# taz.de -- Rücktritt von Kanzler Kurz: Aufstieg und Fall des Sebastian K. | |
> Sebastian Kurz räumt nach einem weiteren Skandal das Kanzleramt. Als | |
> Fraktionschef der ÖVP bleibt er aber auf der politischen Bühne. Ein Drama | |
> in fünf Akten. | |
Am Freitagabend noch hat Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) in | |
einem kurzfristig angekündigten Statement seine politische | |
Handlungsfähigkeit beteuert. Er werde dem Druck nicht weichen. 24 Stunden | |
später ist alles anders. [1][Auftritt Kurz]: Es gelte „Chaos zu verhindern | |
und Stabilität zu garantieren“. Daher trete er jetzt „zur Seite“ und wer… | |
als Fraktionsvorsitzender der ÖVP ins Parlament zurückkehren, bis die | |
ungerechten Vorwürfe gegen ihn aufgeklärt seien. | |
Als Nachfolger im Bundeskanzleramt schlägt er seinen engen Vertrauten und | |
Außenminister [2][Alexander Schallenberg] vor. Der Diplomat aus altem | |
Adelshaus soll den verletzten Koalitionsfrieden wiederherstellen und | |
Österreichs ramponierte Reputation im Ausland reparieren. Opposition und | |
Medien rechnen damit, dass Kurz weiterhin die Strippen ziehen wird. | |
Ein Körnchen Selbstkritik muss sein, schließlich dokumentieren | |
Chat-Verläufe schwarz auf weiß, wie der Bundeskanzler über politische | |
Gegner denkt und mit welcher Skrupellosigkeit sein politischer Aufstieg | |
orchestriert wurde. Seinen Vorgänger als ÖVP-Chef, [3][Reinhold | |
Mitterlehner], hat er einst als „Arsch“ apostrophiert, seinen Adlatus | |
Thomas Schmid fragte er, ob man gegen einen populären Plan der Regierung, | |
die er zu sprengen gedachte, nicht „ein Bundesland aufhetzen“ könne. Die | |
Einschüchterung eines kritischen Kirchenmannes fand er „super!“ Manche der | |
SMS-Nachrichten, „die ich im Eifer des Gefechts geschrieben habe“, würde er | |
„klarerweise nicht nochmal so formulieren, aber ich bin eben auch nur ein | |
Mensch“, erklärte Kurz dazu. | |
Am kommenden Dienstag tritt in Wien der Nationalrat zu einer Sondersitzung | |
zusammen, einberufen von der Opposition aus SPÖ, FPÖ und Neos, die auch | |
einen Misstrauensantrag gegen Sebastian Kurz als Kanzler einbringen | |
wollten. Die Grünen, derzeit Koalitionspartner der ÖVP, hatten angedeutet, | |
sie würden diesen unterstützen. Vizekanzler [4][Werner Kogler] hatte Kurz | |
angesichts der strafrechtlichen Ermittlungen die Amtsfähigkeit abgesprochen | |
und eine „untadelige Person“ als Partner in der Regierung verlangt. Damit | |
wäre Kurz zum zweiten Mal innerhalb von weniger als zweieinhalb Jahren vom | |
Parlament abberufen. | |
Mit dem „Tritt zur Seite“ hat Kurz die Krise entschärft und seine Macht | |
gerettet. Die Vertrauensbasis in der Koalition ist dennoch erschüttert. Und | |
die Opposition gibt sich nicht zufrieden, denn das „System Kurz“ sei intakt | |
geblieben. | |
## Aufstieg und Fall des Sebastian K. Ein Drama in fünf Akten | |
Protagonisten : | |
Sebastian K., Königsmörder, derzeit Fraktionsvorsitzender | |
Thomas Schmid, Intimus desselben, derzeit Privatier | |
Wolfgang Fellner, Zeitungsherausgeber | |
Die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft. | |
In den Nebenrollen: | |
Heinz-Christian Strache, ehemaliger Vizekanzler, derzeit Privatier | |
Reinhold Mitterlehner, ehemaliger Vizekanzler, derzeit Privatier | |
Johannes Frischmann, Gerhard Fleischmann, Stefan Steiner, August Wöginger, | |
Mitglieder der Prätorianergarde des Sebastian K. | |
Alma Zadić, Justizministerin | |
Christian Pilnacek, hoher Beamter im Justizministerium, derzeit suspendiert | |
## Vorspiel: | |
Aus dem Geilomobil ins Innenministerium | |
2010 ist Wahlkampf in Wien. Der damals 24-jährige Chef der Jungen ÖVP (JVP) | |
kurvt mit einem schwarzen SUV, Geilomobil genannt, durch die Straßen der | |
Bundeshauptstadt und versucht seine Altersgenossen zu überzeugen, dass sie | |
ihr Kreuzchen bei den Konservativen machen sollten. Als Anreiz verteilt er | |
schwarze Kondome. Die Kampagne ist nur mäßig erfolgreich: Die Wiener ÖVP | |
sackt gegenüber 2005 um 5 Prozentpunkte ab. Bürgermeister Michael Häupl | |
(SPÖ) schließt eine Koalition mit den Grünen. | |
Im Bund regiert zu diesem Zeitpunkt eine große Koalition unter [5][Werner | |
Faymann] (SPÖ) und Vizekanzler Michael Spindelegger (ÖVP). Dieser holt 2011 | |
den 25-Jährigen Kurz als Staatssekretär für Integration in die Regierung. | |
Sein selbstsicheres Auftreten, seine konservative Einstellung und sein | |
Selbstvermarktungstalent qualifizieren ihn für eine Karriere in der großen | |
Politik. Der Jung-ÖVPler entpuppt sich als begnadeter Selbstdarsteller. Die | |
Medien liegen ihm bald zu Füßen. | |
Zwei Jahre und eine Wahl später wird aus dem ehrgeizigen Staatssekretär der | |
jüngste Außenminister der Welt. Mangelnde außenpolitische Erfahrung macht | |
ein Beraterstab aus Diplomaten wett, der ihn auf Schritt und Tritt | |
begleitet, darunter ein gewisser Alexander Schallenberg. Kurz’ Stunde | |
schlägt während der Flüchtlingskrise 2015, als er erkennt, welche Ängste | |
diese bei Teilen der Bevölkerung auslöst. Als Kontrapunkt zu Angela Merkels | |
Politik setzt er auf Abschottung. „Ich habe die Balkan-Route geschlossen“, | |
sollte einer seiner griffigsten Wahlkampfslogans werden. | |
## Erster Akt: „Projekt Ballhausplatz“ | |
Szene 1: Die Verschwörer | |
Frühjahr 2016: Junge, schlanke Männer in weißen Hemden mit offenen Krägen | |
sitzen in einem Hinterzimmer an einem Tisch beisammen. Es sind nicht Zeugen | |
Jehovas, sondern Sebastian Kurz und seine Prätorianergarde. Die meisten | |
kennen sich von der Jugendorganisation der Partei JVP. Sie arbeiten an der | |
Zukunft Österreichs, genauer gesagt an der Machtübernahme – zuerst in der | |
ÖVP, dann in Österreich. | |
Der ÖVP-Vizekanzler heißt inzwischen Reinhold Mitterlehner und ist aus der | |
Sicht der Verschwörer ein Langweiler. Die jungen Männer hecken einen Plan | |
aus, der ihren Anführer möglichst schnell ins Bundeskanzleramt am Wiener | |
Ballhausplatz bringen soll. Die Voraussetzungen sind gut, denn die große | |
Koalition ist unpopulär. Als im Frühjahr 2016 der SPÖ-Chef Werner Faymann | |
abgesägt wird und der dynamische [6][Christian Kern] frischen Wind in die | |
Regierung bringt, ist bei den Verschwörern Feuer unterm Dach. Das „Projekt | |
Ballhausplatz“ muss beschleunigt werden. Dass die Regierung jetzt populäre | |
Maßnahmen wie eine flächendeckende Nachmittagsbetreuung für | |
Kindergartenkinder plant, kommt bei den Verschwörern gar nicht gut an. | |
Die folgenden Zitate von 2017 sind kein Produkt der Dichtung, sondern so | |
gefallen und jüngst bekannt geworden. Auftritt Thomas Schmid, damals | |
Generalsekretär im Finanzministerium. Er alarmiert seinen Freund Kurz, | |
damals Außenminister: „Wir müssen bei Banken aufpassen, die wollen das am | |
Montag weiter besprechen und entscheiden – HBK und HVK (Anm.: Herr | |
Bundeskanzler und Herr Vizekanzler) und Mahrer (Harald Mahrer, Chef der | |
Österreichischen Wirtschaftskammer) und Co! Ziel – 1,2 Mrd. für | |
Nachmittagsbetreuung mit Rechtsanspruch und Vereinbarungen Bund, Gemeinden | |
ohne Länder! Mega Sprengstoff!“ | |
Kurz antwortet umgehend: „Gar nicht gut!!! Wie kannst du das aufhalten?“ | |
Wenig später hat er einen Einfall: „Kann ich ein Bundesland aufhetzen?“ | |
Schmid: „Das sollten wir – wir schicken deinen Leuten heute auch noch die | |
Infos“. | |
Kurz: „Danke“ | |
Schmid: „Wenn Mitterlehner das macht – 1,2 Mrd. für Kern mit einem | |
Nachgeben bei allen Bildungspunkten, wäre das irre“ | |
Tatsächlich hat die ÖVP bildungspolitische Initiativen der SPÖ über | |
Jahrzehnte abgeblockt. Eine Konsenspolitik mit der SPÖ hätte das Bild von | |
der ÖVP als Betonwand gegen eine fortschrittliche Familienpolitik ins | |
Wanken gebracht und Mitterlehner wohl populärer gemacht. Den Verschwörern | |
kann das nicht recht sein. | |
## Szene 2: Der Medienmogul | |
Von den Wiener Redaktionsräumen der Tageszeitung Österreich kann man auf | |
den Naschmarkt hinunterblicken, wo das multikulturelle Wien blüht, und auf | |
die vergoldete Blätterkuppel der Sezession, der einst von Gustav Klimt | |
mitbegründeten Heimat der Jugendstil-Avantgarde, denen die Akademie der | |
Bildenden Künste zu starr und zu muffig war. Österreich ist ein buntes | |
Gratisblatt, „die einzige Gratiszeitung, die man auch kaufen kann“, wie es | |
der Kabarettist Florian Scheuba so schön doppeldeutig formuliert hat. Das | |
Blatt gehört den Gebrüdern Wolfgang (geb. 1954) und Helmuth (geb. 1956) | |
Fellner. Österreich ist ein Produkt des frühen 21. Jahrhunderts. Das | |
Erfolgsrezept: Günstige Berichterstattung gegen Inserate. Das | |
Recherchemagazin Dossier hat 2019 dokumentiert, wie die Fellners arbeiten: | |
„Egal ob im Politik- oder Wirtschaftsressort, bei Österreich gibt es zu | |
Inseraten gefällige Berichte dazu. Interne E-Mails zeigen, dass in Fellners | |
Medien ein Prinzip herrscht: Sie buchen, wir schreiben. Werbung wird als | |
Journalismus getarnt und verkauft, Menschen getäuscht und damit gegen das | |
Gesetz verstoßen. Das beginnt bei Österreich ganz oben. Wolfgang Fellner | |
veranlasst höchstpersönlich Serien redaktioneller Berichte über große | |
Werbekunden.“ | |
Was passiert, wenn man nicht mitspielt, weiß die ehemalige Außenministerin | |
[7][Karin Kneissl] zu berichten. Nominiert von der FPÖ, übernimmt sie 2017 | |
das Ministerium von Sebastian Kurz. Dort findet sie einen Werbeetat von 1,8 | |
Millionen Euro vor. Sie fragt sich, wofür das Außenministerium Inserate | |
schalten müsse und widmet 80 Prozent dieses Budgets um. | |
Als erste Warnungen ungehört bleiben, folgt die Rache der Fellners. Da | |
heißt es bald „Kneissl muss weg.“ Und als sie erkrankt, fragt Österreich: | |
„Ist sie schon tot?“ Die Ministerin fühlt sich an Mafiamethoden der 1930er | |
Jahre in Chicago erinnert. Kneissl in Dossier: „Also entweder du zahlst | |
oder wir fackeln den Laden ab – so ungefähr ist mir das vorgekommen. Und | |
ich habe gesagt, ich zahle keine Schutzgelder.“ Fellner versteht da keinen | |
Spaß, wie seine Kommentare verraten: „Karin Kneissl wirkt zu Beginn schräg, | |
wirr, teilweise ahnungslos im Politgeschäft. Ein Risiko.“ | |
## Zweiter Akt: Der Königsmord | |
Frühjahr 2017: Die Verschwörer sitzen nicht in einem Hinterzimmer, sie | |
verkehren meist über SMS und Whatsapp. Sie sind in strategischen Positionen | |
verankert und können ihre Sabotagearbeit gegen ÖVP-Chef Mitterlehner und | |
die Regierung unter Christian Kern von innen leisten. Dem ehrgeizigen | |
Tiroler Juristen Thomas Schmid, der gerne mit Sebastian Kurz wandern geht, | |
kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Als Generalsekretär im | |
Finanzministerium kann er Minister Hartwig Löger, einen Quereinsteiger ohne | |
Seilschaft in der ÖVP, manipulieren. Und er sitzt am Geldhahn. | |
Die Umfragewerte für ÖVP-Chef Mitterlehner sind trotz des Neustarts der | |
Regierung schlecht, die des SPÖ-Kanzlers steigen. Kurz’ Prätorianergarde | |
reicht das nicht. Sie wollen deutlicher zeigen, dass Mitterlehner keine | |
Zukunft hat, während ihr Idol der Mann der Stunde ist. So entsteht die | |
Idee, Umfragen zu frisieren. | |
Mit Sophie Karmasin sitzt die Leiterin eines renommierten Umfrageinstituts | |
in der Regierung. Auf Drängen von Kurz, so legen es die Chat-Verläufe nahe, | |
hat sie ihre Teilhaberin Sabine Beinschab angewiesen, entsprechende | |
Umfragen herzustellen und in die Medien zu bringen. Bei Österreich stößt | |
man auf offene Ohren, schließlich werden Inserate des Finanzministeriums | |
für mehr als eine Million Euro in Aussicht gestellt. | |
Bald kann Schmid an Kurz melden, dass die frisierte Umfrage fertig ist: „VP | |
18, SP 26 und FP 35 laut Beinschab“ | |
Kurz: „Danke Dir! Gute Umfrage, gute Umfrage“, antwortet der Außenminister | |
angesichts der für seine Partei desaströsen Werte. | |
Schmid: „Umfrage erscheint morgen. | |
Kurz: „Super danke“ | |
Jetzt muss das Elaborat nur noch an die Öffentlichkeit. Schmid wendet sich | |
an Helmuth Fellner, der für die Finanzen bei Österreich zuständig ist: | |
„Lieber Helmuth, wie besprochen kommen heute die Umfragedaten. Wir schicken | |
sie dir und deinem Bruder. LG Thomas.“ | |
Helmuth Fellner: „Danke für den Einsatz! Super! Sogar Titelseite! LG | |
Helmuth“ | |
Schmid: „Super cool! Freue mich auf unser Treffen!“ | |
Auch die anfangs zögerliche Sophie Karmasin zeigt sich in einem Chat an | |
Thomas Schmid zufrieden: „Das hat gut geklappt, hast schon gesehen?“ | |
Weitere bestellte Umfragen bescheinigen Sebastian Kurz, dass die ÖVP unter | |
seiner Führung zu neuen Höhen aufsteigen würde, unter Mitterlehner jedoch | |
zum Untergang verdammt wäre. | |
Mitterlehner riecht mittlerweile den Braten, zumal Außenminister Kurz nicht | |
nur im Ausland, sondern auch verdächtig oft in den Bundesländern unterwegs | |
ist. Er trifft sich dort vor allem mit parteinahen Wirtschaftstreibenden | |
und sammelt Spenden für seinen bevorstehenden Wahlkampf. | |
Thomas Schmid warnt Kurz: „Mitterlehner dreht durch. Droht dem | |
Finanzminister, ihn rauszuwerfen. Spioniert dir in Tirol nach und erkundigt | |
sich, welche Wirtschaftsrunden du dort machst – er hat dort nachgefragt. Es | |
wird immer unerträglicher. LG t“ | |
Bald darauf wirft Mitterlehner entnervt das Handtuch, Thomas Schmid freut | |
sich: „Mitterlehner ist dead like a dodo“. Sebastian Kurz lässt sich von | |
den traditionell starken Bünden und Landeshauptmännern mit Vollmachten | |
ausstatten, wie sie kein ÖVP-Chef zuvor gehabt hat. Triumphal wird er zum | |
Parteichef gewählt. Mitterlehner arbeitet seine Demütigung in einem Buch | |
auf. Thomas Schmid freut sich darüber nicht: „Mitterlehner ist ein | |
Linksdilettant und ein riesen Oasch!!! Ich hasse ihn Bussi Thomas.“ Kurz | |
beruhigt: „Danke Thomas super war dass Spindi (Ex-Vizekanzler Michael | |
Spindelegger) heute ausgerückt ist. Das stört den Arsch sicher am meisten | |
…“ | |
## Dritter Akt: Ibiza | |
Eine elegante Villa auf der Baleareninsel Ibiza im Juli 2017. FPÖ-Chef | |
Heinz-[8][Christian Strache] sitzt mit seinem Vertrauten Johann Gudenus, | |
Vizebürgermeister von Wien, dessen Frau Tajana, dem Detektiv Julian | |
Hessenthaler und einer Frau namens Alyona Makarov, die sich als | |
russisch-lettische Oligarchennichte ausgibt, auf einer Terrasse und | |
vernichten Red-Bull-Wodka. Strache will gerne mit Sebastian Kurz in eine | |
Regierung und braucht Geld für den Wahlkampf. Gudenus ist ein schlagender | |
Burschenschafter mit Couleurnamen Wotan, der vom Dokumentationsarchiv des | |
Österreichischen Widerstandes als Mann mit rechtsextremen Verbindungen | |
geführt wird. Er fungiert als Dolmetscher. Strache macht der vermeintlichen | |
Investorin Vorschläge, wie man Parteispenden am Rechnungshof | |
vorbeischleusen könnte, regt sie an, die auflagenstarke Kronen-Zeitung zu | |
kaufen, wo man dann „Zackzackzack“ unbotmäßige Journalisten feuern und | |
willfährige Schreiberlinge einstellen solle. Er wünscht sich eine | |
Medienszene „wie beim Orbán“ in Ungarn. | |
Was Strache und Gudenus nicht wissen: Die angebliche Oligarchin ist ein | |
Lockvogel und der feuchtfröhliche Abend wird heimlich aufgezeichnet. Knappe | |
zwei Jahre später – Strache ist inzwischen Vizekanzler in einer Regierung | |
mit Sebastian Kurz – kommt das Video an die Öffentlichkeit, Strache muss | |
zurücktreten, die Regierung platzt. | |
## Vierter Akt: Handy mit 300.000 Nachrichten | |
November 2019: Die Privatwohnung von Thomas Schmid, Chef der ÖBAG, | |
staatliche Holding für die Beteiligungen an großen Wirtschaftsunternehmen | |
wie Novomatic, Post und dem Mineralölkonzern OMV. Polizisten klopfen an die | |
Tür, legen einen Durchsuchungsbeschluss vor und durchwühlen seinen | |
Schreibtisch. Sein Handy und andere Datenträger werden eingezogen. Thomas | |
Schmid wird bleich und erleidet einen Schwächeanfall. Ihm schwant, was | |
kommen könnte. | |
Rückblick auf Ibiza: Strache hat als mögliche Sponsoren mehrere | |
Großindustrielle und Immobilienmagnaten genannt. Großzügig verhalte sich | |
auch der teilstaatliche Glücksspielkonzern Novomatic. „Novomatic zahlt | |
alle!“, hatte Strache schwadroniert. Während die meisten von Straches | |
vollmundigen Prahlereien strafrechtlich nicht relevant sein dürften, ruft | |
die Bemerkung über Novomatic die Wirtschafts- und | |
Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) auf den Plan. Sie beginnt zu | |
ermitteln, mit welchen Gegenleistungen ein Projekt für eine | |
Novomatic-freundliche Reform des Glücksspielgesetzes erkauft worden sein | |
könnte. Dabei stößt sie auf Thomas Schmid. Zwar hat er sein Handy kurz vor | |
Eintreffen der Polizei noch auf Werkseinstellungen zurückgesetzt und damit | |
sämtliche Fotos und Chatverläufe gelöscht, doch gelingt es den Ermittlern, | |
die verschwundenen Daten zurückzuholen. Das Justizministerium, inzwischen | |
von der Grünen Alma Zadić geleitet, lässt die Korruptionsermittler | |
arbeiten. Der starke Mann im Ministerium, Christian Pilnacek, der früher | |
Untersuchungen gegen die ÖVP nach Tunlichkeit gestoppt hat, ist suspendiert | |
und wartet auf einen Prozess. Von den annähernd 300.000 SMS und | |
Whatsapp-Nachrichten haben die Staatsanwälte zwar erst ein Drittel | |
aufgearbeitet, doch die Inhalte sind so brisant, dass Schmid als Chef der | |
ÖBAG zurücktreten muss. | |
Sein SMS-Verkehr mit Kurz und dessen Vertrauten legen nahe, dass er sich | |
die Ausschreibung für den Posten selbst zurechtgezimmert hat. Andere Chats | |
legen seinen Charakter offen. So klagt er nach Verlust seines | |
Diplomatenpasses im neuen Job, dass er nun „wie der Pöbel“ reisen müsse. | |
Auch die jüngsten Hausdurchsuchungen in der ÖVP-Zentrale und im | |
Bundeskanzleramt gehen auf Chatverläufe aus Schmids Handy zurück. | |
## Fünfter Akt: Der Stern beginnt zu sinken | |
7. Oktober 2021: Donnerstagabend vor der ÖVP-Zentrale in der Wiener | |
Lichtenfelsgasse. Demonstranten schwenken Fahnen und Transparente. Sie | |
skandieren: „Kurz muss weg!“ Am Vortag haben Ermittler die Büros der ÖVP, | |
des Bundeskanzleramts und mehrerer Kurz-Vertrauter durchsucht und | |
Datenträger beschlagnahmt. Kurz und zehn weitere Personen aus seinem Umfeld | |
werden als Beschuldigte geführt. Es geht um Untreue, Bestechung und | |
Anstiftung zur Bestechung. Im Falle einer Verurteilung drohen bis zu zehn | |
Jahre Haft. | |
Die Grünen setzen dem Koalitionspartner das Messer an. Sie wollen nur mit | |
einer „untadeligen Person“ weiterregieren. Kurz vergattert darauf Bünde, | |
Landeshauptleute, Minister und Abgeordnete, ihm schriftlich ihre | |
unverbrüchliche Treue zu versichern. Eine Regierung mit der ÖVP werde es | |
nur mit Kurz als Kanzler geben. Neue Chats werden publik, die den Charakter | |
der Kurz-Seilschaft offenlegen. Es wächst der Druck aus der eigenen Partei. | |
Nach 35 Jahren an der Regierung will man nicht die Macht verlieren. | |
9. Oktober, beste Sendezeit: Auftritt Kurz: Es ist alles anders. Er trete | |
zur Seite, bis sich die „falschen strafrechtlichen Vorwürfe“ in Luft | |
aufgelöst hätten. In der Parteizentrale feiert man den genialen Schachzug | |
und bereitet sich auf die triumphale Rückkehr des Helden bei baldigen | |
Neuwahlen vor. | |
## Vorhang. | |
Epilog: | |
Abgeordnete genießen, anders als der Bundeskanzler, Immunität vor | |
Strafverfolgung. Ob die ÖVP ihre Zusage wahrmacht, Kurz diese Immunität zu | |
entziehen, damit er vor Gericht seine Unschuld nachweisen kann, wird sich | |
erst in des Dramas zweitem Teil weisen. Dieser wird erst in den kommenden | |
Monaten geschrieben. | |
10 Oct 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Oesterreichs-Kanzler-Kurz-schmeisst-hin/!5807536 | |
[2] https://www.parlament.gv.at/WWER/PAD_05430/index.shtml | |
[3] /Oesterreichischer-Vizekanzler-tritt-zurueck/!5408634 | |
[4] /Neue-Koalition-in-Oesterreich/!5653270 | |
[5] /Ruecktritt-des-oesterreichischen-Kanzlers/!5299439 | |
[6] /Oesterreichs-Bundeskanzler-Christian-Kern/!5428784 | |
[7] /Oesterreichs-fruehere-Aussenministerin/!5681577 | |
[8] /Ibiza-Affaere-in-Oesterreich/!5796763 | |
## AUTOREN | |
Ralf Leonhard | |
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