# taz.de -- Bundesweite Autobahnblockaden: Am Ort des zivilen Ungehorsams | |
> Seit Wochen blockieren Besetzer:innen bundesweit Autobahnen. Damit | |
> wollen sie auf Lebensmittelverschwendung aufmerksam machen. | |
Bild: Aktivist:innen kleben sich auf dem Asphalt fest und werfen Lebensmittel a… | |
BERLIN taz | Es ist noch dunkel am Treffpunkt im Nordwesten Berlins: Ein | |
Feldweg nahe der Autobahn A100, Ausfahrt Beusselstraße. 6.40 Uhr. In der | |
SMS, die Journalist:innen am Abend zuvor von einer Aktivistin der | |
Gruppe „Aufstand der letzten Generation“ erhalten haben, steht: „Bitte | |
verhalte dich unauffällig und warte, bis die Gruppe losgeht.“ Zwei kleinere | |
Trüppchen mit je fünf bis sechs Personen laufen allerdings auffallend oft | |
über eine Fußgängerampel an der Ausfahrt – besagte Gruppe. | |
6.50 Uhr. Berufsverkehr. Menschen, die zur Arbeit fahren. Heute werden | |
viele von ihnen nicht pünktlich ankommen. Die Ampel schaltet auf Rot. Zwölf | |
Aktivist:innen zwischen Anfang zwanzig und Mitte sechzig erscheinen in | |
wetterfester Kleidung, ziehen sich orange Warnwesten an und setzen sich auf | |
die Straße vor die haltenden Autos. „Essen retten. Leben retten“, heißt es | |
weiß auf schwarz in Großbuchstaben auf ihren Bannern. Die Fußgängerampel | |
springt auf Rot, und sie bleiben sitzen. | |
Es ist nicht das erste Mal, dass die „letzte Generation“ unbequeme | |
Forderungen stellt: Im September vergangenen Jahres waren sie in einen fast | |
vierwöchigen Hungerstreik getreten und hatten ein öffentliches Gespräch mit | |
den damaligen Kanzlerkandidat:innen sowie die Einberufung eines | |
Bürger:innenrats gefordert, der Sofortmaßnahmen gegen die Klimakrise | |
beschließen sollte. Tatsächlich gab es ein [1][Gespräch mit Olaf Scholz] im | |
November. | |
Nun sind die Forderungen konkreter: Ein [2][Essen-Retten-Gesetz], das | |
vorschreibt, dass abgelaufene Lebensmittel gespendet und nicht weggeworfen | |
werden sollen. Um das durchzusetzen, blockieren die Aktivist:innen nun | |
seit einigen Wochen bundesweit Autobahnen. | |
## Verständnis von Ricarda Lang | |
Inzwischen haben die Aktionen auch das politische Berlin erreicht: Der | |
parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion im Bundestag, | |
[3][Thorsten Frei, kritisierte Grünen-Chefin Ricarda Lang]. Sie hatte | |
Verständnis für die Aktivist:innen gezeigt. Ziviler Ungehorsam sei ein | |
legitimes Mittel politischen Protests, solange dieser friedlich sei, sagte | |
Lang. Autobahnen zu blockieren sei kein Kavaliersdelikt, betonte hingegen | |
CDU-Mann Frei. | |
An der A100 stockt indes der Verkehr – und kommt zum Stehen. „Verpisst | |
euch“, ruft es immer wieder aus vorbeifahrenden Autos aus der unblockierten | |
Richtung. Einige scheinen die Aktivist:innen schon zu kennen. Auf | |
Twitter kursiert ein Video, in dem ein Autofahrer einer Aktivistin ins | |
Gesicht schlägt. Am Montag stiegen sogar Fahrer:innen aus den Autos, um | |
selbst die [4][Protestler von der Straße zu zerren]. Das Rufen und Hupen | |
scheint dagegen harmlos. | |
Die Aktivist:innen packen Lebensmittel aus ihren Rucksäcken, legen sie | |
vor sich auf die Straße. Brot, Gemüse, Joghurt – frisch und genießbar | |
wirken die Produkte. Alles containert. Die meisten unter ihnen haben sich | |
erst in den vergangenen Wochen dem „Aufstand“ angeschlossen. Insgesamt 43 | |
Personen blockieren am vergangenen Freitagmorgen in Berlin an fünf | |
verschiedenen Punkten die A100 und ihre Ausfahrten. Weitere Aktionen gibt | |
es in Hamburg, Frankfurt, Stuttgart und München. 50 „Bürger:innen“ landen | |
an dem Tag laut Polizei im Gewahrsam. | |
Sobald die Autos auch auf der A100 zum Stehen kommen, folgt die eigentliche | |
Blockade: Fünf Aktivisten klettern über die Schutzplanken, setzen sich auf | |
die Straße. Legen Nahrungsmittel vor sich aus. Die Blockadepunkte tragen | |
Namen von Lebensmitteln. Vier der fünf kleben mit Sekundenkleber ihre linke | |
Handfläche auf den kalten Asphalt. Auch an der Ausfahrt kleben sich zwei an | |
die Fahrbahn. | |
## Resignierte und verständnisvolle Autofahrer:innen | |
Die ersten Polizeiautos sind zur Stelle. Überraschend schnell. „Wissen Sie | |
vielleicht, wie lange das noch dauert?“, fragt eine mittelalte Frau mit | |
kurzen Haaren. Sie sitzt in der ersten Reihe eines Citroën-Kombi und | |
berlinert stark. „Ich bin Floristin und muss pünktlich bei einer Beisetzung | |
sein.“ Sie verstehe „das ja alles. Meine Söhne essen auch seit Langem kein | |
Fleisch mehr. Aber setzt euch doch vor den Supermarkt“, sagt sie zu einem | |
Aktivisten, der am Straßenrand die Koordination der Gruppe übernimmt, Fotos | |
macht und Infos zur Blockade per Telegram postet. | |
Eine andere Aktivistin übernimmt eine ähnliche Funktion auf der A100. Sie | |
soll bei den Autofahrer:innen für Deeskalation sorgen. Die meisten | |
wollten nur wissen, wann es endlich weitergehe, erzählt sie später. Zu | |
überzeugen versuche man nicht, sagt sie, nur die Aktion zu erklären. | |
„Dieses Ankleben an die Straße ist ja auch ganz schlimm für die Haut“, | |
meint die Floristin. „Den Aktivist:innen geht es um Größeres als ihre | |
Haut“, antwortet ein Mann am Straßenrand, der Fotos macht. Die Frau steigt | |
zurück in ihr Auto. Immer mehr Polizeiwagen erreichen die Blockade. Es wird | |
langsam Tag, ein grau verhangener Tag. Es bleibt kalt. Der Stau ist schon | |
mindestens einen Kilometer lang. | |
In einem Kleintransporter sitzen zwei junge Arbeiter und lassen die Fenster | |
herunter, um zu fragen, wie lange das Ganze noch dauere. „Interessieren Sie | |
sich nicht dafür, das Klima zu retten?“, werden sie gefragt. Sie zucken mit | |
den Schultern. Sie müssten heute noch auf Montage nach Magdeburg. | |
## Junger Vater und Aktivist | |
Vor ihnen sitzen die blockierenden Aktivisten weiter auf dem kalten | |
Asphalt. Ob er denn nicht arbeiten müsse? „Ich habe mir extra heute Urlaub | |
genommen, das ist mir das wert“, sagt einer der Aktivisten. Er trägt so wie | |
alle anderen auch eine schwarze FFP2-Maske. „Hilft mir auch nichts, wenn | |
ich auf einem fetten Batzen Kohle sitze und alle hungern.“ Er hat zwei | |
Kinder und macht sich Sorgen um die Essenversorgung der Zukunft. Er sieht | |
jung aus, vermutlich um die dreißig. | |
„Wäre es nicht besser, zu containern oder Supermärkte zu blockieren?“ | |
„Vor den Blockaden sind wir gezielt zu Supermärkten gegangen, haben dort | |
[5][containert, dann Selbstanzeige gemacht] und das Essen verteilt. Die | |
Polizei ist hingekommen und hat das Ganze wieder zurückgebracht. Aufgrund | |
der Inaktivität der Regierung und der nahenden Klimakatastrophe sehen wir | |
uns gezwungen, drastischere Maßnahmen zu treffen“, sagt der Aktivist. | |
„Freund:innen macht ihr euch hier aber keine.“ | |
„Wir haben Mitgefühl für die Menschen in den Autos. Aber hier schaffen wir | |
es jeden Tag immer wieder, in die Presse zu kommen. Sobald Olaf Scholz das | |
Gesetz zur Lebensmittelrettung geschrieben hat, hören wir auf.“ | |
## Rettungswege versperrt? | |
„Ein unnötiger Einsatz heute?“ Eine junge Polizistin zuckt mit den | |
Schultern und zeigt auf das Blaulicht, das mehrere hundert Meter weiter auf | |
der Fahrbahn leuchtet. „Das könnte ein Rettungswagen sein. Die Aktivisten | |
gefährden Menschenleben.“ Tatsächlich stammt das Blaulicht von der Polizei | |
an der zweiten Blockade. | |
Mittlerweile sind es über fünfzig Polizist:innen mit Einsatzwagen, die | |
sich um die Aktivist:innen positioniert haben. Ein älterer Polizist | |
erklärt den Blockierenden, die Blockade sei ein Verstoß gegen das | |
Versammlungsgesetz. Fast schon entspannt redet er im Berliner Dialekt. Er | |
fordert die Aktivist:innen auf, bitte auf den Gehweg zu wechseln. Diese | |
reagieren nicht. | |
Nach zwei weiteren Aufforderungen tragen die Polizist:innen die | |
Aktivist:innen selbst auf die Seite. Immer zwei, drei | |
Staatsdiener:innen pro Person. Sie halten Arme und Beine verschränkt, | |
als hätten sie die Räumung eingeübt. Zwei bleiben sitzen, kleben immer noch | |
fest auf der Fahrbahn. Es heißt warten, bis die zuständigen Beamten mit | |
einem Stoff kommen, um den Kleber und sie vom Asphalt zu lösen. Völlig | |
anteilnahmslos holt einer der beiden ein Buch aus seinem Rucksack und | |
beginnt zu lesen. | |
„Hat sich die Aktion gelohnt?“ „Sicher. Es sind kleine Schritte, die zum | |
richtigen Ziel führen“, sagt eine Frau mit bunt gefärbten Haaren, die eine | |
violette Winterjacke unter der orange Warnweste trägt. Sie ist Studentin | |
und heute das erste Mal angeklebt. Mit Wärmflasche und Rettungsdecke | |
schützt sie ihre Hand. | |
## Mehrere Aktivist:innen in Einzelhaft | |
Irgendwann wird auch sie von von der Straße getragen. Die Autos sind längst | |
umgelenkt worden, das Essen von den Polizist:innen von der Straße | |
gekehrt. Die Fahrbahn ist frei. Die Floristin hat es vermutlich dennoch | |
nicht pünktlich zur Beisetzung geschafft. | |
8.30 Uhr. Etwas heller als zu Beginn der Blockade. Autos fahren wieder auf | |
der A100. Dem Ort, den der „Aufstand der letzten Generation“ am Sonntag zu | |
einem „Ort des gewaltfreien zivilen Widerstandes“ ernannt hat. Geldstrafen | |
hat es für die Aktivist:innen bislang noch nicht gegeben. Mehrere | |
Strafverfahren wurden aber bereits eingeleitet. Mittlerweile sind in Berlin | |
16 Aktivist:innen in Einzelhaft. | |
9 Feb 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Scholz-trifft-Klima-Aktivistinnen/!5815087 | |
[2] /Autobahnen-in-Berlin-blockiert/!5832378 | |
[3] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/thorsten-frei-cdu-attackiert-ric… | |
[4] https://twitter.com/EikePan/status/1490642327785902085 | |
[5] /Umweltaktivistin-ueber-ihre-Selbstanzeige/!5829359 | |
## AUTOREN | |
Ruth Lang Fuentes | |
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