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# taz.de -- Debatte Parlamentarismus: Wider den Fraktionszwang
> Abgeordnete müssen gelegentlich gegen die eigenen Überzeugungen stimmen.
> Dabei täte weniger Druck der Demokratie gut.
Bild: Brachte viel Jubel mit sich, trotz negativem Kanzlerinnenvotum: die Bunde…
An den Namen Sigrid Skarpelis-Sperk dürften sich nur noch altgediente
Parlamentskorrespondenten erinnern. Bekannt wurde die Volkswirtin einst als
parteiinterne Kritikerin von Gerhard Schröders Agenda 2010. Als eine von
sechs Abgeordneten der rot-grünen Koalition enthielt Skarpelis-Sperk sich
im Oktober 2003 bei der Abstimmung zur Hartz-IV-Gesetzgebung. „Die
SPD-Führung kann nicht erwarten, dass die Leute ihre Meinungen und
Überzeugungen vergessen“, [1][sagte sie damals].
Bei den Genossen stieß das Veto naturgemäß auf wenig Gegenliebe. Die
baden-württembergische SPD-Chefin Ute Vogt rief die Abweichler auf, die
Fraktion zu verlassen. Skarpelis-Sperk kandidierte aufgrund der Differenzen
mit ihrer Partei nicht erneut für den Bundestag.
Sie hatte sich der sogenannten Fraktionsdisziplin widersetzt. Die Parteien
halten ihre Abgeordneten dazu an, bei Abstimmungen einheitlich im Sinne des
Parteibeschlusses zu votieren. Das ist seit Jahrzehnten gängige Praxis –
und wichtig dafür, dass parlamentarische Arbeit überhaupt funktioniert.
Denn nur, wenn Parteien sich auf die Stimmen der eigenen
Fraktionsmitglieder verlassen können, lassen sich eigene Vorhaben umsetzen.
## Wo verläuft die Grenze?
Nur in Ausnahmefällen dürfen die Abgeordneten wirklich unabhängig abstimmen
– zum Beispiel am vergangenen Freitag. Über den Gesetzesentwurf zur
[2][„Ehe für alle]“ erlaubten die Parteien den Parlamentsmitgliedern nach
eigenem Gusto abzustimmen – denn es handele sich um eine „Gewissensfrage“.
Regelmäßig lassen die Fraktionen bei ethisch-moralischen Gesetzesvorhaben
ihre Mitglieder frei abstimmen, sodass sich spontane Mehrheiten ergeben. In
der Vergangenheit durfte zum Beispiel frei über die Gesetze zur
Sterbehilfe, zur [3][Präimplantationsdiagnostik] und zur Organspende-Reform
abgestimmt werden.
Doch wo genau verläuft eigentlich die Grenze zwischen ethisch-moralischen
und anderen politischen Entscheidungen? Kampfeinsätze im Ausland werden
üblicherweise nicht zur „Gewissensfrage“ erklärt, ebenso wenig wurde es d…
massive Beschneidung des Sozialstaats durch die Hartz-Gesetze. Auch bei
Entscheidungen über sichere Herkunftsländer sind die Abgeordneten an die
Fraktionsmeinung gebunden. Bergen sozialpolitische Entscheidungen mit
Folgen für Millionen Menschen oder Asylfragen etwa keine moralische
Komponente? Die Grenzziehung der Parteien wirkt willkürlich.
## Subtil unter Druck gesetzt
Statt von Fraktionsdisziplin könnte man auch von Fraktionszwang sprechen –
denn in allen nicht freigegebenen Abstimmungen müssen Abgeordnete sich dem
Willen der Fraktion beugen. Die Austrittsaufforderung Ute Vogts an die
Parteigenossin im Agenda-Streit war ein seltener Moment, in dem die
Sanktionsmechanismen bei Verstößen gegen die einheitliche Abstimmung
öffentlich artikuliert wurden.
Oft werden die Betroffenen subtiler unter Druck gesetzt: Parteien können
Fraktionsmitgliedern, die sich zu oft widersetzen, Posten vorenthalten, sie
nicht erneut aufstellen oder ihren Entwürfen die Zustimmung verweigern.
Dennoch widersetzen sich einzelne Abgeordnete immer wieder der
Fraktionsdisziplin. CDU-Innenpolitiker Wolfgang Bosbach verweigerte
entgegen der Parteilinie [4][den Griechenland-Hilfspaketen die Zustimmung].
Auch Marco Bülow vom linken SPD-Flügel stimmt häufig gegen die eigenen
Genossen.
Nicht immer handelt es sich bei Bundestagsbeschlüssen um die Meinung der
Mehrheit. Manche sprechen von einer „Kanzler-“ oder „Ministerdemokratie�…
weil die Parlamentarier der Regierungsfraktion im Allgemeinen dem Vorhaben
der eigenen Kabinettsmitglieder folgen. Gerhard Schröder drohte
[5][mehrfach mit Rücktritt], sollten die SPD-Abgeordneten seine
Agenda-Politik nicht unterstützen.
Mit dem Grundgesetz ist die Fraktionsdisziplin eigentlich unvereinbar. Dort
heißt es in Artikel 38, die Mitglieder des Bundestags seien „an Aufträge
und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“ Im
parlamentarischen Alltag wird das jedoch weitgehend ignoriert. SPD und
Union schrieben die Fraktionsdisziplin sogar [6][im letzten
Koalitionsvertrag] fest: „Im Bundestag und in allen von ihm beschickten
Gremien stimmen die Koalitionsfraktionen einheitlich ab. (…) Wechselnde
Mehrheiten sind ausgeschlossen.“
## Mehr Transparenz
Dabei hätte eine Lockerung des Fraktionszwangs positive Effekte. Die
Parteien könnten ihren Abgeordneten zum Beispiel eine Art Kontingent für
Enthaltungen zugestehen. Die Fraktionsdisziplin würde grundsätzlich weiter
gelten, aber die Parlamentarier könnten ihre Opposition gegen Beschlüsse
gelegentlich ungestraft sichtbar machen – oder auf Fortsetzung der Debatte
drängen.
Eine Lockerung der Fraktionsdisziplin würde auch für mehr Transparenz
sorgen. Wenn politische Entscheidungen hinter verschlossenen Türen fallen,
erfährt die Öffentlichkeit im Allgemeinen im Anschluss nur die
Mehrheitsmeinung. Die der Minderheit werden nur publik, wenn ihre Vertreter
darüber sprechen.
Ein geringerer Fraktionszwang könnte auch der Wahrnehmung von Parteien als
monolithischer Block entgegenwirken und Strömungen sichtbar machen.
Abgeordnete könnten sich individueller profilieren. Wer gelegentlich gegen
seine Partei stimmt, wird als unabhängiger wahrgenommen.
Die Öffnung des Fraktionszwangs kann auch ein Beitrag zu einer lebendigeren
Parlamentskultur sein. Die Debatten zur „Ehe für alle“ und [7][zur
Sterbehilfe] waren wesentlich dynamischer und kontroverser als andere
Bundestagsdebatten. Das stärkt das Vertrauen der Bürger in die
parlamentarische Demokratie.
Nicht zuletzt kann eine Lockerung des Fraktionszwangs verhindern, dass
wichtige gesellschaftspolitische Projekte koalitionärem Tauschhandel zum
Opfer fallen. Eine Parlamentsmehrheit für die Ehe für alle existierte seit
vier Jahren. Nur der Fraktions- und Koalitionszwang verhinderte bisher ihre
Einführung. Wer weiß, welche Fortschritte sich im Parlament noch
verwirklichen ließen – mit ein bisschen weniger Zwang. Das ist auch gut
fürs Gewissen.
3 Jul 2017
## LINKS
[1] https://www.welt.de/print-welt/article263392/Rebellen-drohen-erneut-mit-Nei…
[2] /Bundestag-beschliesst-Ehe-fuer-alle/!5425851
[3] /Merkel-ueber-die-Ehe-fuer-alle/!5425148
[4] /Wegen-Griechenland-Krise/!5216892
[5] /Archiv-Suche/!701598&s=schr%C3%B6der+droht+r%C3%BCcktritt&SuchRahm…
[6] https://www.bundesregierung.de/Content/DE/StatischeSeiten/Breg/koalitionsve…
[7] /Abstimmung-zur-Sterbehilfe-im-Bundestag/!5249033
## AUTOREN
Jörg Wimalasena
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