# taz.de -- Ohne Koalition kein Fraktionszwang: Die Stunde der Parlamentarier | |
> Solange keine Regierung gebildet ist, arbeitet der Bundestag auf | |
> Sparflamme. Aber diese Zeit bietet auch Chancen. | |
Bild: Wird sich im Bundestag in den nächsten Wochen etwas tun? | |
BERLIN taz | Mit der Regierung kann es noch etwas dauern. Ein realistischer | |
Zeitplan ist wohl: Im Januar beginnen Sondierungen zwischen SPD und Union, | |
bis die neue Große Koalition arbeitet, kann es April werden. Was macht | |
eigentlich das Parlament derweil? Jan Korte, parlamentarischer | |
Geschäftsführer (PGF) der Linksfraktion, sieht in der Unklarheit eine | |
Chance. „Das kann die große Stunde des Parlaments werden, fern der starren | |
Zuordnung von Regierung und Opposition.“ Gerade weil die geschäftsführende | |
Bundesregierung nur beschränkt handlungsfähig sei, „muss das Parlament | |
jetzt voll einsatzfähig sein“, so Korte zur taz. | |
In der vergangenen Woche hat der Bundestag einen Hauptausschuss eingesetzt, | |
plus – auf Drängen der Grünen – drei Basisausschüsse: Immunität, Petiti… | |
und Geschäftsordnung. Doch viele zweifeln, ob das reicht und ob der | |
47-köpfige Hauptausschuss ein schlagkräftiges Gremium ist, mit dem das | |
Parlament seinen Job machen kann. „Der Hauptausschuss wird gar nichts | |
bewegen. Meine einzige Hoffnung ist, dass er möglichst rasch beendet wird“, | |
sagte Stefan Liebich (Linksfraktion) der taz. Bereits die ersten Sitzungen | |
hätten gezeigt, dass hier „keine sinnvollen Aushandlungsprozesse | |
stattfinden“. | |
Das Parlament muss entscheiden, ob es die Auslandseinsätze der Bundeswehr | |
verlängert. Das ist Pflicht – die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee. | |
Schon diese Entscheidungen, so Liebichs Genosse Korte, „benötigen mehr | |
Expertise als der Hauptausschuss hat“. | |
## „Wir brauchen alle Ausschüsse“ | |
Um zu funktionieren, braucht das Parlament Fachausschüsse, wo diskutiert | |
und gedealt wird, worauf es ankommt: die Details der Gesetze. Auch Britta | |
Haßelmann, parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, sieht | |
Handlungsbedarf. „Wir haben die Aufgabe, die Regierung zu kontrollieren. | |
Dafür brauchen wir alle Ausschüsse.“ | |
Grüne und Linkspartei wollen die bei der nächsten Bundestagssitzung am 11. | |
Dezember einsetzen. Ob das gelingt, hängt vor allem an der SPD. Deren | |
parlamentarischer Geschäftsführer Carsten Schneider votierte kürzlich für | |
ein arbeitsfähiges Parlament – aber da war die SPD noch auf dem „Nein zur | |
GroKo“-Ticket. „Wir wollen weiterhin zügig alle Fachausschüsse einsetzen�… | |
versichert der Sprecher von Carsten Schneider der taz am Montag. Man wird | |
sehen, ob das noch gilt oder ob die SPD-Fraktion schon bald auf | |
Regierungskurs segelt. | |
Die Union hält den Hauptausschuss für „eine bewährte Übergangslösung“,… | |
Michael Grosse-Brömer, parlamentarischer Geschäftsführer der Union zur taz. | |
Ansonsten ist die Union zögerlich. Wenn alle anderen Parteien | |
Fachausschüsse wollen, muss die Union mitmachen. Doch Grosse-Brömer will in | |
eine andere Richtung: „Wir als Union sind weiterhin zu einer schnellen | |
Regierungsbildung bereit.“ Regierung first, Bundestag second. | |
Manche Grüne, Sozialdemokraten und Linksparteipolitiker wollen, dass das | |
Parlament die Zwischenzeit handfest für Gesetze nutzt – über die | |
eingefrästen Gräben hinweg. Linksfraktion, Grüne, SPD und – womöglich –… | |
FDP könnten sich auf die kontrollierte Freigabe von Cannabis einigen. | |
Stefan Liebich hält auch den Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland für | |
ein Projekt. „Man muss jetzt schauen, wo man politisch etwas erreichen kann | |
– das ist spannend“, so der Linkspartei-Politiker. | |
Also neue Freiheiten für das Parlament, das für einen Moment nicht an der | |
kurzen Leine von Regierung und Fraktionszwang hängt? Das ist möglich. Das | |
Parlament macht ja die Gesetze – nicht die Regierung. Allerdings gibt es | |
praktische Hürden. Dem Parlament wird die Abschaffung einzelner Gesetze | |
[1][wie dem Paragraf 219a] leichter fallen. | |
## Der Kohleausstieg ist zu komplex | |
Bei vielschichtigen Themen – wie dem Kohleausstieg – würde es kompliziert. | |
Hier waren sich Union und Grüne bei den Jamaika-Sondierungen zwar einig | |
geworden, dass kurzfristig Braunkohlekraftwerke mit einer Leistung von | |
sieben Gigawatt vom Netz genommen werden sollten, um das deutsche Klimaziel | |
für 2020 noch einzuhalten. Ob es dafür im Bundestag aber eine Mehrheit | |
gäbe, ist unklar. Und: Selbst wenn es die gäbe, der Weg wäre holprig. | |
Die Thematik ist so schwierig, dass einzelne Fraktionen ohne Zuarbeit aus | |
Ministerien einen Gesetzentwurf kaum kurzfristig vorlegen können. „Da fehlt | |
es an Detailtiefe“, heißt es aus der Grünen-Fraktion. Auch | |
SPD-Klimapolitiker Frank Schwabe ist skeptisch: „Ein Kohleausstiegsgesetz | |
ist möglicherweise zu komplex, um es kurzfristig anzupacken“, sagte er der | |
taz. Ausschließen will er eine Initiative nicht: „Wir sind noch in einer | |
sehr frühen Nachdenkphase.“ | |
Statt eines fertigen Gesetzes haben die Grünen zunächst nur einen Antrag in | |
den Bundestag eingebracht, in dem sie die Regierung auffordern, „jetzt den | |
Kohleausstieg einzuleiten“. Das ist aber nicht mehr als Symbolpolitik. | |
Kompliziert wird es auch bei einem anderen Projekt, für das sich womöglich | |
eine rot-rot-grün-gelbe Mehrheit finden ließe. Der Fraktionschef der | |
Linkspartei, Dietmar Bartsch, will die Aufhebung des Kooperationsverbots im | |
Bildungsbereich. „Zu einem eventuellen Antrag müssten sich SPD, FDP, Linke | |
und Grüne verständigen, wie bei jedem anderen parlamentarischen Verfahren“, | |
so Bartsch zur taz. „Selbst bei der CDU könnte es Unterstützer geben.“ | |
Die Linksfraktion hatte in der letzten Woche einen entsprechenden Antrag in | |
den Bundestag eingebracht, dessen Anliegen von den drei anderen Fraktionen | |
wohlwollend aufgenommen wurde. Die FDP will aber einen eigenen Antrag | |
einbringen und geht überhaupt auf Distanz zu den linken Avancen. | |
FDP-Fraktionssprecher Nils Droste erklärt: „Mit der AfD und der | |
Linksfraktion wird es bei uns keine Mehrheiten geben.“ Allerdings könne man | |
nicht verhindern, dass sich andere Fraktionen eigenen Anträgen anschließen. | |
## Viel hängt von der SPD ab | |
Von der Abschaffung des grundgesetzlichen Kooperationsverbots erhoffen sich | |
die Befürworter, dass Bund und Länder im Bildungsbereich besser | |
zusammenarbeiten. Um das Grundgesetz zu ändern, müssten allerdings | |
Bundestag und Bundesrat mit Zweidrittelmehrheit zustimmen. Selbst in voller | |
Viererstärke würden SPD, FDP, Grüne und Linke die notwendigen 473 Stimmen | |
nicht zusammenbekommen. Im Bundesrat ist ebenfalls keine | |
Zweidrittelmehrheit in Sicht. | |
Fragt sich, ob die neue Freiheit des Parlaments nicht auch ein paar | |
unschöne Überraschungen bergen könnte. Anders als 2013 gibt es keine | |
rot-rot-grüne Mehrheit. Und auch die AfD kann versuchen, etwa bei der | |
Flüchtlingspolitik, von rechts Kombattanten zu gewinnen. Linksparteimann | |
Korte beeindruckt das nicht. „Nur wegen der AfD auf ein funktionsfähiges | |
Parlament zu verzichten, wäre absurd.“ | |
Realpolitisch gesehen sind die Aussichten, dass das Parlament in den | |
nächsten Wochen viel zu Wege bringt, eher übersichtlich. Viel hängt von der | |
SPD ab. Dass sie, während sie mit der Union sondiert, im Bundestag Gesetze | |
gegen Merkel und Seehofer durchdrückt, ist wenig wahrscheinlich. Aber | |
ausgeschlossen ist in diesen schwankenden Zeiten nichts. | |
Mitarbeit Anja Maier | |
28 Nov 2017 | |
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