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# taz.de -- Radikalisierung der Klimabewegung: Zerstören, was zerstört
> Ein Aktivist polarisiert mit der Prognose einer „grünen RAF“. Werden
> Kohlebagger bald beschädigt statt nur blockiert? Einiges spricht dafür.
Bild: Ist Sachbeschädigung ein legitimes Mittel?
Berlin taz | An einem grauen Februartag im Jahr 2016 entscheidet sich die
Klimabewegung, erst mal große Bilder zu schaffen statt gleich greifbare
Fakten. In einem kleinen Hörsaal der Technischen Universität in Berlin
beraten Aktivist:innen der Gruppe Ende Gelände über ihre zweite große
Aktion.
Um Pfingsten, so der Plan, würden Tausende Menschen in weißen Maleranzügen
in eine Grube des Lausitzer Kohlereviers strömen – aber sonst nichts. „Ich
kann mir vorstellen, dass sich viele hier im Raum einig sind, dass man
Braunkohleinfrastruktur sehr wohl beschädigen darf“, sagt einer. „Bei
dieser spezifischen Aktion soll es so etwas aber nicht geben.“
Und so wird es dann auch im Aktionskonsens festgehalten, dem gemeinsamen
verschriftlichten Selbstverständnis. Nicken kommt vor allem von einigen
Kohlegegner:innen aus der Lausitz, die dort schon jahrelang Brücken
bauen zwischen der Kohleregion und dem Rest der Klimabewegung. Die sollen
nicht eingerissen werden durch eine allzu kontroverse Aktion.
Die materiellen Kosten für klimaschädliche Konzerne hochtreiben oder auf
die Sympathie der breiten Öffentlichkeit bauen – das ist eine alte
Strategiefrage in der Klimabewegung. Aktuell kocht sie wieder hoch, nachdem
[1][der Ende-Gelände-Mitgründer Tadzio Müller] im [2][Interview] mit dem
Spiegel eine „grüne RAF“ prognostiziert hat.
## „Zwischen Irrelevanz und Militanz entscheiden“
Mit Fortschreiten der Klimakrise und mangelnder politischer Reaktion sei zu
erwarten, dass ein kleiner Teil der enttäuschten Klimaaktivist:innen
in den Untergrund gehe. Zuvor werde sich die Klimabewegung aber auch breit
radikalisieren, nicht nur demonstrieren und blockieren, sondern eben auch
zerstören.
„In der Klimakrise kann sich die Bewegung gerade zwischen Irrelevanz und
Militanz entscheiden“, meint der Aktivist, der zwar keine aktive Rolle mehr
bei Ende Gelände einnimmt, aber in der Klimabewegung generell gut vernetzt
ist. „Zerdepperte Auto-Showrooms, zerstörte Autos, Sabotage in
Gaskraftwerken oder an Pipelines. Das wird es nächsten Sommer auf jeden
Fall geben.“
Es ist wohl ein kommunikatives Experiment: Treibt die Warnung vor der
Klimabewegung Politik, Konzernchefs und Gesellschaft eher den Schweiß auf
die Stirn als die Angst vor der Klimakrise? Müller mit seinem bekannten
Faible für schillernde Auftritte, steile Thesen und scharfe Rhetorik hat da
durchaus einen anderen Ansatz als viele andere in der Szene, die solche
Fragen lieber hinter verschlossenen Türen diskutieren.
Auch die Diskussion aus dem Berliner Hörsaal zum Beispiel war ursprünglich
nicht für die Öffentlichkeit gedacht gewesen, wo sie aber kurz darauf
[3][trotzdem landete]. Eine ärgerliche Panne, dass der Termin
missverständlich als „Presse-Update“ über öffentliche Kanäle angekündi…
worden war, obwohl die Aktivist:innen damit nur die interne
Koordinierung ihrer eigenen Öffentlichkeitsarbeit meinten.
Jetzt wird die Bewegung zusammen mit Müller in zahlreichen Medien
auseinandergenommen, vor allem in konservativen bis rechten Publikationen.
WeltN24-Chefredakteur Ulf Poschardt sieht sich beispielsweise [4][in seiner
Annahme bestätigt], dass die Klimabewegung letztlich antidemokratische
Ziele verfolge.
Müller hingegen findet, dass die „friedliche Sabotage“ – [5][damit meint…
das Kaputtmachen von fossiler Infrastruktur], ohne Menschen bewusst zu
gefährden – legitim sei. „Wenn jemand ein Gaskraftwerk sabotiert oder Autos
zerstört, ist das mittlerweile Notwehr.“
## Politologin hält Radikalisierung für realistisch
Auch die Politikwissenschaftlerin Frauke Höntzsch von der Uni Augsburg
sagt: Ein Protest verliert nicht automatisch seine Legitimation, wenn die
Aktionsform illegal ist, selbst wenn es dabei um die Zerstörung von
Gegenständen geht.
„Aber es ist eine Frage der Perspektive“, schränkt die Forscherin ein, die
sich unter anderem mit politischem Widerstand, politischer Gewalt und
Terrorismus befasst. „Letztlich entscheidet die Öffentlichkeit darüber, ob
eine Sachbeschädigung in politischer Mission als gerechtfertigt gilt oder
nicht.“ Eine feste Grenze gebe es aber: „Planmäßig ausgeübte politische
Gewalt gegen Personen ist im demokratischen Rechtsstaat gleichbedeutend mit
Terrorismus“, sagt Höntzsch.
Die Radikalisierung der Klimaprotestbewegungen hält sie allgemein für „ein
realistisches Szenario“. Das gelte besonders für die Aktivist:innen von
Fridays for Future. „Sie haben bislang am meisten auf Kooperation und
Überzeugung gesetzt und dürften entsprechend am stärksten desillusioniert
sein – Greta Thunbergs Formulierung ‚Blablabla‘ deutet darauf hin“, so …
Wissenschaftlerin. [6][Mit „Blablabla“] hat die Gründerin der
Schulstreikbewegung in mehreren Reden [7][ihren Eindruck von der
internationalen Klimapolitik] zusammengefasst.
Tatsächlich gibt es Ortsgruppen von Fridays for Future, die immer stärker
darauf drängen, dass die Bewegung auch jenseits des Schulstreiks auf
zivilen Ungehorsam setzt. „Man hat über die letzten Jahre gesehen, dass es
nicht ausreicht, auf die Straße zu gehen“, sagt Jana V. von der Ortsgruppe
in Frankfurt am Main.
Die hatte im August den Rest der Bewegung [8][zu einem bundesweiten
Zentralstreik eingeladen], bei dem im Bankenviertel demonstriert und teils
auch blockiert wurde. Auch das Kaputtmachen von fossiler Infrastruktur
schließt V. künftig nicht aus. „Jetzt müssen wir auch materielle Schäden
verursachen, durch Zerstörung und Blockaden.“
Das sieht aber nicht die ganze Bewegung so. „Dass eine Radikalisierung bis
hin zu militanten Aktionsformen unausweichlich ist, da bin ich anderer
Meinung als Tadzio“, sagt Carla Reemtsma, Sprecherin von Fridays for Future
auf Bundesebene.
## Eine Absage an Sachbeschädigung? Fehlanzeige
„Wir erleben natürlich eine große Desillusionierung, nachdem wir als junge
Bewegung sehr viel geschafft, viele Menschen bewegt, den Diskurs komplett
verschoben haben – aber die Emissionen immer noch nicht ausreichend
sinken“, meint sie. Es gebe innerhalb von Fridays for Future aber nicht nur
eine, sondern ganz unterschiedliche Antworten darauf.
„Manche wollen sich tatsächlich stärker auf zivilen Ungehorsam fokussieren,
andere sich zusammen mit Arbeiterinnen und Arbeitern organisieren, und die
nächsten sagen, wir müssen in die Parteien“, berichtet Reemtsma. Auch für
sie geht es aber nicht darum, bei niemandem anzuecken. „Wenn wir von allen,
auch klimazerstörerischen Parteien oder Unternehmen, gemocht werden, sinkt
unser politischer Druck.“
Bei Ende Gelände, sozusagen Müllers klimaaktivistischer Heimat, äußert man
sich vorsichtig. Ob für das kommende Jahr wirklich Aktionen geplant sind,
bei denen die fossile Infrastruktur direkt angegriffen wird, will
Sprecherin Elia Nejem noch nicht preisgeben.
„Angesichts der Klimakrise finden wir es durchaus legitim, wenn Menschen
zerstörerische fossile Infrastruktur unschädlich machen“, sagt sie aber im
Allgemeinen. „Wir solidarisieren uns mit solchen Protesten, die
insbesondere im globalen Süden schon stattfinden.“ In Bezug auf die eigenen
Aktionen werde „kontrovers darüber diskutiert“, sagt Nejem.
Ein Blick in den neuesten Aktionskonsens zeigt jedoch: Dort steht zwar
noch, dass man keine Menschen gefährde. Eine Absage an Sachbeschädigung ist
aber nicht mehr zu finden.
30 Nov 2021
## LINKS
[1] /Radikalitaet-der-Klimabewegung/!5789719
[2] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/tadzio-mueller-wer-klimaschutz-v…
[3] https://www.pressreader.com/germany/neues-deutschland/20160215/281775628212…
[4] https://www.welt.de/politik/deutschland/video235225872/Ulf-Poschardt-Die-Kl…
[5] /Radikalitaet-der-Klimabewegung/!5789719
[6] /Greta-Thunberg-in-Mailand/!5801315
[7] /Klimagipfel-in-Glasgow/!5808885
[8] /FFF-Sprecherin-ueber-Banken-und-Klima/!5791055
## AUTOREN
Susanne Schwarz
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