# taz.de -- Hans-Christian Ströbele wird 80: Politik ist sein Marihuana | |
> Er gewann als erster Grüner ein Direktmandat im Bundestag. Christian | |
> Ströbele ist ein Einzelgänger, der das Kollektive schätzt. | |
Bild: Immer im Gespräch: Hans-Christian Ströbele bei der Hanfparade 2014 | |
BERLIN taz | Er ist immer da. Wahrscheinlich hat in den letzten 50 Jahren | |
niemand so viel Zeit auf Demos verbracht wie er. Immer in einer | |
Doppelrolle, wie schon 1968, als Aktivist und Anwalt. Wenn es in | |
Berlin-Kreuzberg Krach zwischen Autonomen und Hausbesitzern gab oder | |
zwischen Demonstranten und Polizei, vermittelte er. Irgendwann fingen sogar | |
rechte Boulevardzeitungen an, freundlich über ihn schreiben. Er gehört | |
dazu, wie ein Wahrzeichen. | |
Christian Ströbele war, solange er im Bundestag war, der Abgeordnete von | |
nebenan, fast immer freundlich, ansprechbar, offen. Teenager machten | |
Selfies mit ihm auf der Oranienstraße. Die einst alternative Mittelschicht | |
mit ihren eleganten Altbauwohnungen wählte ihn sowieso, die | |
Hartz-IV-Klientel auch, weil er Anti-Establishment war. Er hatte einen | |
Draht zu allen und hörte sich geduldig auch die kleinsten Alltagsprobleme | |
an. Ströbele in Kreuzberg – das war die Erfüllung des alten linken Traums, | |
nicht die Minderheit zu sein, sondern das Volk zu vertreten, das die 68er | |
einst so unermüdlich für sich reklamiert hatten. Fast ein Klischee. | |
„Politik“, sagt er, „kann aufputschen, wie eine Droge“. Er trinkt nicht, | |
raucht nicht. Politik ist sein Marihuana – vom Gespräch über | |
Jobcenter-Sorgen bis zum Treffen mit Whistleblower Edward Snowden in | |
Moskau, das zum global wahrgenommenen Scoop wurde. | |
## „Ich schäme mich für mein Land“ | |
Noch ein Auftritt hat ihn bekannt gemacht. Am Abend des 24. März 1999 | |
bombardieren Bundeswehr-Tornados zusammen mit anderen Nato-Jets Ziele in | |
Serbien. Der Kosovokrieg hatte begonnen. Der erste Krieg mit deutscher | |
Beteiligung seit 1945, ausgerechnet unter einer rot-grünen Regierung. | |
Am nächsten Morgen, dem 25. März um neun Uhr, rutscht Ströbele, nervös und | |
zittrig vor Empörung, auf seinem Sitz herum. Er hat in der Nacht zuvor kaum | |
geschlafen. Im Bundestag steht ein Entwurf zur Änderung des | |
Bundesausbildungsförderungsgesetzes auf dem Programm. Die Bundeswehr | |
bombardiert, der Bundestag tut, als sei nichts geschehen. | |
Ströbele ist fassungslos. Er geht, in einem wie so oft zu großen Sakko, an | |
das Pult und wendet sich, obwohl er eigentlich nur zur Geschäftsordnung | |
sprechen darf, gegen den Einsatz. „Es ist unwürdig für dieses Haus, dass | |
Deutschland nach 54 Jahren seit gestern Abend wieder Krieg führt und dass | |
sich dieser Bundestag weigert, darüber zu reden. Das ist ungeheuerlich. Ich | |
schäme mich für mein Land, das jetzt wieder im Kosovo Krieg führt und das | |
wieder Bomben auf Belgrad wirft.“ Die PDS applaudiert, und einige Grüne. | |
Christian Ströbele erzwang damals eine Debatte über den Kriegseinsatz – und | |
ersparte dem Bundestag eine Blamage. Die Grünen aber nahmen ihm das übel. | |
„Ströbele, immer wieder Ströbele, dieser Meister grüner Selbstzerstörung�… | |
stöhnte der damalige Außenminster Joschka Fischer später. | |
## Er erkämpft sich das Direktmandat | |
Die Grünen stellen Ströbele 2002 nicht wieder für den Bundestag auf. Er | |
gilt den Realos als unverbesserlicher Störenfried. Dabei ist seine Skepsis, | |
auch gegen den Bundeswehreinsatz in Afghanistan, berechtigt. Das sehen | |
später auch manche Realos ein. | |
Andere linke Grüne wären nach so einem Tiefschlag zur PDS gegangen, sie | |
hätten sich nach einem Listenplatz in einem anderen Landesverband | |
umgeschaut oder ganz aufgegeben. Für Ströbele kam nichts davon in Frage. Er | |
ist hartnäckig loyal – gegenüber Personen, wie den RAF-Gefangenen, | |
gegenüber Ideen und Organisationen, wie den Grünen. Durch die Hintertür in | |
den Bundestag zu kommen widersprach seinem Verständnis von | |
Basisverankerung. | |
So schiebt er 2002 sein Fahrrad Abend für Abend über die Fußgängerwege, | |
legt Wahlwerbung auf Kneipentische, erträgt stoisch dumme Kommentare und | |
lässt sich von den Analysen und Prognosen, dass er keine Chance habe, nicht | |
beirren. Er will das Direktmandat in Friedrichshain-Kreuzberg gewinnen. | |
Eigentlich unmöglich. Doch er gewinnt und zieht insgesamt vier Mal direkt | |
in den Bundestag ein. Der erste und lange Zeit einzige Grüne, der ein | |
Direktmandat für den Bundestag gewann. | |
Es ging 2002 nicht nur darum, Bundestagsabgeordneter zu bleiben. Ströbele | |
nimmt Niederlagen sportlich. Aber diese hatte ihn getroffen, verkörperte | |
er doch den Antimilitarismus der Grünen. Dies war einfach ungerecht. Und | |
Ungerechtigkeit ist das Schlüsselwort bei Ströbele. Sein moralischer | |
Kompass ist auf Ungerechtigkeit geeicht. Ein Linker ist er nicht wegen Marx | |
oder Marcuse geworden, sondern weil Staat, Springer und Polizei 1967 | |
ungerecht mit den Studenten umsprangen. | |
Ströbele liest Zeitungen, Schriftsätze und Akten, Literatur nicht so sehr. | |
Kleists Michael Kohlhaas müsste ihm gefallen. | |
Klaus Eschen, der mit ihm zusammen in den 70er Jahren das Sozialistische | |
Anwaltskollektiv betrieb, sagt über ihn: „Er flaniert nicht, auch | |
gedanklich nicht. Er hat etwas von einem Forscher, der mit Fleiß und | |
Akribie eine Pilzsorte untersucht und darin aufgeht.“ | |
## Selbstdisziplin und Beharrungsvermögen | |
„Ströbele“ ist eine Marke, immer da, immer gleich. Andere Ex-68er verfassen | |
Selbstporträts, wundern sich im Rückblick über ihre Naivität und ihren Elan | |
von damals, als wären sie sich selbst zu Fremden geworden. Die einst | |
Linksradikalen tragen Anzug, werden Minister und verfügen über Dienstwagen | |
– er fährt weiter mit seinem alten Rad ohne Licht zum Bundestag (bis es ihm | |
geklaut wird) und sitzt mit verschiedenfarbigen Socken im Parlament. | |
Ströbele sagt, wenn man nach der Vergangenheit, nach 68 oder der | |
RAF-Anwaltschaft fragt, stoisch immer das Gleiche: „Ich würde es genauso | |
wieder machen.“ | |
Er ist der ungebrochen Progressive, in dessen Beharren auf dem, was schon | |
immer richtig oder vielmehr gerecht gewesen ist, etwas anderes | |
durchschimmert: etwas Antimodisches, eine konservative Weigerung, sich | |
anzupassen. Unter dem unbürgerlichen Habitus, der demonstrativen Abwendung | |
von Statussymbolen, sind im Laufe der Zeit seine bürgerlichen Eigenschaften | |
deutlicher hervorgetreten: Selbstdisziplin, Loyalität, Beharrungsvermögen. | |
Und Individualismus. | |
Hans-Christian Ströbele, geboren am 7. Juni 1939 in Halle an der Saale, | |
stammt aus bürgerlichem Haus, der Vater war Chemiker, die Mutter | |
Anthroposophin. Daher rührt sein selten erschütterbares Selbstbewusstsein, | |
das ihn alle Anfeindungen als RAF-Sympathisant oder ewiger Fundi überstehen | |
ließ. Daher stammt auch die Härte gegen sich selbst. Als er wegen Krebs mit | |
einer Chemotherapie behandelt wird, geht er manchmal bleich und mit | |
zittrigen Fingern in den Bundestag. Und versäumt keine Sitzung. | |
Er mag das Kollektive, und in den frühen Jahren half er tatkräftig der taz | |
auf die Beine. Er sah mit Jeans und Holzcloggs genauso aus wie die Spontis, | |
die versuchten, jeden Tag eine Zeitung zu machen. Aber er war 1979 bereits | |
verheiratet, besaß eine florierende Kanzlei, einen Mittelklassewagen und | |
eine Eigentumswohnung. [1][Die Hilfe für die taz] war eine Art Mäzenatentum | |
mit vollem Einsatz. | |
Christian Ströbele ist, allem alternativem Habitus zum Trotz, ein Bürger. | |
Er hat etwas Jungenhaftes, Offenes an sich. Doch ihm nahe zu kommen ist | |
schwierig, auch für Leute, die ihn lange kennen. Das Duzen, das Formlose | |
der 68er ist nicht nur Schein, das nicht. Aber die Freundlichkeit, mit der | |
er fast allen begegnet, den Wichtigen und scheinbar Unwichtigen, | |
überlagert, verdeckt die Distanz, auf die er stets achtet. | |
Der Mythos Ströbele, je nach Lesart unbeugsam oder verstockt, ist nicht die | |
ganze Wahrheit. Er ist flexibler geworden. 1989 half er der ersten | |
rot-grünen Regierung in Berlin auf den Weg. Er ist im Zweifel mehr | |
Praktiker als gesinnungsfester Fundi. Die Konstante in seinem Denken ist, | |
den Rechtsstaat immer vom Individuum aus zu sehen, fast nie vom Staat aus. | |
Als Jurastudent hatte er in den frühen 60er Jahren in dem Lehrbuch | |
„Verfassungs- und Verwaltungsgesetze der Bundesrepublik Deutschland“ einen | |
Satz rot unterstrichen: „In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem | |
Wesensgehalt angetastet werden“ Grundgesetz, Artikel 19, Absatz 2. | |
Natürlich hat er sich verändert. Langsam. In Interviews redet er zwar noch | |
immer von der Weltrevolution und dass man wie 68 noch immer jede Autorität | |
hinterfragen muss. Doch sein politisches Koordinatensystem hat sich | |
unmerklich verschoben. Als APO-Aktivist hatte er den Parlamentarismus als | |
bloße Fassade verachtet. 1985, als er zum ersten Mal im Bundestag war, | |
betrachtete er die Altparteien wie Aliens. Als er 2017 den Bundestag | |
verlässt, nach gut 20 Jahren, ist er der Inbegriff eines Parlamentariers | |
geworden: fleißig, unabhängig von Fraktionsdisziplin. | |
## Unmerklich verändert | |
Sein Rückblick auf den Bundestag ist von realistischer Melancholie. | |
Eigentlich habe er als Abgeordneter nur etwas erreicht in der Zeit, als | |
Rot-Grün regierte, von 1999 bis 2005, nicht in der Opposition, wo man nur | |
Papier produziere. Er schwärmt fast von den USA, wo die | |
Kongressabgeordneten nicht so stark in die eiserne Logik von Regierung | |
versus Opposition gezwängt sind. Sein Traum ist ein Parlament von | |
Individualisten, ohne Fraktionszwang, in dem die Kraft des besseren | |
Argumentes zählen soll. | |
Das öffentliche Bild von Ströbele ist monochrom. Doch dahinter gibt es | |
Bewegung, Veränderung. Nur so verlangsamt, dass sie kaum noch wahrnehmbar | |
ist. | |
Seine Bürowohnung am Holsteinischen Ufer in Berlin-Moabit ist vollgestopft | |
mit Akten von RAF-Prozessen, Grünen-Parteitagen, Wahlkämpfen. Wenn man aus | |
dem Fenster schaut, blickt man auf das Hochhaus, das in der Zeit, als | |
Rot-Grün regierte, das Innenministerium beherbergte. Wäre er gern dort | |
gewesen, als Minister, so wie Otto Schily? „Nur, wenn ich das, was ich | |
wollte, hätte durchsetzen können“, sagt er. | |
Er ist kein Unvollendeter, dem ein Amt fehlt. Er ist kein Mann der | |
Regierung, sondern einer des Parlamentes. Und der Straße. | |
Der Autor hat 2016 im Berlin Verlag eine Biografie über Christian Ströbele | |
veröffentlicht. | |
7 Jun 2019 | |
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## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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