| # taz.de -- Todesort von Benno Ohnesorg: „Sorry, nie gehört“ | |
| > Die RAF und die 68er beriefen sich auf ihn – Uwe Timm schrieb ihm ein | |
| > Buch: Benno Ohnesorg. Ein Besuch an dem Ort, an dem er starb. | |
| Bild: Ohnesorgs Tod veränderte Deutschland – und das Leben von Uwe Timm | |
| Sein Name ist Geschichte, benutzt worden, geschrien. Hochgehalten auf | |
| Plakaten. Man hat ihn auf Flugblätter gedruckt, in Gerichtsakten verteilt, | |
| eingebrannt in die Metallplatte eines Denkmals. In Hannover führt er über | |
| einen Fluss: „Lass’ die [1][Benno-Ohnesorg]-Brücke nehmen“, das kann man | |
| dort sagen. | |
| Sein Name ist sanft, eine Ironie der Geschichte: Ohne-sorg. | |
| „Wer?“, fragt ein junger Mann an dem Ort, an dem Ohnesorg vor fünfzig | |
| Jahren erschossen wurde – 26 war er da und Pazifist, zum ersten Mal | |
| protestieren. Seine schwangere Frau hatte er aus den Augen verloren, kurz | |
| bevor er, zusammen mit anderen Demonstranten, in einem Hinterhof der | |
| Krummen Straße von Polizisten umstellt wurde. Wo es kein Erdgeschoss gibt, | |
| stattdessen Betonpfeiler das Haus 66/67 tragen und man nach einem Parkplatz | |
| – hinter Mülleimern, Bäumen, Fahrrädern – auf ein Quergebäude trifft. | |
| Man nur aus derselben Richtung wieder rauskommen, aus der man kam. | |
| „Ich bin nicht aus Berlin“, sagt eine junge Frau. Sie läuft an der | |
| Gedenktafel vorüber, die mit „2. Juni 1967“ überschrieben ist. „Sorry, … | |
| gehört.“ | |
| ## Die Suche nach Bedeutung | |
| „Er war etwas Besonderes“, sagt [2][Uwe Timm]. Der Schriftsteller, der mit | |
| Benno Ohnesorg das Abitur nachholte, 1963 in Braunschweig. Uwe und Benno, | |
| Benno und Uwe. Gemeinsam saßen sie in den Zimmern ihres Kollegs, wenn sie | |
| nicht lernen mussten. Man ging baden, exzessiv feiern, auf Jazzkonzerte, | |
| Villen-Partys, Timm öfter als Ohnesorg: „Ich glaubte, mein Erlebnishunger | |
| müsse auch der seine sein“, schreibt er in dem Buch, das ein Buch über | |
| Benno ist. | |
| „Der Freund und der Fremde“ heißt es, und Timm hat viele Anläufe gebrauch… | |
| bis es eine Erzählung wurde und tatsächlich erschienen ist – 2005. | |
| Gemeinsam lasen sie sich Gedichte vor. Erst die fremden und berühmten, | |
| irgendwann die eigenen. Der leise Wunsch, Schriftsteller zu werden; ein | |
| Geheimnis, behutsam geteilt. „Er war mein erster Leser“, sagt Timm. | |
| Ohnesorg zeigte ihm die Bücher, die er liebte, oft die der Franzosen, | |
| Rimbaud, Sartre. Camus. Die entscheidende Stelle in Camus’ „Der Fremde“, | |
| als in der Hitze Algeriens fünf Schüsse fallen – als ein Europäer einen | |
| Araber am Strand erschießt – legten die beiden unterschiedlich aus. | |
| Ohnesorg glaubte an eine Kurzschlusshandlung: die Sonne, die Glut. Der Tod | |
| als Zufall. Timm suchte eine tiefere Bedeutung. | |
| ## Wut im Bauch | |
| Es ist warm, als Benno Ohnesorg stirbt, am 2. Juni 1967. Er trägt ein rotes | |
| Hemd und Sandalen. Der Vortrag eines Exilpersers hat ihn dazu veranlasst, | |
| mit einem Transparent – einem Kissenbezug – auf die Straße zu gehen: | |
| „Autonomie für die Teheraner Universität“, er hält es hoch. | |
| Vor der Deutschen Oper und inmitten einer Stimmung, die manche Zivilbeamten | |
| und Springer-Medien als „Studentenkrieg“ werten. In der „wir mit Wut im | |
| Bauch durch die Gegend gelaufen sind“, wie Uwe Timm sagt, der politische | |
| Umbruch lauter und lauter errufen wird. | |
| Adenauer ist tot, die Vorbilder sind Che Guevara und Martin Luther King, in | |
| Bonn regiert eine Große Koalition, in Griechenland putscht das Militär, und | |
| die USA bombardieren Vietnam. Man will nicht „zusehen“, wenn es | |
| Hinrichtungen gibt, wie Leichen gestapelt werden; nicht länger und nicht | |
| mehr. | |
| Man will nicht werden wie die Väter. | |
| ## Aus Jubelpersern werden Prügelperser | |
| Und dann: Bereitet die Bundesregierung einem Autokraten den Empfang, der | |
| als brutalster der Nachkriegszeit gilt. [3][Der Schah von Persien] – „König | |
| der Könige“ nennt er sich – darf einreisen, er soll. Ganze Autobahnen und | |
| Teile des Schiffsverkehrs werden gesperrt, als er mit seiner Frau | |
| West-Berlin besucht. | |
| Am Nachmittag des 2. Juni trägt er sich in das Goldene Buch des | |
| Schöneberger Rathauses ein, während die Studenten draußen Rauchkörper und | |
| Eier werfen, scheinbar ohne Zweck. „Nieder mit dem Imperialismus in | |
| Persien!“ | |
| Kurz vor 20 Uhr steigt das Paar aus einem Mercedes 600, um sich „Die | |
| Zauberflöte“ in der Oper anzusehen. Draußen stehen nun Anhänger des Schah, | |
| neben Polizisten und Studenten: Männer, die er mitgebracht hat, man wird | |
| sie „Jubelperser“ nennen. Sie klatschen für ihren künftigen Kaiser, bis es | |
| unübersichtlich wird, Applaus, Skandal, Applaus, Skandal. | |
| Plötzlich schlagen die Schah-Anhänger mit Holzstöcken auf die | |
| Demonstranten ein, wie auf Kommando und doch aus dem Nichts. Man wird sie | |
| „Prügelperser“ nennen. | |
| ## Die Leberwursttaktik | |
| Und die Polizisten halten die Perser nicht auf. Sie helfen ihnen aus. Mit | |
| Knüppeln, Tränengas und Wasserwerfern gehen nun sie auf die Demonstranten | |
| los, stürzen sich in die Menge. „Leberwursttaktik“ wird man jenen Plan des | |
| Polizeipräsidenten nennen. Vor Journalisten wird er ihn nacherzählen: | |
| „Nehmen wir die Demonstranten wie eine Leberwurst, nicht wahr, dann müssen | |
| wir in die Mitte hineinstechen, damit sie an den Enden auseinanderplatzt.“ | |
| Benno Ohnesorg läuft mit anderen in die Krumme Straße, landet vor Haus | |
| 66/67, dann im Hinterhof, vor dem Quergebäude – Sackgasse, Panik. Um ihn | |
| Polizisten, Reporter, Fotografen. Was jetzt? Er soll noch beschwichtigend | |
| die Hände heben, bevor man ihn zu Boden bringt. „Und nicht nur ihn“, sagt | |
| Uwe Timm. „An diesem Abend wurden weit mehr als hundert Menschen | |
| krankenhausreif geprügelt.“ | |
| Schließlich zieht zwischen den Pfeilern, die das Haus stützen – die jetzt | |
| weiß gestrichen sind, unter denen heute nur Blätter liegen, Birkenblätter, | |
| Zigarettenfilter – zwischen ihnen zieht ein Polizist seine Waffe. | |
| [4][Karl-Heinz Kurras], man wird ihn nur „Kurras“ nennen. | |
| Er schießt Ohnesorg aus anderthalb Metern Entfernung in den Kopf. | |
| ## Was bleibt zu sagen? | |
| „Bist du denn wahnsinnig, hier zu schießen?“ | |
| „Kurras, gleich nach hinten! Los, schnell weg!“ | |
| „Mörder“-Rufe und ein Knall. Auf den Originalaufnahmen sei das alles | |
| überliefert, sagt einer, der seit den Achtzigern hier wohnt. Er hat das | |
| Gitter zum Hof aufgeschlossen, das es am 2. Juni 1967 nicht gab. „Damals | |
| hat da drüben ein schwarzer VW Käfer geparkt“, meint er und zeigt auf die | |
| Stelle, wo gerade ein schwarzer VW Golf parkt. Er stellt sich hinter den | |
| Golf. Was bleibt zu sagen? „Hier stand Kurras“? „Benno lag dort“? Vögel | |
| zwitschern, man hört den Wind. | |
| „Es gibt hier nichts mehr zu sehen“, sagt der Nächste – „Bruno“. Jea… | |
| einen Einkaufstrolley neben sich. Er drückt die Hand seiner Frau und sieht | |
| an dem Betonbau hoch: Geranien, Jalousien. „Ein fremder Ort“, sagt Uwe | |
| Timm. Und er, Frank Mothes, 62, angereist aus Brandenburg, bis eben kannte | |
| er den Hof nur aus Büchern und dem Fernsehen: „Ein Polizist in West-Berlin, | |
| der auf einen Studenten gezielt hat! Im Osten haben sie das | |
| ausgeschlachtet.“ | |
| ## Nach dem Schuss | |
| „Kurras, gleich nach hinten!“ | |
| Der Fall wird vertuscht, Kurras wohl vom linken Rand der Beweisfotos | |
| geschnitten. Legendär wird ein anderes Schwarz-Weiß-Bild, das Benno | |
| Ohnesorg blutend auf Asphalt zeigt; die Studentin Friederike Hausmann über | |
| ihn gebeugt wie eine Madonna: im dunklen Umhang, den Blick seitlich nach | |
| oben gerichtet. Sie hat ihm ihre Tasche unter den Kopf gelegt. | |
| Erst das dritte Krankenhaus nimmt Ohnesorg auf. Im Totenschein wird als | |
| Todesursache „stumpfe Gewalteinwirkung“ vermerkt, obwohl eine Aufnahme | |
| seines Schädels dokumentiert, wo die Kugel ihn traf. | |
| Es wird heißen, er sei unglücklich gestürzt. [5][Die Polizei] wird angeben, | |
| ein „Querschläger“ habe ihn versehentlich erwischt. Die Bild-Zeitung wird | |
| die Studenten für schuldig erklären: „Ihnen genügte der Krach nicht mehr. | |
| Sie müssen Blut sehen.“ | |
| ## Gedenken und Geburt | |
| Kurras wird freigesprochen, weil vor Gericht „nicht mit Sicherheit zu | |
| klären“ ist, „was der Angeklagte falsch gemacht habe“. Der Sozialistische | |
| Deutsche Studentenbund wird 800 neue Mitglieder zählen und der 2. Juni als | |
| Beleg für faschistische Tendenzen des Establishments dienen. Dafür, dass in | |
| den obersten Instanzen der Gerichte noch die Ehemaligen wirken; Richter des | |
| Dritten Reichs. | |
| Ohnesorgs Tod wird das, was die „Geburtsstunde der Achtundsechziger“ heißt: | |
| der Beginn einer mächtigen Demokratiebewegung, der Friedensforderungen | |
| deutscher Hippies mit Flowers-in-their-hair. Zugleich wird er den | |
| Ausgangspunkt eines mächtigen Irrwegs markieren: des Deutschen Herbstes, | |
| „der Staat hat auf uns alle geschossen“. Die RAF wird sich auf ihn berufen. | |
| Die Bewegung 2. Juni wird ihn im Namen tragen. | |
| Und Uwe Timm wird schreiben. | |
| Über Benno, den Freund, von dem er sich nicht richtig verabschiedet hat. | |
| „Fern erschien er, unberührbar.“ „Dieses stille Zuhören, sein Schweigen… | |
| „die Arbeit der Gedanken“. Und: „Ich fand keine Sprache für ihn.“ Er t… | |
| Bennos Sohn und Bennos Bruder. Er liest in den alten Büchern, in Camus, in | |
| einem Brief von Bennos Frau. Einmal steht er vor Kurras’ Tür, als dieser | |
| noch lebt. Lange bevor die Ermittlungen gegen ihn erneut beginnen – 2009, | |
| als herauskommt, dass Kurras ein IM der Stasi war. | |
| ## Solidarische Kritik | |
| Timm klingelt nicht bei Kurras, er geht wieder. Hadert ein bisschen mit der | |
| Zeit, in die ihn sein Buch führt: mitten in den Kummer und zu den Revolten, | |
| der ach-so-freien Jugend davor. Ein „nihilistischer Bereich, in dem man | |
| lebte“. | |
| Er ist ins „Opern-Café“ gekommen, wenige Meter von dem Platz, auf dem sich | |
| die Deutsche Oper grau und kubisch wie ein Mahnmal erhebt. | |
| Dass er das Autarke an seinem Freund bewundert hat, sagt er. „Diese | |
| Abgeschlossenheit.“ Die Frauen hätten Benno gemocht, ohne dass er etwas | |
| dafür tun musste. | |
| Und einen zu finden, der dasselbe Sprachgefühl wie man selbst hat, dieselbe | |
| Liebe zum Schreiben – das ist auch ein Glück. „Seine Kritik war | |
| solidarisch“, meint Timm. Frei von Konkurrenz. | |
| ## Das Wesen der Trauer | |
| Nach dem Abitur, so versprechen sie es sich damals: da ziehen sie zusammen | |
| nach Berlin. Doch nach Berlin zieht nur Benno. Und Uwe nach Paris. | |
| Mittlerweile findet er das leichtsinnig, sagt er: zu denken, man treffe | |
| sich schon wieder. Bindungslosigkeit als „Voraussetzung für die gewünschte | |
| intellektuelle Freiheit“ zu halten. | |
| Vier Jahre haben sie sich nicht gesehen, als Uwe Timm im französischen | |
| Radio von den Ausschreitungen in Berlin hört. Er fragt sich: Warum habe ich | |
| ihm nicht geschrieben? Wieso hab ich ihn nicht besucht? | |
| Er schreibt: „Zur Trauer, meiner, gehört auch, nicht mehr die Möglichkeiten | |
| haben, etwas zu klären, zu erklären.“ | |
| Er denkt oft an diesen Satz, den Benno Ohnesorg einmal gesagt hat, als sie | |
| abends aus dem Kino kamen und vor ein paar Möbeln standen, die jemand am | |
| Straßenrand abgestellt hatte – eigentlich ein Satz von Vergil: „Auch die | |
| Dinge haben Tränen.“ Es regnete, und zu zweit schauten sie auf den | |
| durchnässten Schirm einer Lampe. | |
| 1 Jun 2017 | |
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| Annabelle Seubert | |
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