# taz.de -- Rücktritte in der Demokratie: Eine Frage des Rückhalts | |
> Der Rücktritt gehört zur Demokratie wie die Wahl. Dabei folgt er keinen | |
> Gesetzmäßigkeiten. Und wer zurücktritt, ist damit noch nicht unbedingt | |
> weg. | |
Bild: Skandal- und äffärenerprobt wie kein zweiter deutscher Politiker: Franz… | |
Berlin taz | Der eine kündigt seinen Abgang an, aber nicht seinen | |
Rücktritt; der andere erklärt seinen Rücktritt, ohne abtreten zu wollen. | |
Und beides wirkt merkwürdig. Wie und warum muss jemand seinen Abschied aus | |
der Politik nehmen? | |
Das ist die grundsätzliche Frage, die die aktuellen Fälle des | |
[1][CDU-Vorsitzenden Armin Laschet] und seines [2][ÖVP-Pendants Sebastian | |
Kurz] bei all ihrer Unterschiedlichkeit aufwerfen. Eine einfache Antwort | |
darauf ist nicht möglich. Denn es gibt zwar viele Gründe für einen | |
Rücktritt, aber keine allgemein anerkannten verbindlichen Standards, wann | |
er auch vollzogen werden muss. | |
## Der Null-Rücktritt | |
Wenn die Staatsanwaltschaft wie im Fall Kurz Ermittlungen gegen einen | |
Politiker aufnimmt, bedeutet das zwar stets, dass der Betroffene politisch | |
angeschlagen ist. Aber zu einem Rücktritt führt das nicht unbedingt. So | |
trat Otto Graf Lambsdorff wegen seiner Verstrickung in die Flick-Affäre | |
nicht bereits als Bundeswirtschaftsminister zurück, als der Bundestag im | |
Dezember 1983 seine Immunität aufhob, sondern erst, als im Juni 1984 die | |
Anklage gegen ihn zugelassen wurde. | |
Im Februar 1987 wurde Lambsdorff wegen Steuerhinterziehung rechtskräftig | |
verurteilt. Für seine Partei offenkundig nur ein Kavaliersdelikt: Ein Jahr | |
später machte die FDP ihn zu ihrem neuen Vorsitzenden, 1993 wurde er | |
Ehrenvorsitzender. Immerhin: Minister wurde er nicht mehr. | |
Der spätere Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann blieb Generalsekretär | |
der CSU, obwohl er 1960 wegen „fahrlässigen Falscheides“ in der Münchner | |
Spielbankaffäre zu vier Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt wurde. | |
Sein Bundestagsmandat behielt „Old Schwurhand“ ebenfalls. | |
Ein Jahr später wurde er in einem zweiten Prozess zwar freigesprochen, | |
allerdings nur, weil ihm ein medizinisches Gutachten bescheinigte, zum | |
Zeitpunkt der Falschaussage habe eine Überfunktion seiner Schilddrüse zu | |
„Unterzuckerung des Blutes und verminderter geistiger Leistungsfähigkeit“ | |
geführt. Mit diesem „Jagdschein“ setzte Friedrich Zimmermann seine | |
politische Karriere unverdrossen fort. Sie führte ihn bis ins | |
Bundeskabinett. | |
## Der Pseudo-Rücktritt | |
Ob ein Politiker zurücktreten muss, hängt nicht allein von dem ab, was ihm | |
vorgeworfen wird. Das ist nur ein Faktor, und nicht unbedingt der | |
maßgebliche. Letztlich entscheidend ist, ob der Betroffene über eine | |
ausreichende Rückendeckung in den eigenen Reihen verfügt – wozu auch ein | |
eventueller Koalitionspartner zählt. Reicht sie nicht, hat der Politiker | |
verloren, sein Abgang ist besiegelt – und zwar unabhängig davon, wie | |
gravierend die Angriffe sind. | |
Das erklärt, warum der unter Korruptionsverdacht stehende Kurz zwar als | |
österreichischer Bundeskanzler zurückgetreten ist, nicht aber als | |
ÖVP-Vorsitzender. Als Kanzler musste er abtreten, weil er den Rückhalt der | |
mitregierenden Grünen verloren hatte, für den ÖVP-Vorsitz reicht der seiner | |
eigenen Partei. Und die stützt ihn zumindest derzeit noch. | |
Mit dem Sturz von [3][Franz Josef Strauß] als Bundesverteidigungsminister | |
1962 gab es ein vergleichbares Szenario auch schon einmal in Deutschland. | |
Damals musste der kleine Koalitionspartner jedoch etwas brachialer deutlich | |
machen, was die Stunde geschlagen hatte. Der Anlass: Strauß war der | |
Initiator der Spiegel-Affäre, auf seine Intervention hin wurden wochenlang | |
die Redaktionsräume des Hamburger Nachrichtenmagazins von der Polizei | |
besetzt und musste Chefredakteur Rudolf Augstein wegen angeblichen | |
Landesverrats 103 Tage in Untersuchungshaft. | |
Über seine zentrale Rolle bei diesem ungeheuerlichen Angriff auf die | |
Pressefreiheit belog der CSU-Politiker schließlich auch noch den Bundestag. | |
Das führte zu einer Regierungskrise, denn die FDP forderte den Rücktritt | |
von Strauß, was dieser jedoch nicht einsah. So traten dann am 19. November | |
1962 alle vier FDP-Minister aus Protest zurück. Strauß musste kapitulieren. | |
Am 30. November 1962 erklärte er seinen Rücktritt als | |
Verteidigungsminister. CSU-Vorsitzender blieb der bullige Bajuware, vier | |
Jahre später wurde er sogar wieder Minister, diesmal für Finanzen. | |
Die politische Karriere von Franz Josef Strauß war durchzogen von heftigen | |
Skandalen, doch bis auf die Spiegel-Affäre blieben sie für ihn allesamt | |
folgenlos. Denn stets konnte sich das Vorbild Markus Söders ([4][„FJS ist | |
der größte Sohn der CSU“]) darauf verlassen, dass die CSU bedingungslos | |
hinter ihm stand – und die bayerischen Wähler ebenso. | |
Mit seiner einmaligen Nachkriegsmischung aus brutaler Hemdsärmeligkeit und | |
monarchistischem Repräsentationswahn gewann Strauß drei Landtagswahlen | |
hintereinander haushoch und regierte von 1978 bis zu seinem Tod 1988 in | |
Bayern mit einer satten absoluten Mehrheit. Nur sein Traum, Bundeskanzler | |
zu werden, erfüllte sich nicht. Seine Kanzlerkandidatur 1980 blieb | |
vergeblich. | |
## Der definitive Rücktritt | |
Skandale hin, Affären her: Das schlimmste Vergehen eines Politikers ist aus | |
der Sicht seiner eigenen Partei politische Erfolglosigkeit. Deswegen ist | |
das politische Schicksal von Sebastian Kurz noch nicht besiegelt, das von | |
Armin Laschet ist es aber definitiv. Souverän wäre gewesen, hätte der | |
glücklose Unionskanzlerkandidat unverzüglich seinen Rückzug verkündet. | |
Als Beispiel hätte er sich [5][Hannelore Kraft] nehmen können, seine | |
Vorgängerin als nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin. Noch am Abend | |
ihrer Niederlage bei der Landtagswahl erklärte sie 2017 ihren Rücktritt als | |
Landesvorsitzende und stellvertretende Bundesvorsitzende der SPD. | |
Bei [6][Andrea Nahles] dauerte es 2019 gerade mal eine Woche zwischen dem | |
Desaster für die SPD bei der Europawahl und ihrem Rücktritt vom Partei- und | |
Bundestagsfraktionsvorsitz. Die innerparteiliche Diskussion habe ihr | |
„gezeigt, dass der zur Ausübung meiner Ämter notwendige Rückhalt nicht mehr | |
da ist“, teilte sie mit. | |
Aber Loslassen fällt schwer. SPD-Kanzlerkandidat [7][Martin Schulz] sah | |
nach seiner Pleite bei der Bundestagswahl im September 2017 erst mal keinen | |
Grund zum Abtritt, obwohl er seiner Partei das schlechteste Ergebnis der | |
Nachkriegsgeschichte beschert hatte. Erst im Februar 2018 räumte Schulz | |
doch noch den SPD-Vorsitz. | |
## Der verzögerte Rücktritt | |
Im Gegensatz zur SPD hat die Union noch nicht allzu viele Bundestagswahlen | |
verloren. Einen Rücktritt ihrer jeweiligen Vorsitzenden hatte das noch | |
seltener zur Folge. So blieb [8][Kurt Georg Kiesinger], der als Erster 1969 | |
die Union in die Opposition führte, noch zwei Jahre CDU-Vorsitzender und | |
verzichtete dann einfach auf eine erneute Kandidatur. | |
Auch [9][Helmut Kohl] trat nach seiner Wahlschlappe 1998 ganz regulär ab, | |
indem er sich auf dem anschließenden ordentlichen CDU-Parteitag schlicht | |
nicht zur Wiederwahl stellte. Franz Josef Strauß und Edmund Stoiber | |
blieben sogar noch Jahre CSU-Vorsitzende – und Ministerpräsidenten in | |
Bayern. | |
Nur ein einziges Mal kam es bislang anders und ein CDU-Vorsitzender zog | |
nach einer verlorenen Wahl auch die persönlichen Konsequenzen. Für Rainer | |
Barzel geriet die Bundestagswahl 1972 zum Debakel, [10][der SPD gelang es | |
zum ersten Mal, die Union zu überflügeln]. Mit einer Verzögerung von einem | |
halben Jahr erklärte er im Mai 1973 seinen Rücktritt, insgesamt war er | |
gerade mal knapp zwei Jahre im Amt. | |
Ins Chaos stürzte Barzel die Partei damit nicht, sein Nachfolger stand | |
schon parat. Auf einem vorgezogenen Parteitag einen Monat später übernahm | |
[11][Helmut Kohl] den Posten. Sein Bundestagsmandat behielt Barzel. Er | |
wurde, nachdem Kohl Kanzler geworden war, 1983 zum Bundestagspräsidenten | |
gewählt. Schon 1984 musste Barzel auch von diesem Amt zurücktreten, diesmal | |
wegen seiner Verwicklungen in die Flick-Affäre. | |
Auch ohne formalen Rücktritt wird die Amtszeit von [12][Armin Laschet] als | |
CDU-Vorsitzender kürzer sein als einst die von Barzel. Die Suche nach einer | |
politischen Anschlussverwendung dürfte aber längst begonnen haben. | |
18 Oct 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Laschets-Ruecktritt-auf-Raten/!5807012 | |
[2] /Ruecktritt-von-Kanzler-Kurz/!5804258 | |
[3] /100-Geburtstag-von-Franz-Josef-Strauss/!5227711 | |
[4] https://www.spiegel.de/geschichte/markus-soeder-ueber-franz-josef-strauss-d… | |
[5] /SPD-nach-der-NRW-Wahl/!5408682 | |
[6] /Kommentar-Nahles-Ruecktritt/!5599778 | |
[7] /Nach-dem-Amtsverzicht-von-Martin-Schulz/!5481030 | |
[8] /Ausstellung-ueber-Beate-Klarsfeld/!5491290 | |
[9] /Schaeuble-und-illegale-CDU-Parteispenden/!5221874 | |
[10] /Vor-50-Jahren--Brandt-wird-Kanzler/!5631944 | |
[11] /Altkanzler-Helmut-Kohl-ist-gestorben/!5421741 | |
[12] /Deutschlandtag-der-Jungen-Union/!5808276 | |
## AUTOREN | |
Pascal Beucker | |
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