Fälle von
Zwangsverheiratung aufgelistet; allerdings lag die Zahl der befragten
Einrichtungen um 40 Prozent niedriger. Von einer auffälligen Steigerung der
Fallzahlen kann also keine Rede sein.
## Viele geflüchtete Mädchen aus Syrien
Allerdings hat sich die Gruppe der Betroffenen verändert. So gab es in der
Umfrage von 2013 laut Koch-Knöbel noch mehr türkische Betroffene (32
Prozent) als arabische (22). Vier Jahre später hatten 20 Prozent der
Betroffenen einen türkischen Hintergrund und 48 Prozent einen arabischen,
darunter laut Koch-Knöbel „überwiegend syrische Mädchen und Frauen“. Die
Gleichstellungsbeauftragte und ihre Mitstreiter vom Arbeitskreis vermuten
daher, dass viele Geflüchtete von der Problematik betroffen sind. „Zum
Glück erfahren wir aber auch davon, weil viele Antigewaltprojekte direkt in
die Flüchtlingsheime gehen.“
Zwangsverheiratung gebe es nach wie vor auch in Familien, die bereits in
dritter Generation hier leben. Diese verbergen sich vermutlich hinter der
Zahl von 25 Prozent Betroffener mit deutsche Staatsangehörigkeit. „Das ist
ein allgemeines Problem patriarchaler Familienstrukturen“, sagte
Koch-Knöbel.
93 Prozent der Betroffenen sind weiblich. Bei den 7 Prozent Jungen ist
auffällig, dass die Hälfte von ihnen homosexuell ist und wohl deswegen ein
Mädchen heiraten sollten. Die meisten Betroffenen beiderlei Geschlechts
waren zwischen 16 und 21 Jahre alt. Jünger als 16 waren 12 Prozent der
weiblichen und 3 Prozent der männlichen Betroffenen.
## Aufklärung an Schulen läuft schleppend
In mehr als der Hälfte der bekannt gewordenen Fälle war die
Zwangsverheiratung noch nicht erfolgt. Dass viele Betroffene schon vorher
eine Beratungsstelle aufsuchen, wertet der Arbeitskreis als positives
Zeichen, dass sich immer mehr Jugendliche ihrer Rechte bewusst seien. Auch
sei das Bewusstsein in den Einrichtungen gewachsen, wodurch eine
frühzeitige Intervention möglich werde.
Der Arbeitskreis versucht, vor allem Schulen für das Thema zu
sensibilisieren, wie Koch-Knöbel erklärt – mit Fortbildungen für Lehrer,
Projekttagen für Schüler und dergleichen. „Das wird aber von den Schulen
leider wenig abgefragt“, sagte sie. Zusätzlich rieten sie jedes Jahr vor
den Sommerferien den Schulen, auf Hinweise zu achten, dass Jugendliche
womöglich nicht wiederkämen. Seien die Jugendlichen ins Ausland verbracht,
gebe es nur „im Einzelfall“ noch Hilfsmöglichkeiten. Für 2017 wurden 71
Verschleppungen ins Ausland ermittelt.
Eine juristische Handhabe gibt es seit 2011 mit Paragraf 237 des
Strafgesetzbuchs, der schon den Versuch zur Zwangsverheiratung unter Strafe
stellt und auch das Außer-Landes-Bringen für diesen Zweck. „Das ist
allerdings ein bisschen ein zahnloser Tiger, weil wir nur dann etwas tun
können, wenn die Kinder bereit sind, ihre Eltern anzuzeigen“, so
Koch-Knöbel. Das machten die allermeisten nicht. Immerhin: 2017 sind 13
Jungen und Mädchen zur Polizei gegangen.
23 Nov 2018
## AUTOREN
Susanne Memarnia
## TAGS
Elterliche Gewalt
Gewalt gegen Kinder
Gewalt gegen Frauen
Sexuelle Gewalt
Schwulenberatung Berlin
Palästina
Ehrenmord
Terre des Femmes
Integration
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