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# taz.de -- Debütalbum des Berliner Trios Gewalt: Zwischen Lust und Ekel
> Das Berliner Industrial-Krachrock-Trio Gewalt veröffentlicht sein
> Debütalbum „Paradies“. Die Platte zetert und bebt sich die Apokalypse
> herbei.
Bild: Die Sonne scheint nur auf dem Foto: Das Trio Gewalt ist so grob wie der T…
Zehn Minuten pumpt eine Drum Machine im immer gleichen Takt. Monoton,
erbarmungslos. Sänger [1][Patrick Wagner] tut es der Maschine gleich und
repetiert gleichförmig: „Das ist mein / Das ist mein / nur mein /
Paradies“. Echo und Hall liegen auf Wagners Stimme, das Zuhören wird zur
Strafe, man bleibt gefangen in einer Dauerschleife. Während der
Drumcomputer weiterrattert, dreht der Ich-Erzähler durch, das Stück endet
für ihn in der Psychiatrie („Ich werd eingewiesen / Zur eigenen
Sicherheit“). Wagner bellt, tobt und schreit.
[2][„Paradies“] ist der Titeltrack [3][des Debütalbums der Berliner Band
Gewalt]. Es ist auch ein Höhepunkt dieses Werks; ein Stück, in dem die
Gruppe das Morbide, Kaputte, Suizidale ihrer Ästhetik auf den Punkt bringt.
Die Band befindet im Begleittext, das Lied sei immer noch zu kurz. Ja,
konsequenter wäre es gewesen, den Song auf Albumlänge auszudehnen – denn
Gewalt wollen, dass ihr Sound die größtmögliche Zumutung darstellt.
Gegründet hat sich das Trio bereits 2015. Neben Sänger und Gitarrist
Wagner, ehemals bei den Noiserocker:innen Surrogat und
[4][polarisierende Berliner Szenefigur], besteht die Band aus Gitarristin
Helen Henfling und Bassistin Jasmin Rilke. Vielsagend aber ist, dass als
erstes immer die Drumcomputer-Software genannt wird (früher DM1, jetzt
LMMS).
## Zehn neue und elf alte Purgatorien
Zunächst veröffentlichte Gewalt regelmäßig [5][Singles] bei Winzlabels, nun
konnte die Hamburger Plattenfirma Clouds Hill das Trio offensichtlich davon
überzeugen, ein Doppelalbum zu veröffentlichen. Neben zehn neuen Songs
enthält es auch elf Songs von den Singles, darunter viele Hits.
Der Bandnahme ist Programm. Die Musik der Berliner ist geprägt von
Industrial Rock, EBM (Electronic Body Music) und Dark Wave. Bands wie DAF,
Front 242 und Nitzer Ebb kommen einem in den Sinn, ähnlich mechanisch und
unterkühlt klingt auch Gewalt. Die Kleidung ist schwarz, die Frauen tragen
Lack und Leder auf den Fotos, in den Songs gibt es Anspielungen an
SM-Praktiken („Unterwerfung“).
Im Vergleich klingen die älteren Stücke minimalistischer und Lofi-mäßiger,
während die neuen Songs fetter produziert sind und dadurch stumpfer,
metallischer und düsterer daherkommen. Zuweilen muss man gar an die
Überwältigungsästhetik von Rammstein denken („Es funktioniert“,
„Jahrhundertfick“).
## Tiefes Unbehagen in Krank-moll
Nett, behaglich und gemütlich wird es zu keiner Zeit auf diesem Album, ein
tiefes Unbehagen zieht sich durch alle Songs. Aber es gelingt Gewalt, auf
diese Weise die chaotische und eher finstere gesellschaftliche
Gesamtgemengelage abzubilden. In [6][„Wir sind sicher“ (2018)] beschäftigt
sich Wagner mit dem Irrglauben, das Leben im Spätkapitalismus halte auch
nur irgendwelche Gewissheiten bereit – ein doppelt und dreifach gültiger
Song in Zeiten der Pandemie.
Alles ist Apokalypse, suggeriert auch [7][das neue Stück „Es
funktioniert“]: „Ein täglich neuer Weltuntergang / Solide finanziert / Bild
und Ton brilliert / es funktioniert“, singt Wagner darin. [8][„Deutsch“
(2019)] klingt dagegen wie ein überfälliges Auskotzen angesichts der
rechtsextremen Hetze im Netz und auf den Straßen und derer, die sie dulden
(„Ich seh die Angst in deinen Augen / Du fieser Mob / Du lässt sie absaufen
/ Du Sau, du Sau / Du […] Bist besser als die Fremden / Die
Schwellenländer, die Bittsteller“).
Lediglich im Auftaktsong scheinen mal kleine Anzeichen von Humor
durchzuschimmern, wenn es heißt, dass es doch auch etwas gebe, das alle
Menschen verbinde – nur ist dies eben leider die „Gier“.
## Neuer Wagnerkult
Um Gewalt ist, mit freundlicher Mithilfe Wagners, ein regelrechter Kult
entstanden. Den rechtfertigt dieses Album nicht unbedingt, dazu setzt es
sich musikalisch nicht klar genug von den Industrial-Rock-Urviechern ab.
Und dennoch: So wie das lyrische Ich im Titelsong „Paradies“ dem Takt der
Maschine nicht entkommen und seinem Selbst nicht entrinnen kann, so kann
man sich auch als Hörer diesem Album nicht ganz entziehen.
Der Sound zieht einen in den Bann, man schwankt zwischen Lust und Ekel,
zwischen Faszination und Abscheu. Wenn Wagner wiederholt singt: „Du musst
stumpfer werden“, so findet sich das ja genau auch in der Musik wieder: Die
Songs berserkern roh vor sich hin, dazu hört man die durchweg
defätistisch-dystopischen Verse. Aber genau so soll und will diese Band
wahrscheinlich eben klingen.
7 Dec 2021
## LINKS
[1] /Zurueck-auf-der-Buehne/!5391897
[2] https://gewalt.bandcamp.com/track/paradies
[3] https://gewalt.bandcamp.com/album/paradies-lp1
[4] /Labelpleite-in-Berlin/!5146545
[5] /Noiserock-kommt-zurueck/!5286675
[6] https://youtu.be/EerTOgdPpIs
[7] https://youtu.be/aPtL6YbWYBk
[8] https://gewalt.bandcamp.com/track/deutsch
## AUTOREN
Jens Uthoff
## TAGS
Gewalt
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