# taz.de -- Ströbeles letzte Bundestagswoche: Der loyale Traditionalist | |
> Der Grünen-Abgeordnete Hans-Christian Ströbele verlässt nach 21 Jahren | |
> den deutschen Bundestag. Die Beschreibung einer Lücke. | |
Bild: Das Parlament als offene Arena für den Kampf der Argumente – das war S… | |
Berlin taz | Die Zeit hat ihre Spuren hinterlassen. Hans-Christian Ströbele | |
ist gebrechlich geworden. Bei seinem Weg zum Redepult im Bundestag stützt | |
er sich auf einen Krückstock. Aber sonst scheint sich eigentlich nicht viel | |
geändert zu haben. Als der 78-Jährige am Mittwochabend zum Abschlussbericht | |
des NSA-Untersuchungsausschusses das Wort ergreift, wirkt er kämpferisch | |
wie eh und je. „Sie haben die deutsche Bevölkerung irregeführt“, attackie… | |
der alte grüne Haudegen die Bundesregierung. Es ist einer seiner letzten | |
Wortbeiträge im Hohen Haus. Eine Ära geht zu ende. | |
Als er 1985 in Bonn in den Bundestag kam, pfiff dort ein rauerer Wind als | |
heute in der lauen Merkel-Ära. Ströbele, schon damals mit Jeans, Rad und | |
Schal unterwegs, titulierte Kanzler Kohl als Lügner. CSU-Abgeordnete | |
beschimpften ihn im Hohen Haus als „Terroristen“ und „Gangster“. Für s… | |
Gegner bei den Konservativen und den Realo-Grünen ist er lange der | |
Lieblingsfeind gewesen. Der ewige 68er. Der Fundi. Der Dogmatiker. Das | |
Image hat er sich in den 70ern verdient, als er mit Hingabe die RAF | |
verteidigte. | |
In Bonn verlangte der Neu-Abgeordnete 1985 auf einer Klausur von den grünen | |
MdBs, das Parlament ernst zu nehmen. Er selbst hat sich stets daran | |
gehalten: Während andere Karrieren planten, saß Ströbele, der | |
Pflichtmensch, im leeren Rund des Bonner Wasserwerks und hörte sich | |
Bundestagsdebatten an. Wenige nahmen den Parlamentarismus so ernst wie er, | |
der doch noch immer die Fahne der parlamentarismuskritischen Bewegung der | |
60er Jahre hochhielt. Gerade die äußerste Skepsis setzte produktive Kräfte | |
frei: die Dialektik des Dagegen. Dabei ist das Radikale bei ihm immer auch | |
optische Täuschung gewesen. | |
Ströbele sammelte nach 1998 die pazifistischen Reste bei den Grünen gegen | |
Fischers Kurs im Kosovo und in Afghanistan – aber ohne Rot-Grün zu stürzen. | |
Als Politiker handelt er immer wie ein Anwalt, der weiß, wann die Zeit für | |
schwungvolle Plädoyers ist, wann nüchterne Deals gefragt sind. Überflüssig | |
zu sagen, dass im Rückblick Ströbeles Skepsis in Sachen Afghanistan | |
handfeste Realpolitik war, Fischers Idee, per Beteiligung die USA zu | |
zivilisieren, Traumtänzerei. | |
## Treue macht ihn aus | |
Bei den Grünen haben ihn im Lauf der Jahre viele zum Teufel gewünscht – | |
genauer zur PDS und Linkspartei. Das war ein Missverständnis. Ströbele | |
hätte die Grünen nie wegen günstigerer Karriereaussichten anderswo | |
verlassen. Denn im Kern macht ihn Treue aus. Das ist ein altmodisches Wort | |
für etwas Altmodisches. Deshalb ist ihm 68 Fixstern geblieben: Right or | |
wrong, my movement. Ströbele hat zu dem, was er selbst früher war, zu | |
Idealen, Personen, eine Art unkündbares Näheverhältnis. Man hört bis heute | |
von ihm kein böses Wort über Horst Mahler, einst bewunderter | |
Anwaltskollege, heute Nazi. Nur Fassungslosigkeit. | |
Ströbele ist ein Traditionalist. Aber einer, der, vielleicht wegen seines | |
ausgeprägten Individualismus, selbst keine Traditionslinie begründet hat. | |
Es gibt niemand in den Grünen, der in seine Fußstapfen treten wird. Keinen, | |
der Gesinnung und Pflichtethos, Bescheidenheit und Bewusstsein für mediale | |
Effekte so verbinden kann. | |
Ist an ihm ein Minister oder Senator verloren gegangen? Ist er als | |
Politiker unvollendet? Müßige Frage. Er ist einer, der die Macht | |
kontrolliert, nicht repräsentiert. Er hatte Erfolge als Parlamentarier – | |
die akribische Aufklärungsarbeit in fünf Untersuchungsausschüssen, die ein | |
wenig Licht ins Dickicht der Geheimdienste und Republikskandale brachte. | |
Dem Bundestag hat Ströbele mit seinem Ernst zu nicht nur einem leuchtenden | |
Moment verholfen – oder wenigstens Blamagen erspart. Am 24. März 1999, als | |
Bundeswehr-Jets gen Serbien aufstiegen, wollte der Bundestag allen Ernstes | |
über das Bundesausbildungsförderungsgesetz beraten. Ströbele, dem der erste | |
Kriegseinsatz der Bundeswehr eine schlaflose Nacht beschert hatte, eilte | |
zum Rednerpult und hielt gegen die Tagesordnung jene Brandrede, die sich | |
seine grünen Kollegen nicht trauten. Nämlich – dass das Parlament jetzt | |
sofort über diesen Krieg reden müsse. Mit Erfolg, in diesem Fall. | |
Das Parlament als offene Arena für den Kampf der Argumente, nicht als | |
Abspielstätte für Vorgefertigtes – das war Ströbeles Traum 1985. Er ist es | |
2017 noch immer. Jetzt verlässt er, nur ein wenig altersmilde, den | |
Bundestag. Vielleicht wird Ströbele die parlamentarische Bühne fehlen. | |
Gewiss aber wird dem Parlament Ströbele fehlen. | |
29 Jun 2017 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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