# taz.de -- Christian Ströbele über den 2. Juni '67: „Die Hetze war unvorst… | |
> Vor dem 2. Juni 1967 war Christian Ströbele an linker Politik und der APO | |
> nur interessiert. Danach wurde er aktiver Teil der Bewegung. | |
Bild: Ströbele im Plenarsaal des Bundestages | |
1. Mai 2017, Berlin-Kreuzberg. Ein Pflichttermin für Christian Ströbele. Er | |
ist 77 Jahre alt und geht am Stock. Ein paar Autonome begrüßen ihn mit in | |
die Luft gereckter Faust. Später umarmt ihn ein britischer Investor, dem | |
Ströbele half, den Zwist mit einem Gewerbetreibenden zu schlichten. | |
Liebling Kreuzberg. Er ist noch immer der einzige Grüne, der je direkt ein | |
Bundestagsmandat holte – und das gleich viermal. Ein Gespräch über eine | |
Karriere zwischen APO und Parlament. | |
taz: Herr Ströbele, Sie sind seit 50 Jahren in der Linken aktiv. Wären Sie | |
ohne den 2. Juni 1967 und die Schüsse auf den Studenten Benno Ohnesorg ein | |
normaler Anwalt in Westberlin geworden? | |
Christian Ströbele: Das habe ich mich noch nie gefragt. Nach dem 2. Juni | |
1967 bin ich als Referendar zum Büro Mahler gegangen und hatte dort sofort | |
wie ein Anwalt mit den politischen Prozessen zu tun, im Prozess gegen | |
Karl-Heinz Kurras oder als Verteidiger von Fritz Teufel. Ich war zuvor an | |
linker Politik und der APO interessiert gewesen. Nach dem 2. Juni war ich | |
ein Teil davon. | |
Ist Ihre Erinnerung an diese Tage präzise – oder überlagert von medialen | |
Bildern und Erzählungen? | |
Es ist schwer auseinanderzuhalten, was eigenes Erleben, was durch | |
Erzählungen und Bilder vermittelt ist. Ich weiß zum Beispiel nicht mehr, ob | |
ich auf der SDS-Veranstaltung mit Bahman Nirumand am 1. Juni 1967 zu | |
Persien dabei war. | |
Sind Sie es leid, nach dem 2. Juni gefragt zu werden? | |
Manchmal schon. Ich bin so etwas wie ein Erklärer der Studentenbewegung | |
geworden, obwohl ich damals in der Bewegung keine große Rolle gespielt | |
habe. Ich war ja noch nicht mal im SDS. | |
Hat der 2. Juni Ihr Bild von der Bundesrepublik radikal verändert? | |
Ja, meines und das von vielen anderen. Wir hatten das Gefühl: Wir | |
demonstrieren für berechtigte Anliegen und gegen einen Diktator – und der | |
Staat lässt die Maske fallen. Niemand in der Außerparlamentarischen | |
Opposition hatte für möglich gehalten, dass es bei einer Demonstration Tote | |
gibt. Das war unvorstellbar, das Erschrecken groß. Insofern war der 2. Juni | |
ein Schlüsseldatum. | |
Haben Sie selbst mal Steine geworfen? | |
Nein. Das kam für mich nicht infrage. Außerdem kannten mich ja viele | |
Polizisten als Anwalt. | |
Ein Feind war damals der Springer-Verlag. | |
Die Springer-Zeitung BZ druckte nach dem 2. Juni 1967 das Foto von einer | |
blutüberströmten Studentin mit der Unterzeile: von einem Stein der Chaoten | |
getroffen. Doch sie war von Polizisten verprügelt worden. Die Hetze war | |
unvorstellbar. Das hat mich wütend gemacht. | |
Ist Bild für Sie noch immer ein Feind? | |
Feindschaft ist da nicht, Distanz ja. Als Abgeordneter habe ich mal | |
Zeitungskritik bei Bild gemacht. Die schreiben manchmal böse Artikel über | |
mich. Freundlich sind sie, wenn sie Informationen von mir brauchen. Das ist | |
ein professionelles Verhältnis. | |
Manche Grüne tauchen gern in Bild auf – weil die so weit verbreitet ist. | |
Ich sicher nicht. Das würde ich nicht machen. Ich glaube auch nicht, dass | |
Bild-Leser sich so sehr für mich interessieren. | |
Hat sich die Republik seit 1967 fundamental verändert? | |
Ja, Staat, Gesellschaft, Institutionen, Justiz, alles hat sich radikal | |
verändert. Im Bürgerlichen Gesetzbuch stand damals, dass Eltern ihre Kinder | |
züchtigen dürfen – das ist heute geächtet. Wenn die Justiz, der | |
Bundesgerichtshof damals vor 50 Jahren nicht voller Exnazis gewesen wären, | |
sondern so offen und liberal wie heute das Verfassungsgericht und viele | |
Gerichte, dann wäre die Geschichte anders verlaufen. | |
Weniger militant? | |
Auch. | |
Aber die Liberalisierung war auch ein Effekt der Revolte? | |
Natürlich. Wir haben die Gesellschaft radikal verändert oder zumindest viel | |
dazu beigetragen. Wir wollten die Revolution. Die haben wir nicht erreicht. | |
Das war vielleicht auch gut so. | |
Warum? | |
Wir hatten Ende der 60er Jahre kaum Konzepte, wie es danach weitergehen | |
sollte. | |
Also Schluss mit Revolution? | |
Nein, nein. Die Ungleichheit ist noch immer gewaltig in unserer | |
Gesellschaft und noch mehr zwischen Metropolen und Ländern des Südens. Wir | |
brauchen keinen freien, sondern fairen Handel mit diesen. Das wird die | |
Revolution der Zukunft. | |
Ein Lieblingsgegner der radikalen Linken war immer der Verfassungsschutz. | |
Wollen Sie den noch immer abschaffen? | |
Ja. Vieles läuft da immer wieder katastrophal. Bei dem Attentäter Amis Amri | |
wussten die Dienste schon im März 2016, dass der sich von „Brüdern“ des IS | |
in Libyen beraten und vielleicht auch befehligen ließ. Aber niemand nahm | |
ihn in U-Haft oder beobachtete ihn Tag und Nacht. Dass er eine | |
Aufenthaltsbeschränkung hatte, hat auch keinen interessiert. Amri wurde von | |
einem V-Mann per Auto von NRW nach Berlin gefahren. Der Staat hat ihm also | |
auch noch die Reise bezahlt. | |
Also sind alle Geheimdienste überflüssig? | |
Nein. Beim Bundesnachrichtendienst, dem Auslandsgeheimdienst, ist das | |
anders. Und wir brauchen Spionageabwehr. Wir können nicht dulden, dass | |
russische, türkische oder amerikanische Agenten uns ausspionieren. | |
Sie sind seit 18 Jahren Mitglied im Parlamentarischen Kontrollgremium | |
(PKG), das den Geheimdiensten auf die Finger schauen soll. Und dürfen nicht | |
öffentlich sagen, was Sie dort erfahren. Wie fühlt man sich als | |
Geheimnisträger? | |
Beschissen. | |
Warum? | |
Es ist zwar verlockend, mehr zu wissen als andere. Aber deprimierend, nicht | |
publik machen zu können, wenn Regierung und Dienste lügen. Im Fall Edward | |
Snowden wussten Bundesregierung und BND genau, dass seine Dokumente über | |
die globale Überwachung authentisch waren – sie hatten ja selbst mit der | |
NSA kooperiert und beim millionenfachen Datenabgreifen mitgemacht. Doch | |
Regierung und BND haben die Echtheit angezweifelt. Sie hätten nichts sagen | |
oder auf US-Interessen verweisen können. Aber sie haben gelogen. Wenn | |
manche Politiker und Beamte in den Diensten in ihren Familien so mit der | |
Wahrheit umgehen würden – keiner würde mehr mit ihnen reden. | |
Im PKG herrscht Verschwiegenheitspflicht. Aber es gibt doch Graubereiche – | |
oder? | |
Wenn ich das zugebe, erfahre ich dort nichts mehr. (lacht) Im Ernst. | |
Dagegen zu verstoßen ist strafbar. | |
Aber es sind schon aktuelle Informationen aus dem PKG durchgesteckt worden. | |
Ja, und in den Fällen bin ich immer der erste Verdächtige. Die Aufsicht | |
weiß aber, dass die Informationen nicht von mir kommen. Die Dienste müssten | |
das eigentlich auch wissen. | |
Sie sind seit 21 Jahren im Bundestag. Was war Ihr größter Erfolg? | |
Den Erfolg gibt es nicht. Die Ergebnisse der Aufklärungsarbeit in fünf | |
großen Untersuchungsausschüssen werden bleiben. Und als Rot-Grün regierte, | |
habe ich nach 9/11 geholfen, bürgerlichen Freiheiten zu verteidigen. Die | |
Otto-Kataloge … | |
… die verschärften Sicherheitsgesetze von SPD-Innenminister Otto Schily … | |
… haben wir durch Auflagen, Bedingungen und Details so entschärft, dass | |
manche Maßnahmen keinmal angewandt wurden. | |
Will sagen: Opposition ist Mist? Nur in einer Regierungsfraktion kann man | |
etwas erreichen? | |
Leider. Grüne und Linke produzieren ja eine Flut von Anträgen und | |
Gesetzesvorschlägen. Und ich frage mich zuweilen: Wozu? Das ist ein Defekt | |
unseres Parlamentarismus. | |
Inwiefern? | |
Weil im Bundestag das Prinzip gilt: Die Regierungsfraktionen lehnen jeden | |
Antrag der Opposition aus Prinzip ab. Immer. Egal was drinsteht. Das ist | |
verrückt. Die nennen meist auch keine Gründe. Im Ausschuss sind | |
Oppositionsanträge häufig keiner Rede wert. Das Plenum des Bundestags soll | |
eigentlich das Forum sein, indem sich mit Argument und Gegenargument | |
Meinungen bilden. Das ist es nicht. Meinungsbildungen und Entscheidungen | |
entstehen vorher in unkontrollierten Vorräumen, im Plenum werden sie nur | |
abgebildet. Da können wir uns an den USA ein Beispiel nehmen | |
Warum? | |
Dort hat das Parlament mehr Eigengewicht. Die Abgeordneten vertreten die | |
Interessen ihres Wahlkreises und sind weniger stark Teil einer | |
Regierungsfraktion. Im Kongress ist es normal, dass Abgeordnete der | |
Demokraten und Republikaner Entscheidungen aushandeln. Das ist im Bundestag | |
unvorstellbar. | |
Kann man das ändern? | |
Ja, Exekutive und Legislative sollen geteilte Gewalten sein. Warum sind bei | |
uns Regierungsmitglieder, Staatssekretäre und Minister auch Parlamentarier? | |
Sie haben zu viel Einfluss auf das Parlament und kontrollieren sich selbst. | |
In Frankreich ist das deswegen per Gesetz verboten. | |
Sie kandidieren nicht mehr für den Bundestag. Warum? | |
Weil ich merke, dass ich Ausschusssitzungen bis Mitternacht und die 12- | |
oder 14-Stunden-Tage nicht mehr so wegstecke wie früher. Und weil ich mich | |
nach Ausschüssen öfter als früher frage: Musste das sein? Manche | |
Bundestagsabgeordnete machen im Parlament einfach nur, was sie | |
interessiert. Ich kann das nicht. Ich hätte mich schlecht gefühlt, wenn ich | |
eine Sitzung versäumt hätte. | |
Woher kommt dieses preußisches Arbeitsethos? | |
Keine Ahnung. Nicht aus der Schule. Da war ich schlecht. | |
Tut Ihnen der Abschied aus dem Parlament leid? | |
Ich freue mich darauf, ausschlafen und mir den Tag selbst einteilen zu | |
können. Ich werde meine Sicht auf die Geschichte in einem Buch | |
niederschreiben, mich politisch engagieren, vielleicht ein bisschen als | |
Anwalt tätig sein. Und in die USA reisen und Bernie Sanders die Hand | |
drücken. | |
Gar keine Wehmut? | |
Doch. Es ist schade, dass ich im Herbst nicht als Alterspräsident die | |
Eröffnungsrede des Bundestages halten kann. | |
Was hätten Sie gesagt? | |
Dass das Plenum des Bundestages ein Raum für echte Debatten werden muss. | |
Dass das Parlament und jedes einzelne Mitglied selbstbewusster, | |
unabhängiger und freier werden muss. Das hätte ich dort sehr gerne gesagt. | |
2 Jun 2017 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
Plutonia Plarre | |
## TAGS | |
Hans-Christian Ströbele | |
APO | |
Demokratie | |
Revolution | |
Schwerpunkt Christian Ströbele | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Hans-Christian Ströbele | |
Lesestück Interview | |
Benno Ohnesorg | |
Schwerpunkt Gegenöffentlichkeit | |
Benno Ohnesorg | |
Schwerpunkt Gegenöffentlichkeit | |
Benno Ohnesorg | |
Benno Ohnesorg | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Hans-Christian Ströbele wird 80: Politik ist sein Marihuana | |
Er gewann als erster Grüner ein Direktmandat im Bundestag. Christian | |
Ströbele ist ein Einzelgänger, der das Kollektive schätzt. | |
Ströbeles letzte Bundestagswoche: Der loyale Traditionalist | |
Der Grünen-Abgeordnete Hans-Christian Ströbele verlässt nach 21 Jahren den | |
deutschen Bundestag. Die Beschreibung einer Lücke. | |
Grünen-Politikerin über innere Sicherheit: „Wo sind V-Leute nützlich?“ | |
Nach dem Innenminister fordern auch die Grünen einen zentralen | |
Verfassungsschutz. Ein Schwenk auf Law and Order? Nein, sagt Innenexpertin | |
Mihalic. | |
Entschuldigung für 2. Juni 1967: Geste ohne Namen | |
Berlins Jusitzsenator Behrendt bittet um Entschuldigung für die Übergriffe | |
vor 50 Jahren in Berlin. Den Namen Benno Ohnesorg nennt er nicht. | |
Die Medien nach Ohnesorg: Manipulation und Wahrheit | |
Nach dem 2. Juni 1967 sahen West-Berliner Zeitungen Demonstranten als „rote | |
SA“. Die Studenten forderten Gegenöffentlichkeit. Ein Rückblick. | |
Todestag von Benno Ohnesorg: Halbherziges Gedenken | |
Berlins rot-rot-grüner Senat will an den 2. Juni 1967 erinnern. Eine | |
Entschuldigung bei den Hinterbliebenen Ohnesorgs wird es wohl nicht geben. | |
Todesort von Benno Ohnesorg: „Sorry, nie gehört“ | |
Die RAF und die 68er beriefen sich auf ihn – Uwe Timm schrieb ihm ein Buch: | |
Benno Ohnesorg. Ein Besuch an dem Ort, an dem er starb. | |
Die Wochenvorschau für Berlin: Nähe von Gegenwart und Geschichte | |
Am 2. Juni erinnert die Geschichtswerkstatt an die Demonstration gegen den | |
Schah-Besuch 1967. Und linke Gruppen demonstrieren gegen den G20-Gipfel. | |
50 Jahre 2. Juni 1967: „Kurras war ein Waffennarr“ | |
Fünfzig Jahre nach seinem Tod fordert die Geschichtswerkstatt einen Platz, | |
der nach Benno Ohnesorg benannt ist. Die tödlichen Schüsse seien immer noch | |
aktuell. |