# taz.de -- Debatte Abgeordnete im Bundestag: Fraktionszwang abschaffen! | |
> Die Parlamentsferien sind vorbei. Zeit für eine parlamentarische Utopie: | |
> Die Abgeordneten sollten nur nach ihrem Gewissen abstimmen. | |
Bild: Abstimmung im Bundestag: Der Verzicht auf Fraktionsdisziplin würde die P… | |
Es klingt eigentlich ganz schön: „Wir wollen den Bundestag wieder zum | |
zentralen Ort der gesellschaftlichen und politischen Debatte machen“, heißt | |
es im aktuellen Koalitionsvertrag. Und dann folgt: „Im Bundestag und in | |
allen von ihm beschickten Gremien stimmen die Koalitionsfraktionen | |
einheitlich ab. Das gilt auch für Fragen, die nicht Gegenstand der | |
vereinbarten Politik sind. Wechselnde Mehrheiten sind ausgeschlossen.“ | |
Debatten, ja bitte – aber immer schön an die Koalitionsfraktionsdisziplin | |
denken? Diese Formel geht mit Karacho an dem vorbei, was wir als | |
Gesellschaft von unserem legitimierten Souverän aktuell bräuchten. Jetzt, | |
da die Parlamentsferien zu Ende sind, fast ein Jahr nachdem die vergangene | |
Wahl einen Bundestag in zuvor unbekannter Atmosphäre zustande gebracht hat, | |
ist es Zeit für einen neuen Modus operandi. | |
Der [1][Fraktionszwang gehört abgeschafft] – abgesehen davon, dass dieses | |
Konzept dem GG Art. 38.1, das ist der mit den Gewissensentscheidungen, | |
sowieso widerspricht. Daran ändert auch jener Passus in der | |
Koalitionsvereinbarung vom Januar nichts, in der abweichende Abstimmerei | |
fast als Regierungsmeuterei gegeißelt wird. In diesem Sinne wäre es in der | |
Tat „Zwang“, weil von oben verordnet und nicht der sanftere Euphemismus | |
„Fraktionsdisziplin“, der suggeriert, dass sich die Abgeordneten selbst an | |
die Kandare nehmen. | |
Die fraktionseinheitliche Abstimmerei gehört abgeschafft – und zwar aus | |
zwei sehr zeitgemäßen Gründen. Zum einen, weil es die Parteienrealität | |
ehrlicher spiegeln würde. Denn die Idee von der Volkspartei entspricht | |
längst nicht mehr dem Status unserer Gesellschaft. Schon das Wort „Volk“ | |
zeigt, was für ein Quatsch das ist: Die Bevölkerung ist so heterogen wie | |
nie, die Lebens- und Liebeskonzepte, Berufswege, Zwänge, Sorgen, | |
kulturellen Hintergründe, Herkünfte, Heimaten – nichts davon entspricht den | |
uniformeren Zeiten vor und nach Gründung der BRD, in denen der Begriff | |
„Volkspartei“ geprägt wurde. Ideologische Einheitsgefäße gehen | |
kilometerweit an dieser Diversität vorbei. | |
## „Change the conversation“ | |
Wie überholt dieses One-size-fits-all-Volkspartei-Konzept ist, zeigen vor | |
allem Wahlergebnisse wie Umfragen: SPD und AfD hangeln derzeit etwa bei 16, | |
17 Prozent herum, die CDU krallt sich noch am 30-Prozent-Balken fest, die | |
Grünen liegen stabil irgendwo über 10 Prozent: alles keine Eindeutigkeiten. | |
Und so partikular wie die Interessen der Wähler*innen, die in ihrem | |
digitalisieren Alltag längst gewohnt sind, sich nicht stoisch auf einen | |
Anbieter für alles festzulegen. Da ist die nostalgisch verbrämte Sehnsucht | |
von SPD und CDU nach komfortablen Wirtschaftswunderwerten geradezu: süß. | |
Klar, Parteien bilden mit ihren Flügeln, Kreisen und „Pizza-Connections“ | |
Teile des Spektrums ab; an der Fraktionsdisziplin ändert das jedoch nichts. | |
Dabei ist unübersehbar, wie politisch aufregend es sein kann, wenn es nur | |
um das „Gewissen“ der Abgeordneten geht. Erinnert sich noch jemand an das | |
Gesetz zum Großen Lauschangriff 1998? Als die FDP-Abgeordnete Sabine | |
[2][Leutheusser-Schnarrenberger] mit verfassungsmoralischer Verve dagegen | |
argumentierte; drei Jahre nachdem sie aus Protest gegen ebenjenen | |
Gesetzesentwurf als Bundesjustizministerin zurückgetreten war, brachte sie | |
den Rest des Hauses dazu, sich aus der Fläzhaltung in ihren Drehsesseln | |
aufzurichten. Wer das nicht wollte, musste sich an ihr messen lassen. Neun | |
Liberale stimmten damals mit der Opposition, die Koalition wähnten manche | |
am Abgrund. | |
Emotional ist es damals wie heute, wenn eine Abstimmung quasi per ordre de | |
mufti als „Gewissensentscheidung“ freigegeben wird: Es geht um viel, wenn | |
nicht gar um alles, um die Grunddefinition von Freiheit, von Grundrechten: | |
Sterbehilfe (2015), Präimplantationsdiagnostik (2011), den Regierungsumzug | |
nach Berlin (1991), Transplantationen (1997) und zuletzt, im Frühsommer | |
2017, die sogenannte Ehe für alle. Und, ja: das Abtreibungsrecht. Das war | |
1974. Und eventuell nun wieder im Herbst, bei der Neuauflage des Gesetzes | |
im Herbst. Wie uneinig sich alle sind, auch SPD und Union, bewies die | |
Parlamentsdebatte im Februar. | |
Doch vor allem: Wäre diese Abstimmungspraxis nicht Ausnahme, sondern | |
Standard, würden wir alle zu neuer Debattenmoral inspiriert. Die gängige | |
ist auf Spaltung ausgelegt, auf ein „Wir gegen die“, ganz nach Cäsars | |
militärischer Erfolgsformel „Divide et impera“ – Spalte und herrsche. | |
Meister dieses Fachs ist die AfD. Mit ihr landete ein scharfes, permanentes | |
Dagegen im Bundestag: gegen das Parlament, gegen die sogenannten | |
„etablierten Parteien“, gegen eingeführte politische Regeln und Etikette. | |
Diese neue Atmosphäre scheint den Spaltreflex der anderen Fraktionen zu | |
verstärken: als ob es nur darum geht, Gräben tiefer auszuheben, auf dass | |
der Unterschied zwischen „denen“ und „uns“ umso deutlicher hervortrete. | |
Das Gegenteil wäre adäquat: Statt sich auf die AfD-Ideologie der | |
Entfremdung einzulassen, täten die anderen Parteien gut daran, nicht | |
mitzureden. Gemäß dem simplen, aber effektiven rhetorischen Kniff: „Change | |
the conversation“. Nicht nur zu reagieren, sondern offensiv die | |
Gesprächskultur zu ändern: Wenn nur das beste politische Argument zählt, um | |
überfraktionelle Themenkoalitionen zu bilden, geht es nicht mehr um | |
parteiideologische Gräben, sondern darum, Gemeinsames zu finden. | |
Denn: Der Gallische Krieg ist vorbei – obwohl es derzeit oft anders wirkt, | |
etwa wenn auch Nicht-AfD-Politiker immer häufiger ins Verrohte abrutschen. | |
Wie stark sich diese Mentalität auf die Bevölkerung auswirkt, haben zuletzt | |
die Auseinandersetzungen in Chemnitz erschreckend deutlich gezeigt. Motto: | |
Wenn dieser Ton bei denen da oben Usus ist, ist das wie ein Freifahrtschein | |
für alle. Die Vorbildfunktion parlamentarischer Umgangsformen ist nicht zu | |
unterschätzen. Auch im Positiven. Fraktionsnivellierende Debattenkultur | |
wird abfärben auf das Miteinander als solches: Argumente statt Spaltung. | |
Als Leitprinzip. | |
18 Sep 2018 | |
## LINKS | |
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Fraktionsdisziplin | |
[2] /!1507200/ | |
## AUTOREN | |
Anne Haeming | |
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