# taz.de -- Wahrheit im Fall Ohnesorg: Verschwörung zur Vertuschung | |
> Nach "Spiegel"-Recherchen wurde Benno Ohnesorg 1967 vorsätzlich | |
> erschossen. Zeitzeuge Ströbele spricht von einem "Geheimbund" gegen die | |
> Studentenbewegung. | |
Bild: Plädierte auf Notwehr: Todesschütze Kurras im Landgericht in Berlin 196… | |
Es gibt Todesfälle, die nie richtig oder vollständig aufgeklärt werden. | |
Wenn sie in einem politischen Kontext stehen – das bekannteste Beispiel ist | |
der Mord an John F. Kennedy –, können sie die kollektive Erinnerung von | |
Gesellschaften nachhaltig irritieren. | |
Ein solcher Fall ist für Westdeutschland der des Studenten Benno Ohnesorg, | |
den der Polizist Karl-Heinz Kurras am 2. Juni 1967 bei einer Demonstration | |
gegen den Schah von Persien in Berlin erschossen hat. Dieser Schuss war ein | |
Schuss in viele Köpfe, er wirkte wie eine Initialzündung für die | |
Studentenbewegung in der Frontstadt und der gesamten Bundesrepublik. | |
Bis vor wenigen Tagen existierten mehrere Wahrheiten über den Tod von | |
Ohnesorg. Zunächst die forensische Wahrheit, die Wahrheit der Richter, in | |
zwei Gerichtsverfahren gegen Kurras 1967 und 1970 festgestellt: Der | |
Kripo-Mann sei von acht bis zehn Demonstranten, teils mit Messern | |
bewaffnet, angegriffen und niedergeworfen worden, hatte er selbst erzählt. | |
Deshalb habe er zwei Warnschüsse abgegeben. Die Version von der "putativen | |
Notwehr" klang unwahrscheinlich, aber konnte von den Richtern nicht | |
widerlegt werden und hatte Bestand. | |
## Ein kaltblütiger Mörder | |
Die Wahrheit der Anarchisten war eine andere: Eine kleine Gruppe, die mit | |
Gewalt das System bekämpfen wollten, nannte sich "Bewegung 2. Juni" – damit | |
bei ihren Aktionen stets erklärt würde, dass an diesem Tag ein Polizist | |
einen Studenten zu Tode gebracht hatte. Für die Anarchisten war klar, dass | |
Kurras ein kaltblütiger Mörder war. Das Anarchokabarett "Drei Tornados" | |
sang: "Da haben die Bullen den ersten umgebracht." | |
Vor bald drei Jahren kam die Wahrheit der Antikommunisten hinzu. Seit | |
bekannt geworden war, dass Kurras dem Ministerium für Staatssicherheit der | |
DDR als Spion gedient hatte, mutmaßten Konservative, dass Kurras im Auftrag | |
seiner Ost-Berliner Genossen geschossen hatte, um West-Berlin ins Chaos zu | |
stürzen. | |
Nach monatelangen Recherchen eines Spiegel-Teams (zu dem auch der Autor | |
gehörte) sind nun alle drei Wahrheiten auf unterschiedliche Weise überholt. | |
Die der Antikommunisten ist als haltlose Verschwörungstheorie abzuhaken: Es | |
gibt nicht den geringsten Hinweis darauf, dass Ohnesorg im Auftrag der | |
Ost-Berliner Kommunisten ermordet wurde. | |
## Wahrheit erschüttert | |
Die forensische Wahrheit ist dank Ermittlungen der Bundesanwaltschaft | |
erschüttert. Ein mit neuester Technologie abgetasteter alter Film zeigt | |
eine Figur – mit hoher Wahrscheinlichkeit Kurras – unbedrängt in die | |
Richtung der Stelle gehen, an der Ohnesorg kurz darauf zusammenbricht. In | |
seiner Hand lässt sich ein Gegenstand ausmachen, der stark einer Pistole | |
ähnelt. Der Anwalt und Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele, der | |
den 2. Juni 1967 als junger Referendar miterlebte, spricht von einem | |
"hinreichenden Verdacht", dass es sich um "eine vorsätzliche Tat mit | |
Tötungsabsicht" gehandelt habe. | |
Es reicht nicht für eine neue Anklage gegen Kurras, aber nachweisen lässt | |
sich jetzt eine Verschwörung zur Vertuschung, die den SZ-Journalisten Willi | |
Winkler an eine "Willkür" erinnert, "die sich sonst nur Diktaturen | |
erlauben". | |
## Falsche Todesursache | |
Der Vorgesetzte von Kurras log, um den Todesschützen zu decken. Weitere | |
Polizisten logen. Die Staatsanwaltschaft unterließ es, wichtige | |
Polizeizeugen zu vernehmen. Ein Fotograf von Springers B.Z. und | |
Schützenfreund von Kurras half diesem, die illegal in seiner Wohnung | |
gehortete Munition aus dem Haus zu schleppen. Polizisten brachten einen | |
Arzt dazu, eine falsche Todesursache in Ohnesorgs so genannten | |
Leichenschein einzutragen. | |
"In West-Berlin herrschte ein Geheimbund", sagt Hans-Christian Ströbele | |
jetzt. "Alle waren gegen uns." Sein Anwaltskollege Otto Schily spricht von | |
"übler Kumpanei". Die Studenten skandierten damals: "Wir sind eine kleine, | |
radikale Minderheit!". Der Eindruck der Minderheit, dass Polizei und Justiz | |
parteiisch gegen sie eingestellt sind, war richtig. Die gefühlte Wahrheit | |
der Linken wurde bestätigt. | |
Und die Entdeckung der Lügen führt in Richtung historische Wahrheit. Auch | |
45 Jahre nach dem Tod von Ohnesorg ist es dafür nicht zu spät. | |
24 Jan 2012 | |
## AUTOREN | |
Michael Sontheimer | |
## TAGS | |
Studentenbewegung | |
DDR | |
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