# taz.de -- Aktivistin in der Politik: Vom Tagebau in den Bundestag | |
> Vor Kurzem hat Kathrin Henneberger noch Kohlebagger besetzt, jetzt will | |
> sie für die Grünen ins Parlament. Kann das funktionieren? | |
Bild: Tagebau Hambach, 2019: Luisa Neubauer, Greta Thunberg und Kathrin Hennebe… | |
AUS DEM DANNENRÖDER FORST UND LÜTZERATH taz | Als Kathrin Henneberger am | |
Abend hastig den Laptop aufklappt, klebt noch Matsch von der Tagebaukante | |
an ihren Sandalen. Eben erst hat die Klimaaktivistin ein | |
Mobilisierungsvideo fertig gedreht. Mit Luftaufnahmen per Drohne und | |
Handkamera, aufgenommen von einem professionellen Kameramann. | |
„Wir müssen das 1,5-Grad-Ziel einhalten und die Klimakrise stoppen“, hatte | |
sie den Tag über immer und immer wieder in die Kamera gesagt. Zuerst | |
freundlich, dann mit Nachdruck. So lange, bis Wut in ihrer Stimme zu hören | |
war. „Wir brauchen mehr Emotion.“ Henneberger, 34 Jahre alt, ist lange | |
genug in der Klimabewegung aktiv, um zu wissen, dass mit wissenschaftlichen | |
Fakten allein kaum jemand zu überzeugen ist. Stattdessen hat sie die Macht | |
von Bildern zu nutzen gelernt. | |
Die Kulisse, die sie für das Video gewählt hat, könnte kaum | |
symbolträchtiger sein: [1][der Tagebau Garzweiler im Rheinischen | |
Braunkohlerevier]. Ein gigantisches Loch in der Erde, kaum mehr als 50 | |
Kilometer von Köln entfernt. Seit Jahrzehnten baut RWE hier Braunkohle ab. | |
Mit 89 Millionen Tonnen CO2-Ausstoß pro Jahr ist der Energiekonzern Europas | |
größter CO2-Produzent. | |
Geht es nach Henneberger, soll damit so schnell wie möglich Schluss sein. | |
„Einfach mal abschalten“, sagt sie. Der aktuelle Plan sieht anders aus. Die | |
Bundesregierung will erst 2038 komplett auf Kohle verzichten. „Viel zu | |
spät“, sagt Henneberger. Auch deshalb müsse sie jetzt in den Bundestag. Als | |
[2][Aktivistin bei Ende Gelände] hat Henneberger in den vergangenen Jahren | |
die monströsen Kohlebagger von RWE in der Grube mitblockiert. Auch in | |
Polizeigewahrsam sei sie dabei geraten, sagt sie und grinst. „Bestimmt eine | |
Handvoll Male.“ | |
Zum Prozess gekommen sei es aber nie. Konkreter wird sie nicht. Aber ihr | |
Lächeln verrät: RWE eins auswischen, das Leben im Klimacamp, das ist die | |
Welt, in der sie zu Hause ist. Eine Aktivismusbubble, in der es viel | |
Idealismus, aber kaum inhaltliche Kompromisse in puncto Klimaschutz gibt. | |
Nun kandidiert sie bei der Bundestagswahl für die Grünen. Auf Listenplatz | |
20 in NRW. Für Henneberger bedeutet das: raus aus ihrer Komfortzone und | |
rein in eine Welt, in der machtpolitisches Kalkül und wirtschaftliche | |
Interessen von Bedeutung sind. Wie sie sich in der Politik schlagen wird, | |
falls ihr Plan gelingt, ist noch völlig offen. | |
In Umfragen liegen die Grünen derzeit zwischen 16 und 20 Prozent. Gemessen | |
daran ist Hennebergers Listenplatz sehr aussichtsreich. Was sie mitbringt, | |
ist die Street-Credibility, die sie sich in vielen Jahren des Protests | |
erarbeitet hat. Außerdem die Verankerung in der Klimabewegung, die es so in | |
dieser Tiefe bei den Grünen nicht mehr so oft gibt. | |
Henneberger könnte neue, jüngere Wähler:innen für die Grünen | |
mobilisieren. Auf sie zielt auch das eben gedrehte Video ab. Die Partei | |
profitiert von ihr. Aber wie viel wird sie von sich aufgeben müssen, um | |
politisch erfolgreich zu sein? Und wie viele Kompromisse wird die Bewegung | |
ihr verzeihen? | |
Mit ihrer Kandidatur gehört Henneberger zu einer neuen Generation von | |
Grünen, die ins Parlament drängen. Sie sind aktivistisch, meist zwischen | |
zwanzig und Mitte dreißig und – wenn es gut läuft – auch 2070 noch am | |
Leben. Wie dringlich die Klimafrage für diese Generation ist, hat kürzlich | |
auch noch einmal der Bericht des Weltklimarats deutlich gemacht. | |
Er sei erwartbar gewesen, sagt Henneberger, die seit Jahren auf | |
internationalen Klimakonferenzen dabei ist. „Wir erleben ja seit Langem, | |
dass Vorhersagen, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basieren, viel | |
schneller eintreffen als gedacht.“ | |
Was sie in solchen Momenten empfinde, sei weder Trauer noch Verzweiflung. | |
„Die Emotion, die ich habe, ist eiskalte Wut.“ Um sie zu kanalisieren, | |
mache sie Politik. | |
Henneberger sagt, sie wolle sich noch nicht mit konkreten Strategien | |
befassen. Jetzt sei erst mal Wahlkampf angesagt. Es ist Mitte August, und | |
sie wird gleich zum ersten Mal auf die Direktkandidat:innen der | |
anderen Parteien treffen. Ihr Wahlkreis ist Mönchengladbach. Dazu gehören | |
auch die Dörfer um den Tagebau. | |
## Zu Besuch in Lützerath | |
Etwas außer Puste hat sie sich in Lützerath in einen abgewetzten Sessel | |
auf die Terrasse gesetzt. Hinter ihr eine alte Villa, drumherum der Garten, | |
ein veralgter Pool, hohes Gras. „Chill Zone“, steht auf einem selbst | |
gemalten Schild. Aber Kathrin Henneberger kann nicht chillen. Sie muss | |
gleich ins Netz, um dort online zu diskutieren. | |
Die Terrasse, auf der Henneberger hektisch in ihren Mails nach dem | |
Zugangslink sucht, befindet sich in einem Ort direkt an der Abbruchkante | |
des Tagebaus Garzweiler. Geht es nach dem Konzern, soll das Dorf in diesem | |
Jahr weichen. Das wollen die Klimaaktivist:innen verhindern und haben | |
eine Mahnwache errichtet. Außen herum ist ein buntes Protestcamp gewachsen. | |
Zelte, Wohnwagen, Baumhäuser. Lagerfeuer, Komposttoilette und Soliküche. | |
Hier, in Lützerath, sagt Henneberger, sei mittlerweile ihr | |
Lebensmittelpunkt. Den letzten Sommer habe sie hier im Zelt gewohnt. | |
Mittlerweile hat sie in einer nahen Kleinstadt mit Bahnhof eine Wohnung. Um | |
sich bei der „Lohnarbeit“ besser konzentrieren zu können und um mobiler zu | |
sein, wie sie sagt. So oft sie kann, steige sie aber aufs Rad und fahre | |
über die Feldwege nach Lützerath. | |
Hastig stöpselt sie sich die Kopfhörer ins Ohr und schaltet die Kamera ein. | |
Der Verein Mehr Demokratie e. V. hat die Direktkandidat:innen zu der | |
Diskussionsrunde eingeladen. Es geht um Bürger:innenräte und darum, ob | |
zufällig ausgeloste Bürger:innenversammlungen demokratische Prozesse | |
bereichern können. | |
„Ich will ein bisschen pöbeln“, sagt Henneberger. Aber als der Moderator | |
sie bittet, die Einstiegsfrage zu beantworten, bricht gerade die | |
Internetverbindung ab. „Mist“, sagt Henneberger genervt und läuft eilig ins | |
Haus auf der Suche nach besserem Netz. Im Klimacamp ist das Internet | |
instabil. | |
Henneberger ist in der Umwelt- und Klimabewegung groß geworden. [3][2018 | |
und 2019 war sie eine der Pressesprecherinnen von Ende Gelände.] Das | |
Bündnis hat seit 2015 zivilen Ungehorsam in den Braunkohlerevieren im | |
Rheinland und in der Lausitz organisiert. Auch die Baumbesetzungen im | |
Hambacher und Dannenröder Forst hat es unterstützt. Henneberger sagt, sie | |
habe damals viel Zeit im Hambi verbracht. Im regenbogenfarbenen | |
Einhornkostüm hat sie Bäume besetzt. | |
Was die derzeit größte Gefahr für die Demokratie sei, will der Moderator | |
wissen, als Henneberger wieder zugeschaltet ist. Die Kandidat:innen von | |
CDU, SPD und FDP verweisen auf den zunehmenden Rechtspopulismus. Dann ist | |
Henneberger an der Reihe. „Für mich sind der Einfluss der fossilen | |
Industrie auf die Politik und die Kriminalisierung von | |
Klimaaktivist:innen das größte Problem“, sagt sie. „Ebenso wie eine | |
Politik, die weder auf die Forderungen der jungen Generation noch auf die | |
Expertise der Wissenschaftler:innen in Bezug auf den Klimawandel | |
hört.“ | |
Der Moderator bedankt sich höflich, Hennebergers Worte verhallen | |
unkommentiert. Günter Krings, der Kandidat der CDU, parlamentarischer | |
Staatssekretär im Bundesinnenministerium und seit 2002 Mitglied im | |
Bundestag, lässt sich die gesamte Veranstaltung über nicht von ihr | |
provozieren. Er wird das Thema Klimaschutz bis zum Ende kein einziges Mal | |
erwähnen, obwohl sie immer wieder darauf zu sprechen kommt. | |
„Das ist das Problem an Onlinepodien“, sagt Henneberger später. „Wenn man | |
sich nicht gegenübersitzt, kann man nicht gut aufeinander reagieren.“ Dazu | |
die technischen Probleme. Es entsteht kein Dialog. Henneberger sagt, an | |
Diskussionen habe sie eigentlich Spaß. „Ich saß als Grüne Jugendsprecherin | |
schon auf unglaublich vielen Podien und habe mich mit anderen Kandidaten | |
oder Parteijugendvorsitzenden gezofft.“ | |
Durch Corona sei der Wahlkampf anders. „Lahmer“, sagt Henneberger. „Das | |
empfinden wir alle so.“ Viele Podien seien gar nicht erst geplant worden, | |
die klassischen Bratwursttermine auf Volksfesten oder in Einkaufspassagen | |
fänden nicht statt. Die Folge ist, dass Henneberger bis dato kaum auf | |
politische Kontrahent:innen gestoßen ist. Auch Wähler:innen, die es zu | |
überzeugen gilt, hat sie bisher kaum gesprochen. | |
Wahlkampfstände, sagt Henneberger, seien sowieso nicht so ihr Ding. „Wenn | |
ich länger als eine halbe Stunde irgendwo stehen muss, schlafe ich ein.“ | |
Sie ziehe es vor, in Mönchengladbach Flyer zu verteilen. „Eine Erinnerung | |
daran, zur Wahl zu gehen, mehr wollen die meisten Menschen nicht.“ Ihr | |
Thema macht derzeit sowieso ganz von alleine PR. Welche Auswirkungen der | |
Klimawandel haben kann, hat Anfang Juli die Flutkatastrophe in | |
Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz deutlich gemacht, bei der mehr als | |
180 Menschen ums Leben gekommen sind. | |
„Eine andere Welt ist möglich“, ist Hennebergers Wahlkampfslogan. Ihr | |
Plakat erinnert an die Plakate von [4][Hans-Christian Ströbele]. Bunt, | |
gezeichnet, ein großer Regenbogen, ein Einhorn, das auf einem Kohlebagger | |
tanzt. Baumhäuser, eine inklusive Gruppe Menschen mit Transparenten, die | |
hinter ihr stehen. Ein Gegenentwurf zu den sonst üblichen Konterfeis. | |
„Ich finde es total komisch, mein Foto überall hängen zu sehen“, sagt | |
Henneberger. „So gezeichnet ist das gleich viel weniger cringe.“ Anders als | |
bekannte Fridays-for-Future-Aktivist:innen ist Henneberger keine typische | |
Influencerin. Instagram beherrscht sie mit knapp 1.500 Followern nicht | |
besonders gut. Ihre Stärke ist das Netzwerken. Dass dann andere stärker im | |
Vordergrund stehen, scheint sie nicht zu stören. | |
Ströbele, sagt Henneberger, sei für sie eine Inspiration. „Er hat einfach | |
immer stabile Politik gemacht.“ Von 2002 bis 2013 holte er als einziger | |
Bundestagsabgeordneter der Grünen in vier Wahlen in Folge das Direktmandat. | |
In den Jahren der rot-grünen Bundesregierung war er einer der härtesten | |
parteiinternen Kritiker von Joschka Fischers Außenpolitik. „Ströbele wählen | |
heißt Fischer quälen“, lautete 2002 sein Wahlkampfslogan. Verhindern konnte | |
er die Zustimmung seiner Partei zu den Kriegseinsätzen der Nato im Kosovo | |
und der Bundeswehr in Afghanistan letztlich nicht. Wird das auch | |
Hennebergers Rolle sein? Viel mahnen, aber nicht gestalten? Ein | |
aktivistisches Feigenblatt für grüne Realpolitik? | |
Henneberger lacht die Frage erst weg. Dann wählt sie ihre Worte mit | |
Bedacht. „Ich komme aus einer ganz anderen Generation, aus einer ganz | |
anderen Bewegung und aus einem ganz anderen Struggle als Christian | |
Ströbele“, sagt sie. „Und für die Rolle als Feigenblatt bin ich wirklich | |
viel zu unbequem.“ | |
Hennebergers Biografie ist durch und durch politisch. Aufgewachsen ist sie | |
in der Kölner Südstadt, „im Schatten der Ölraffinerien von Shell“, wie s… | |
erzählt, in einem Haushalt ohne Fernseher, mit einer älteren Schwester, die | |
sich als Wissenschaftlerin mit der Klimakrise befasst. Der Vater war | |
Restaurator, die Mutter Kunsthistorikerin. „Linksgrün versiffte | |
Gutmenschen“, sagt Henneberger und grinst. Mit 13 schloss sie sich einer | |
Kölner Jugendgruppe von Greenpeace an. Dort habe sie gelernt, Kampagnen und | |
Proteste zu organisieren. | |
Mit 15 trat sie der Grünen Jugend in Köln bei. „Hier durfte ich sein, wer | |
ich bin“, sagt sie, „eine queere Teenagerin, die die Rahmenbedingungen | |
ändern will.“ 2007 wurde sie in den Bundesvorstand der Grünen Jugend | |
gewählt. 2008 war sie dessen Sprecherin. Zu einer Zeit, als die Grünen für | |
Hartz IV stimmten, für eine Beteiligung am US-amerikanischen „war on | |
terrorism“ in Afghanistan und einen Kompromiss beim Ausstieg aus der | |
Atompolitik, der von vielen in der Klimabewegung heftig kritisiert wurde. | |
2009 trat Henneberger dann nicht mehr an. „Ich hatte damals das Gefühl, | |
dass ich in der Politik in Sachen Klimaschutz nicht viel erreichen kann, | |
auch weil es keine starke Bewegung gab“, sagt sie heute. Sie kehrte der | |
Parteipolitik den Rücken und radikalisierte sich. | |
Im selben Jahr mobilisierte sie für die UN-Klimakonferenz in Kopenhagen. | |
Dort habe sie den Glauben daran verloren, dass Politiker:innen | |
vernünftig handeln. Während viele die noch junge Klimabewegung verließen, | |
habe sie gedacht: „Okay, Leute. Strategiewechsel.“ | |
Dieser Strategiewechsel war Ende Gelände. Gezielter ziviler Ungehorsam mit | |
klarem Fokus auf ein Thema, medienwirksam inszeniert. „Die Bilder, die wir | |
hier produziert haben, Tausende in der Kohlengrube, die gingen um die | |
Welt“, sagt Henneberger. Es sei dem Bündnis zu verdanken, dass Kohlekraft | |
in der Klimadebatte mittlerweile problematisiert werde. Ganz bewusst lobt | |
sie sich nicht allein, sondern nennt sich Teil des Kollektivs. Sie braucht | |
den Rückhalt aus der Bewegung, die Kraft der Straße, wenn sie im Parlament | |
etwas erreichen will. | |
Jetzt also wieder ein Strategiewechsel: zurück in die Politik. Statt | |
Stimmung zu machen, will sie jetzt um Stimmen kämpfen. Diesmal sei es | |
weniger Frust, der sie antreibt, sagt Henneberger. Vielmehr sei der Wechsel | |
in die Politik der nächste logische Schritt. „Die Bewegung ist stark, wir | |
haben die Fridays, die einfach nur rocken, mich braucht es hier nicht | |
mehr“, sagt sie. „Was jetzt fehlt, sind Menschen in den Parlamenten, die | |
sich von der Bewegung pushen lassen und versuchen, stabil für deren Ziele | |
zu kämpfen.“ | |
In der Partei sei ihre Kandidatur nicht allen recht. Namen nennen will sie | |
nicht. Nur so viel: Einzelne hielten sie wohl für zu emotional. Wieder | |
lacht sie. Viele Grüne fremdeln mit der radikalen Klimabewegung. Ebenso wie | |
die Klimabewegung mit der Partei. Grund dafür ist auch [5][die Rodung im | |
Dannenröder Forst.] In der schwarz-grünen Koalition agierten die hessischen | |
Grünen machtpolitisch und regelkonform. Der umstrittene Ausbau der A49 ist | |
im Koalitionsvertrag verankert. [6][Der grüne Verkehrsminister Tarek | |
Al-Wazir beharrte darauf.] | |
In der Klimabewegung sehen viele die Grünen deshalb als Verräter. Eine | |
Aktivistin, die aus der Bewegung zu den Grünen wechselt, hat womöglich | |
keinen leichten Stand. Auch auf diese Diskussion lässt Henneberger sich | |
nicht ein. Spaltungen? Gibt es in ihrem Universum offiziell nicht. Der | |
Eindruck, den sie vermitteln will, ist der von Schulterschluss und | |
Solidarität. „Sweet“ ist ein Wort, das sie häufig verwendet, egal ob sie | |
von der Bewegung oder von ihren Parteikolleg:innen spricht. „Alle ganz | |
sweet.“ | |
Anderntags am Telefon mit einem von Hennebergers Parteikollegen hört sich | |
das anders an. „Der Dannenröder Wald ist die Geschichte eines abgebrochenen | |
Dialogs“, sagt Sven Lehmann. Er wolle die hessischen Grünen nicht nur | |
verteidigen, fügt er an. „Die haben ihren Anteil daran.“ Aber es sei auch | |
schwierig, den Dialog aufrechtzuerhalten, wenn man als Abgeordneter | |
beschimpft wird, weil es in den Verhandlungen nur für einen Kompromiss | |
gereicht habe. | |
Lehmann ist sozialpolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag und kennt | |
Henneberger noch von der Arbeit bei der Grünen Jugend in Köln. Er sagt, an | |
ihrer Person werde deutlich, wie wichtig eine glaubwürdige und effektive | |
Brücke sei, die zwischen Politik und Bewegung kommuniziere. Dass der Dialog | |
zwischen Bewegung und Grünen 2018 im Hambacher Wald nicht abgebrochen sei, | |
habe auch mit ihr zu tun. | |
Mehrfach sei er, ebenso wie andere Politiker:innen, als parlamentarischer | |
Beobachter mit Henneberger im Wald gewesen. „Sie hat uns immer wieder | |
eingeladen, mit Aktivist:innen bekannt gemacht und dafür gesorgt, dass | |
wir uns für deren Anliegen einsetzten.“ Das habe nicht nur bei ihm | |
funktioniert. | |
Wie Henneberger ihre Rolle als Politikerin versteht, lässt sich an einem | |
kalten Morgen Anfang Dezember beobachten, zehn Monate vor der | |
Bundestagswahl. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen. Die Temperatur liegt | |
unter null. Eine Gruppe von 15 Menschen wartet zu Beginn eines verschneiten | |
Feldwegs in der Dunkelheit, dick eingepackt in mehrere Schichten | |
Wintersachen. Ihr Atem gefriert in den dünnen Lichtkegeln der Stirnlampen. | |
## Zu Besuch im Dannenröder Forst | |
Der Feldweg führt hinein in den [7][Dannenröder Forst], zu den | |
Baumhausdörfern der Klimaaktivist:innen, die die Rodung des Waldes und den | |
umstrittenen Ausbau der A 49 zwischen Kassel und Gießen verhindern wollen. | |
Oder zu dem, was Anfang Dezember noch davon übrig ist. | |
Die Menschen, die hier am Waldrand warten, sind keine Baumbesetzer:innen. | |
Sie sind – wenn man so will – Teil der klima- und umweltaktivistischen | |
Prominenz, Menschen mit Reichweite auf Social Media und darüber hinaus. | |
Fridays-for-Future-Sprecherin Luisa Neubauer ist dabei, Autor Peter | |
Wohlleben, die Vorstände von Greenpeace, Campact, BUND und Germanwatch. | |
Fast alle sind zum ersten Mal im „Danni“. Eine Räumung durch die Polizei, | |
wie sie zu erwarten ist, haben die wenigsten schon mal mitgemacht. | |
Die Unterhaltungen sind gedämpft, als Kathrin Henneberger dazustößt. | |
Hennarotes Haar, eisblaue Augen. Eine blaue, selbst gestrickte Wollmütze. | |
Wegen Corona eine Stoffmaske mit Einhörnern drauf. Kurz sucht ihr Blick | |
nach dem Gesicht von Luisa Neubauer. Unter Mütze, Kapuze, Maske und Schal | |
ist es kaum auszumachen. Ein paar geflüsterte Worte. Dann formt die Gruppe | |
einen Kreis. „Ich bin Katze“, sagt Henneberger und lächelt verschwörerisch | |
in die Runde. „Ich mache hier manchmal so lustige Dinge im Wald.“ | |
Wenig später folgt die Gruppe dem roten Licht ihrer Stirnlampe. Henneberger | |
hat den action part des Ausflugs organisiert. „Freunde zusammenführen“, | |
nennt sie das. Dabei ist dieser Besuch sehr genau kalkuliert. Auch eine | |
Presseerklärung ist geplant. | |
„Kathrin ist gut vernetzt und hat einen Blick für den richtigen Move im | |
richtigen Moment“, sagt Ruben Neugebauer Monate später via Zoom. Neugebauer | |
hat Sea-Watch mitgegründet und ist Sprecher der NGO. Er war außerdem | |
Hennebergers Mitbewohner in ihrer 6er-WG in Berlin-Neukölln, in der sie für | |
Hauptstadtbesuche nach wie vor ein Bett im unbeheizten Wintergarten stehen | |
hat. | |
Henneberger habe eingefädelt, dass FFF-Sprecherin Luisa Neubauer und | |
Seenotrettungskapitänin Carola Rackete zusammen einen Gastbeitrag für den | |
Spiegel verfassten, sagt Neugebauer. Außerdem habe sie Greta Thunberg im | |
August 2019 in den Hambi geholt. Luisa Neubauer bestätigt das: „Kathrin | |
schrieb mir damals: ‚Kannst du nicht mal Greta in den Hambi einladen?‘ Ich | |
war so: ‚Kathrin, please!‘ Aber als ich mit Greta beim Frühstück saß, ha… | |
ich sie gefragt: ‚Greta, the people from the Hambach Forest are inviting | |
you.‘ Gretas Antwort: ‚Great! Let’s go.‘ “ | |
„Das war für die Klimabewegung wahnsinnig wichtig“, sagt Neugebauer. „Da… | |
hat Kathrin die Reihen der radikalen Teile und Fridays for Future | |
solidarisch geschlossen.“ Die Bild titelte am nächsten Tag: „Greta Thunberg | |
im Hambacher Forst: Vermummte führt Klima-Kids durch besetzten Wald“. | |
Gretas Besuch im Hambi machte klar, dass sich die Klimabewegung nicht | |
spalten lässt. | |
Pyrotechnik, Gewaltbereitschaft, Landfriedensbruch. Derartige Vorwürfe von | |
konservativer Seite ist Henneberger als ehemalige Ende-Gelände-Sprecherin | |
gewohnt. Sie rollt mit den Augen, wenn sie dazu befragt wird. „Das sind | |
Versuche, die Bewegung zu kriminalisieren, um nicht über Inhalte sprechen | |
zu müssen.“ Henneberger lässt sich davon nicht beirren. Ruft | |
Journalist:innen vor großen Ereignissen persönlich an. Ist erreichbar, | |
teilt Infos, vermittelt Protagonist:innen. | |
Luisa Neubauer sagt, sie habe Henneberger zum ersten Mal auf der | |
RWE-Hauptversammlung im Mai 2019 wahrgenommen. Henneberger war der | |
Einladung der Kritischen Aktionäre gefolgt. | |
Vier Minuten lang rechnete sie dort mit dem Energiekonzern ab. „Eure | |
Verantwortungslosigkeit werden wir euch nicht mehr durchgehen lassen“, rief | |
sie ins Mikrofon, während das Raunen im Saal immer lauter wurde. „Ich kann | |
nicht tatenlos zusehen, wie ihr zerstört, und deswegen stelle ich mich | |
zusammen mit Tausenden anderen vor eure Kohlebagger und stoppe sie. Wir | |
sehen uns in der Grube!“ Seitdem hat sie bei RWE Hausverbot. | |
Innerhalb der Klimabewegung gibt es aber auch Stimmen, die ihren Aktivismus | |
bei Ende Gelände kritisch sehen. Henneberger sei schon immer mehr | |
Parteipolitikerin gewesen, sagt eine Person, die sie aus ihrer Zeit bei dem | |
Bündnis kennt. Das habe mit Klimagruppen im Rheinland immer wieder zu | |
Konflikten geführt. Ins Detail gehen will die Person nicht. Die Solidarität | |
überwiegt auch hier. Aber sie sagt, Henneberger habe sehr genaue | |
Vorstellungen, die sie durchsetzen wolle, und das passe oft nicht zur | |
kollektivistischen Bewegungsarbeit. Gebe es keinen Konsens, arbeite sie | |
einfach alleine weiter daran. | |
Um halb acht erreicht die von ihr angeführte Gruppe das verschneite Camp im | |
Dannenröder Wald. Im Morgenlicht ragen die noch verbliebenen Bäume in den | |
Himmel. Die letzten vier Baumhäuser hängen verloren in den Wipfeln. Weiter | |
unten haben sich Aktivist:innen mit Klettergurten und Seilen an die | |
Stämme geschnallt. Eine halbe Stunde später kommt die Polizei. Eine | |
Hundertschaft in schwarzen Uniformen und weißen Helmen umstellt zügig das | |
mit Brettern und Müll verbarrikadierte Camp. Im Baum kräht jemand die | |
Titelmelodie von „Star Wars“ in ein Megafon. Der Kampf beginnt. | |
Die Besucher:innengruppe um Henneberger kniet sich noch schnell für | |
ein paar gute Bilder in den Matsch. Dann rettet sie sich auf ein Podest, um | |
abzuwarten, was passiert. Als Luisa Neubauer von einem Aktivisten | |
aufgefordert wird, symbolisch ebenfalls einen Baum zu besetzen, nimmt | |
Henneberger sie in Schutz. „Lass dir nichts einreden“, sagt sie. „Jeder | |
soll machen, wonach er sich fühlt.“ | |
Ihre Verwurzelung in der radikalen Klimabewegung mache einzelne Grüne | |
nervös, sagt Henneberger. Befürchtet werde ein Joschka-Fischer-Moment, eine | |
öffentliche Debatte zu ihrer Vergangenheit, in der die Legitimation von | |
Gewalt zum Thema werde. Das bestätigt auch die NRW-Landesvorsitzende der | |
Grünen, Mona Neubaur. „Dieser Bundestagswahlkampf ist ein Lagerwahlkampf: | |
Alle politischen Mitbewerber gegen die Grünen“, sagt sie am Telefon. | |
„Natürlich ist es da wichtig, gut vorbereitet zu sein.“ Sie stehe | |
diesbezüglich mit Henneberger im Austausch. | |
„Für uns Grüne ist vollkommen klar, dass wir Straftaten nicht als Mittel | |
zur Durchsetzung politischen Willens sehen“, sagt Neubaur. Henneberger | |
sagt, sie mache sich keine Sorgen. „Ich bin schon sehr viel geschubst | |
worden von der Polizei, und vermutlich könnte es eine mehrstündige Doku | |
darüber geben, wie ich mit der Polizei diskutiere, aber was Krasseres habe | |
ich nie gemacht.“ | |
Den Listenplatz in NRW habe sie sich hart erarbeiten müssen, sagt | |
Henneberger. „So sehr wie um diesen Platz habe ich noch nie gekämpft.“ | |
Eigentlich habe sie auf einen besseren gehofft. So sei es mit den | |
Kreisverbänden abgesprochen gewesen. Als dann andere weibliche | |
Kandidatinnen nach vorne drängten, wich sie auf einen der „offenen Plätze“ | |
aus. Bis zum Schluss habe sie mit einer männlichen Gegenkandidatur rechnen | |
müssen. Doch sie habe Druck gemacht. Am Ende sei der Mann nicht gegen sie | |
angetreten. | |
Henneberger sagt, sie wolle vor der Wahl weder über Koalitionen noch über | |
mögliche Kompromisse spekulieren, aber ihre präferierte Konstellation sei | |
„eine progressive, linke Koalition“. Will heißen Rot-Rot-Grün. „Man sagt | |
immer: Damit kann man die progressivste Politik machen, aber mit | |
Wagenknecht und der SPD wird das trotzdem nicht leicht.“ | |
Armin Laschets Politik, die sie aus NRW gut kennt, nennt sie „desaströs“. | |
Sie deutet in Richtung Tagebaukante. „Wenn wir uns 150 Meter von uns | |
entfernt anschauen, wie Laschets Politik einfach alles zerstört, dann sind | |
das keine schönen Aussichten.“ Wie sie mit dieser Haltung eine | |
schwarz-grüne Koalition mittragen könnte? „Das frage ich mich auch.“ | |
Wenn Henneberger über ihre zukünftige Arbeit im Parlament spricht, klingt | |
das, was sie sich vorgenommen hat, ganz einfach. „Mein Büro wird das Büro | |
der Bewegung sein“, sagt sie. „Was ich im Parlament mache, das will ich | |
sehr eng mit der Bewegung absprechen, weil wir eine Familie sind.“ Dass sie | |
damit Partikularinteressen vertritt, sieht sie nicht als Problem. Im | |
Gegenteil: „Wer vertritt denn die Menschen in den Dörfern um den Tagebau, | |
die bleiben wollen? Wer vertritt die jungen Menschen, die auf die Straße | |
gehen und noch nicht wählen können?“ | |
„Im Parlament werden politische Entscheidungen ausgehandelt, die für die | |
gesamte Gesellschaft gelten, also auch für die Wirtschaft und die | |
Industrie“, sagt Sven Lehmann, ihr Weggefährte aus Köln, seit 2017 für die | |
Grünen im Bundestag. Ohne Kompromisse gehe das nicht. Henneberger hält | |
dagegen. „Diejenigen, die im Bundestag die Interessen der fossilen | |
Industrie verteidigen, haben auch nicht alle Menschen im Blick.“ Sie stehe | |
wenigstens dazu, wessen Vertreterin sie sei. | |
Läuft alles nach Plan, ist Henneberger nicht allein. Mehr als 70 Menschen | |
unter 35 Jahren kandidieren in diesem Jahr auf grünen Landeslisten für den | |
Bundestag. Das sind mehr als in den anderen Parteien. Henneberger sagt, sie | |
habe längst begonnen, sich zu vernetzen. Karl Bär, 36 Jahre, der auf | |
Listenplatz 12 in Bayern antritt, hat Henneberger im Klimacamp in Lützerath | |
besucht. Er setzt sich für ökologische Landwirtschaft ein und kämpft gegen | |
Ackergifte. Ebenso Jan-Niclas Gesenhues, der grüne Kandidat aus dem | |
Münsterland, Listenplatz 8. „Absoluter Biodiversitätsexperte“, sagt | |
Henneberger. | |
„Meine Bezugsgruppe“, nennt sie die Truppe scherzhaft. Man habe vereinbart, | |
sich im Bundestag inhaltlich zu unterstützen. „Das ist für mich hier alles | |
keine Egoshow.“ | |
4 Sep 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Braunkohlerevier-in-NRW/!5788360 | |
[2] /Klimaprotest-gegen-Fluessiggasterminal/!5786229 | |
[3] /Verheerendes-Kohlegesetz-der-Bundesregierung/!5696972 | |
[4] /Hans-Christian-Stroebele-wird-80/!5598508 | |
[5] /A49-in-Hessen/!5790093 | |
[6] /Nach-der-Raeumung-des-Dannenroeder-Forstes/!5756251 | |
[7] /A49-in-Hessen/!5790093 | |
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Marlene Halser | |
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Reemtsma. | |
Klimacamp vorübergehend abgehängt: Kein Klimastreik zur Kirchenzeit | |
Seit einer Woche campen Klimaaktivist*innen direkt vor dem Rathaus in | |
Hannover. Am Sonntag rückte die Polizei an und entfernte Plakate. | |
Grünen-Wahlkämpferin Baerbock: Irgendwie dabei | |
Grünen-Co-Chefin Baerbock will Kanzlerin werden. Sagt sie. Doch | |
SPD-Kandidat Scholz führt die Umfragen an, Baerbock steht nur auf Platz | |
drei. Und nun? | |
Wahlprogramme der Parteien: Die Qual der Klimawahl | |
Wirklich konsequente Klimaprogramme hat keine der großen Parteien im | |
Angebot. Die Pläne der Grünen sind da noch am konkretesten. | |
Umweltministerin auf Abschiedstour: Die Macht der Machtlosen | |
Svenja Schulze ist als Umweltministerin enorm erfolgreich gewesen. Doch die | |
Hochwasserkatastrophe zeigt, wie wenig ihr Amt ausrichten kann. |