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# taz.de -- Neuer Roman von Philipp Winkler: Einsame Wölfe im Darknet
> Philipp Winklers „Creep“ handelt von zwei Außenseitern, die im Internet
> unterwegs sind. Der Roman erzählt, wie Gewalt inszeniert wird.
Bild: Creep“ ist auch ein Roman über Sprache und (verfehlte) Kommunikation
Vielleicht kann man sich Philipp Winklers neuem Buch „Creep“, dessen
Handlung oft in den Hinterzimmern und Dunkelkammern des Internets spielt,
über seinen Titel annähern. Einerseits sind „Creepers“ (wörtlich unter
anderem Schlingpflanzen, Würmer; to creep = schleichen) im Netzkontext
Onlinestalker, die einem virtuell auf Schritt und Tritt folgen, aber nicht
mit einem in Kontakt treten. Spooky Gestalten.
Aber es gibt auch einen ganz konkreten Creeper, auf den der Autor sich in
dem Buch bezieht: Der bis heute ungeklärte Mord an der US-Amerikanerin
Missy Bevers 2016 in Texas in einer Kirche wurde vom sogenannten Church
Creeper begangen, der einen Hammer vor der Tat bei sich trug; der Fall ist
[1][zu einem True-Crime-Phänomen] im Netz geworden. [2][Beim Computerspiel
„Minecraft“] sind Creeper dagegen explodierende Monster. Und auch die
[3][allererste Malware] überhaupt hieß Creeper. 1971 war das, damals sagte
man eben noch Computerwurm dazu.
Diesem Niedlichkeitsstadium ist die virtuelle Welt längst entwachsen, und
davon handelt „Creep“. Es geht dem Autor unter anderem darum, wie reale und
virtuell dargestellte Grausamkeit einander gegenseitig beeinflussen und
bedingen. Winklers Protagonisten sind im Deep Web und Darknet unterwegs,
sie gucken sich in Foren Videos von Suiziden, Morden und anderen
Gewalttaten an – beziehungsweise streamen sie selbst.
„Creep“ erzählt also von all den üblen hochgeladenen Inhalten im Netz, di…
wie es an einer Stelle heißt, „Social Media Content Moderators auf den
Philippinen und in anderen vornehmlich fernöstlichen Ländern […] unter
sklavischen Arbeitsbedingungen und ohne die geringste Form von
psychologischer Vorbereitung oder Betreuung“ von den Plattformen wieder
entfernen müssen.
Die Handlung wird aus zwei Perspektiven erzählt: Da ist zum einen Fanni.
Fanni ist quasi im Internet sozialisiert worden, sie scheint seit dem
Teenageralter mit dem Laptop verwachsen, kennt alle frühen Subkulturen des
Internets. Sie arbeitet im Bereich Research & Development für eine Firma
namens BELL.
## Gewohnheitsmäßige Überwachung
Dieses Unternehmen hat Überwachungskameras in den Häusern ihrer Kunden
installiert und soll deren Sicherheit gewährleisten. Fanni schaut
gewohnheitsmäßig in die Wohnhäuser hinein, guckt, was die Familien in
Winsen an der Luhe, Pforzheim oder sonst wo machen. Ihren physischen Körper
nennt Fanni einen „Meat Prison“, dem sie vorgefertigte Nahrungsrationen
zukommen lässt.
Zum anderen ist da Junya. Junya lebt in der Präfektur Tokio, er träumt
eigentlich von einem Kunststudium, bekommt aber im jährlichen Turnus nur
Absageschreiben und lebt noch bei seiner Mutter. Junya ist gezeichnet vom
Mobbing, das er in der Schule erlebt hat, auch seine Mutter behandelte ihn
übel und zwang ihn mit Gewalt zum Unterricht. Nun begegnet er Masataka,
seinem alten Peiniger aus Schultagen. Der zieht ihn in einen Untergrundring
hinein, doch weiß er noch nicht, dass Junya ein landesweit gesuchter Mörder
ist.
Junya dringt in die Häuser seiner Opfer ein und erschlägt sie mit dem
Hammer, seinen ehemaligen Lehrer überrascht er im Schlaf und tötet ihn.
„Albtraum von Tama“ nennen sie ihn (Tama ist ein Vorort von Tokio, in dem
Junya aufwuchs). Aufzeichnungen seiner Taten stellt er unter seinem
Accountnamen Hammer_Priest ins Darknetforum.
## Genese von Gewalt
Philipp Winkler ist vor allem durch seinen 2016 veröffentlichten Roman
„Hool“ bekannt geworden, der in der Hooliganszene spielt und in dem es um
brutale Prügeleien in Wäldern, um männliche Rudel und deren
Reviermarkierungen geht. Schon in „Hool“ fiel auf, wie nah Winkler seinem
Sujet kommt, wie genau er recherchiert, wie punktgenau er beschreibt.
Diese Qualitäten zeichnen auch „Creep“ aus. Und während man eingangs noch
denkt, diese Bücher hätten – abgesehen davon, dass sie in extremen
Subkulturen spielen – nicht viel gemein, so ist natürlich die Genese von
Gewalt ein großes Thema in beiden.
Doch „Creep“ hat viele Ebenen, lässt viel Raum für Auseinandersetzung. Es
ist auch ein Roman über Sprache und (verfehlte) Kommunikation. Die
Fanni-Kapitel sind in der Sprache und mit den Codes erzählt, die in den
Netzsubkulturen und in ihrem Beruf verwendet werden.
Das hört sich dann so an: „Was Fanni am MonstroMart überzeugt hatte – neb…
dem vergleichsweise starken Fokus auf Data Dumps und Carding –, war der
Name des Marketplaces selbst bzw. der Humor hinter der Simpsons-Referenz,
den die Admins damit bewiesen. Sie gingen sogar die Extra Mile und
übernahmen den Slogan in den Seitenheader: MonstroMart – Where shopping is
a baffling ordeal. Fanni schätzte die Konsequenz. Immerhin riskieren die
Admins, potenzielle User_innen, die die Referenz nicht verstehen, damit
abzuschrecken. Außerdem kann man den Slogan natürlich auch als Metajoke
über die allgemeine Shoppingerfahrung im Dark Web betrachten.“ Ein
IT-Denglisch also.
## Mobbingopfer und Wolf zugleich
Auch das Gendern in den Fanni-Kapiteln ist auffällig, denn so konsequent
wie hier („der_die Kund_in“) sieht man das (noch) selten in Romanen.
Interessant, dass das nur in den Fanni-Kapiteln so ist. Beide, Fanni wie
Junya, haben überdies keine gemeinsame Sprache mehr mit der
Elterngeneration, was auch deshalb so ist, weil ihre Kommunikation viel
weniger mündlich und direkt stattfindet.
Das übergeordnete Thema aber ist wohl, wie die digitale Ära Gewalttaten und
deren Entstehung verändert. Die Figur Junya ist Mobbingopfer sowie „Lone
Wolf“ zugleich und zählt zu den Charaktertypen, wie sie in den vergangenen
Jahrzehnten oft für Attentate verantwortlich waren. Als die Polizisten
Junya am Ende zum Bezirksgericht führen (womit man nicht zu viel spoilert),
erscheinen dort seine zahlreichen Fans und Follower aus den Foren und von
den Social-Media-Plattformen. Sie jubeln ihm zu.
Dystopische Erzählungen dieser Art können manchmal platt und abgedroschen
geraten, vor allem, wenn die Haltung des Autors allzu klar mitschwingt (man
denke etwa an [4][Dave Eggers’ „The Circle“).] Dies ist in „Creep“ ni…
der Fall. Winkler gelingt eine tiefe Beschreibung der mit der digitalen Ära
einhergehenden neuen Inszenierungsmöglichkeiten von Gewalttaten.
## Moralfreie Räume
Es steckt sehr viel in diesem Buch, was uns als Gesellschaft beschäftigt
und noch beschäftigen wird: Mobbing und Cybermobbing, die Allgegenwart des
Streamings, Überwachung. Der vielleicht endgültige Verlust der Privatsphäre
und die gerade in Deutschland immer noch vorherrschende Naivität gegenüber
der virtuellen Welt. Oder die Existenz von moralfreien Räumen im Netz.
„Creep“ ist somit ein sehr gegenwärtiges Buch, für das sich gerade die
interessieren sollten, die die Sprache, die darin gesprochen wird, nicht
sofort verstehen.
22 Jan 2022
## LINKS
[1] https://www.truecrimeedition.com/post/missy-bevers
[2] /Psychologe-ueber-digitalen-Kulturwandel/!5303221
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Creeper_und_Reaper
[4] /Literatur-und-Selbstfindungsmodelle/!5035397
## AUTOREN
Jens Uthoff
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